Rosa Luxemburg 18991107 Die kapitalistische Entwicklung und die Arbeitervereinigungen

Rosa Luxemburg: Die kapitalistische Entwicklung und die Arbeitervereinigungen

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 7., 8., 10, 15. und 17. November 1899. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 115-132]

Ein Buch, das jederzeit willkommen wäre, erscheint gerade jetzt in höchstem Maße zeitgemäß, als eine dringende Warnung vor der Zuchthausvorlage, ebenso an die Arbeiterschaft wie an die Machthaber; wir meinen: „Die Hamburger Gewerkschaften und deren Kämpfe von 1865 bis 1890" von Heinrich Bürger. Das schlichte Buch mit seiner Überfülle von Tatsachen, das unter peinlicher Vermeidung jeder verallgemeinernden Beleuchtung, in trockener, zum Teil sogar schwerfälliger Weise zusammengestellt ist, scheint auf den ersten Blick nichts weniger als zu einer agitatorischen Wirkung geeignet. Allein, wer sich Mühe nimmt, es aufmerksam von Anfang bis zu Ende durchzulesen, für wen Tatsachen und Zahlen eine Sprache des Lebens sprechen, der wird das einfach und ruhig geschriebene Buch kaum mit ruhigem Gemüt aus der Hand legen: ein erschütternder Schrei des Elends, der Ausbeutung und der Knechtschaft, ein durchdringender Ruf an die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer ersten Waffe im Kampfe um das Menschenrecht, – das ist diese Geschichte der Hamburger Gewerkschaftsbewegung.

I.

Die sogenannte Verelendungstheorie ist in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten heftig angegriffen worden. Bekannt sind die Theorien bürgerlicher Ökonomen, wie z. B. des Professors J. Wolf, wonach die kapitalistische Entwicklung, insbesondere die steigende Produktivität der Arbeit, die Tendenz habe, von selbst die Lage der Arbeiterklasse nach und nach zu heben, und so schließlich selbst die Wunden zu heilen, die sie der Gesellschaft in den Anfängen der Kapitalsherrschaft geschlagen. Aber auch in den Kreisen der Arbeiterschaft gibt sich vielfach die Meinung oder richtiger ein unklares Gefühl kund, dass mit der Entwicklung der Großindustrie die Lage der Arbeitenden sich schließlich auch von selbst allmählich hebe, dass wir es jetzt jedenfalls viel besser hätten als ehedem.

Wer die Tatsachen aus den letzten 25 bis 30 Jahren der Geschichte des deutschen Kapitalismus ins Auge fasst, muss diese Meinung als grundfalsch verwerfen. Eine ganze Reihe verschiedenartigster Momente in der kapitalistischen Entwicklung wirken dahin zusammen, die Lage der Arbeiterklasse immer tiefer und tiefer herabzudrücken.

Vor allem bildet die Klage über eine allgemeine Steigerung der Lebensmittel- und der Wohnungspreise in den letzten Jahrzehnten den Kehrreim in den Beschwerden, Aufrufen, Versammlungen der Arbeiter aller Branchen. Dass es sich hier nicht etwa um eigentümlich hamburgische Verhältnisse handelt, beweist der Umstand, dass gerade nach der Einführung der Reichswährung 1875 und nach dem Zollanschluss Hamburgs 1888 an das Reich, also nachdem die Hamburger Bevölkerung die Segnungen der reichsdeutschen Wirtschaftspolitik zu genießen begann, über eine plötzliche Steigerung der Preise geklagt wird. „Der Zollanschluss", heißt es in der Rede des Vertreters von Hamburg auf dem ersten Kongress der Werftarbeiter Deutschlands 1890, „hat auf die Arbeiterbevölkerung Hamburgs und Umgegend schwer eingewirkt. Die Lebenspreise sind dadurch um 25 bis 50 und teilweise um 100 Prozent und mehr gestiegen. Durch diese künstliche Verteuerung der notwendigen Lebensprodukte hat sich eine Mehrausgabe im Haushalt bemerkbar gemacht um den gleichen Prozentsatz, also um etwa 30 Prozent. Zu dieser Mehrausgabe stellte sich noch eine andere Mehrausgabe ein, und zwar diejenige der Wohnungsmieten. Wohnungen, welche vor dem Zollanschluss 180 bis 260 Mark gekostet haben, kosten jetzt 320 bis 450 Mark."

Also ganz abgesehen von dem steigenden Kulturniveau der Arbeitermasse, sind ihre Bedürfnisse, in Geld ausgedrückt, einfach durch die eingetretene allgemeine Teuerung gestiegen. Wie stellt sich demgegenüber die Bewegung der Löhne in der gleichen Zeitperiode dar? Hier haben sehr viele und verschiedenartige Faktoren auf die wirtschaftliche Lage der Arbeiter entscheidend eingewirkt.

In erster Linie ist es bekanntlich die Akkordarbeit, die erst Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre allmählich in ein Gewerbe nach dem andern dringt und sich allgemein verbreitet. Ihre unmittelbare Folge ist überall – die Herabdrückung der Löhne. Die Hamburger Maurer und Dachdecker, Former und Kaiarbeiter, Metall- und Schraubendreher, Werftarbeiter und Schiffszimmerleute – alle klagen seit Anfang der achtziger Jahre über die erschreckende Verbreitung der Akkordarbeit und die dadurch herbeigeführten Lohnreduktionen.

In zweiter Linie kommen hier die Einführung von Maschinen und überhaupt technische Umwälzungen in der Betriebsweise in Betracht, die die Arbeitskraft überflüssig machen und so die Widerstandsfähigkeit der Arbeiter lähmen. So wird zum Beispiel durch den Übergang vom Holzschiffsbau zum Eisenschiffsbau seit Ende der siebziger Jahre die Existenz der Schiffszimmerer untergraben und sie durch den modernen ungelernten Werftarbeiter verdrängt. „Mit den jetzt vorhandenen Schiffszimmerern", so wurde 1889 im Hamburger Werftarbeiter geschrieben, „ist die Liste geschlossen, ähnliche Schiffszimmerer können in Zukunft nicht mehr herangebildet werden, weil der Holzschiffsbau verschwunden –, sie sind beim Eisenschiffsbau, wo die Teilung der Arbeit maßgebend ist, ein kleiner Bruchteil von Arbeitern, die hinfüro nicht mehr in Betracht kommen." Unter verzweifelten, aber vergeblichen Kämpfen um seine spezialisierten Funktionen bei dem Schiffsbau geht das Gewerbe der Schiffszimmerer unrettbar zugrunde, und dies äußert sich vor allem – in dem Druck auf die Löhne der noch vorhandenen Schiffszimmerer.

Bei den sogenannten „schwarzen" Schauerleuten ist als Antwort auf die Lohnkämpfe Ende der achtziger Jahre die Kohlenjumpmaschine eingeführt, und damit wurden mehrfache Arbeiterentlassungen und Lohnreduktionen für beschäftigte Jumper eingeleitet.

Durch die Einführung der Ansetzarbeit bei der Innendekoration auf Bauten wurden die Gipser verdrängt und durch Stukkateure ersetzt.

Das Töpfergewerbe wurde zum Teil durch die Großindustrie und zum Teil durch die Anlage von Zentraldampfheizungen usw. untergraben. „Der Töpfer in Hamburg ist heute nur noch Gelegenheitsarbeiter."

Die Zimmerer werden mit der fortschreitenden Technik im Baugewerbe immer mehr von den Maurern verdrängt. Waren noch zu Anfang der siebziger Jahre die Zimmerer fast in gleicher Stärke wie die Maurer an den Bauten beschäftigt, so ist ihr gegenwärtiges Verhältnis gleich 1 zu 3, das heißt, auf drei Maurer kommt erst ein Zimmerer. Auf der anderen Seite wird ihre Arbeit direkt durch die Maschine ersetzt, so das Fußbodenhobeln, das Balken- und Sparrenschneiden, das gerade in der arbeitslosen Winterszeit eine Unterstützung für den Zimmerer bildete.

Wie in den genannten Gewerken, so kommt in den meisten anderen die technische Entwicklung in der Vereinfachung der Arbeit zum Ausdruck, die ihrerseits einen Druck auf die Löhne durch ungelernte Arbeiter erzeugt.

Im Bäckergewerbe hat die Lehrlingszüchterei in Hamburg zu unerhört niedrigen Löhnen (bei 105stündiger Arbeit in der Woche!) und dazu geführt, dass zum Beispiel 1886 250 Gesellen gleichzeitig arbeitslos waren.

In Beantwortung der Lohnforderungen der Brauer wurden an Stelle der gelernten massenhaft Hilfsarbeiter mit bedeutend geringeren Löhnen angestellt.

In derselben Weise, durch Anlernung von unqualifizierten Arbeitern, werden die Maler und Lackierer verdrängt und ihre Löhne reduziert.

Über den Lohndruck durch die Lehrlingszüchterei klagten gleichfalls schon Ende der achtziger Jahre die Schneider. Dasselbe in der Zigarrenfabrikation.

Eine andere Erscheinung der nämlichen Tendenz in der technischen Entwicklung der Produktion ist die Frauenarbeit. Nur ein krasses Beispiel davon: Als die Hamburger Korbmacher durch äußerstes Elend getrieben (6 bis 12 Mark Wochenlohn) 1886 bei einem der größten Unternehmer in den Lohnkampf traten, da wurde der Streik prompt erledigt – durch Besetzung aller Arbeitsplätze mit billiger arbeitenden Frauen!

Noch verhängnisvoller wirkt in vielen Gewerben in letzter Zeit eine neue Form der kapitalistischen Ausbeutung, – die Gefängnis- und Zuchthausarbeit. Das soeben erwähnte Korbmachergewerbe hat sie binnen weniger Jahre einfach auf den Aussterbeetat gesetzt. Die Zahl der in deutschen Gefängnissen mit Korbmacherei Beschäftigten betrug 1884-85 etwa 2000. Für die Zigarrenarbeiter wirken die Zuchthäuser mit ihrer Konkurrenz als gefährliche Lohndrücker.

Ein anderer Krebsschaden vieler Gewerbe und gleichfalls eine Erscheinung letzter Jahrzehnte ist das wohlbekannte Schwitzsystem, d. h. das Zwischenmeistertum. So hat sich im Schauergewerbe gegen Anfang der achtziger Jahre das Stauerwesen herausgebildet. Der Stauerbaas oder „Vize" war vorher bloß Tagesarbeiter wie der Schauermann, jetzt nimmt er alle Arbeit in Akkord und vergibt von sich aus die Arbeit. Daraus ergibt sich für die Zwischenmeister ein Jahreseinkommen von 10.000 bis 16.000 Mark und für die Schauerleute ein immer stärkerer Rückgang der Löhne. Dasselbe Übel hat sich bei den Mauersteinarbeitern eingestellt, wobei die Herren „Vizen" in Wirtschaften ihre Arbeiten vergeben und so die Arbeitsuchenden zum Besuch von einer ganzen Reihe von Wirtschaften zwingen. In ungeheurer Weise ist das Schwitzsystem bekanntlich im Schneidergewerbe, namentlich in der Konfektion, ins Kraut geschossen: die Sweaters, hier „Fettböcke" genannt, haben auch in Hamburg wie in anderen Großstädten die Arbeiterschaft in den Abgrund des Elends gestürzt. Es wurde z. B. nachgewiesen, dass ein „Fettbock" für das Arbeitsquantum einer Woche von vier Näherinnen 112,40 Mark erhalten hat, während er sie alle zusammen mit 40,20 Mark entlohnte.

Die Seeleute wurden in den achtziger Jahren durch das Aufkommen des Unwesens der Heuerbaase so in Not gebracht, dass sie 1886 speziell einen Seemannsverein gründeten zum Zwecke der Abschaffung der „Landhaie", wie die Sweaters in diesem Gewerbe genannt werden.

Endlich hat in Hamburg, gleich allen anderen Industriezentren, in vielen Gewerben die Hausarbeit die Existenz der Arbeiter untergraben, so bei den Tabakarbeitern, Schneidern usw.

Zu all den aufgezählten sind noch mit der Zeit die mannigfaltigsten kleinen Methoden hinzugetreten, deren Zahl Legion ist, und die alle darauf berechnet sind, dem Lohn des Arbeiters so oder anders beizukommen und die Ausbeutung zu potenzieren. Da ist in erster Linie das System der Strafabzüge, das in Hamburg besonders bei den Maschinisten zu einer Ungeheuerlichkeit ausgewachsen ist. Ferner die Lohnabzüge für gelieferte Werkzeuge und Materialien, die besonders bei den Schauerleuten, in der Konfektion u. a. in Anwendung gekommen sind und wobei die Arbeiter gezwungen werden, die Gegenstände mit einem Preisaufschlag von 15 bis 25 Prozent zu bezahlen. Eine andere Neuerung, die vielfach auf eine Lohnkürzung hinauslief, ist der Übergang vom Taglohn zum Stundenlohn, der z. B. für die Werftarbeiter in Hamburg erst im Jahre 1888 zur allgemeinen Regel geworden ist; bei den Saisonarbeitern bedeutete der Stundenlohn im Winter bei kurzem Arbeitstag tatsächlich einen Verlust im Arbeitseinkommen gegen die frühere Zeit. Dies die mannigfaltigen Tatsachen, die seit den siebziger Jahren, d. h. seit dem Aufkommen der Großindustrie in Deutschland, nach und nach dahin zusammengewirkt haben, die wirtschaftliche Lage des Arbeiters immer unerfreulicher zu gestalten, die Löhne herabzudrücken, die kapitalistischen Profite hinaufzuschrauben.

II.

Unter der Einwirkung so vieler und verschiedenartiger Ursachen gingen auch die Löhne seit dem Aufkommen der Großindustrie stark herunter. Da von bürgerlicher Seite diese Tatsache hartnäckig verneint wird, mögen sie einige Zahlen bestätigen.

So wird über die Lohnverhältnisse der Hamburger Maurer berichtet, dass, während 1842 für die Vermauerung von 1000 Steinen 9,60 Mark gezahlt wurde, 1873 es nur noch 6,60 Mark gab. Derselbe Satz ist noch Ende der neunziger Jahre üblich.

Die Arbeitseinkommen der Ewerführer waren seit 1874 so heruntergekommen, dass sie 1886, also noch vor der 1888 eingetretenen Teuerung sich genötigt sahen, für die Anerkennung des Lohntarifs von 1874, d. h. für 3,60 Mark Tagelohn (bei einer Arbeitszeit von 13½. Stunden ohne bestimmte Esspausen) einzutreten. 1888, nach der durch den Zollanschluss eingetretenen Preissteigerung, gelang es ihnen, den Tagelohn nur auf 4 Mark zu bringen, allein nach 1890 sehen wir sie um denselben Lohn abermals und resultatlos kämpfen. Bei den Schauerleuten sind die Löhne seit 1874 bis 1887 um 200 bis 300 Mark jährlich gesunken! Das anhaltende Sinken der Löhne zeigen insbesondere die Reduktionen bei den Kohlenjumpern: 1872 erhielten sie pro Keel (über 21,5 Tausend Kilogramm Kohlen) 21,60 Mark, ein Jahr darauf 18,90 Mark, im Jahre 1874 bloß 18 Mark, im Jahre 1875-76 17 Mark, endlich 1877 nur noch 15,30 Mark, welcher Lohn die folgenden zehn Jahre angehalten hat. Einst wurden für das Trimmen der Kohlen 6 Mark bezahlt, Ende der achtziger Jahre nur noch drei Mark. 1889 gelang es den Schauerleuten, eine Erhöhung auf 4,20 Mark Tagelohn durchzusetzen, aber kurz darauf folgten wieder Lohnreduktionen.

Bei den Korbmachern sanken die Löhne seit 1873 bis 1885 von 22 Mark pro Woche auf 12 Mark! Mitte der achtziger Jahre setzten die Korbmacher durch viele Kämpfe und große Opfer eine Lohnerhöhung auf 4 Mark täglich durch, aber gleich darauf traten neue Lohnreduktionen ein. Mitte und Ende der neunziger Jahre sehen wir die Korbmacher immer noch ebenso verzweifelt gegen Lohnkürzungen kämpfen.

Bei den Tischlern sind die Löhne von 1884 bis 1886 fast auf die Hälfte gesunken. Mitte der achtziger Jahre betrugen sie im Durchschnitt nur noch etwa 11 bis 15 Mark pro Woche. Nach der mit dem Jahre 1888 eingetretenen Teuerung brechen Lohnkämpfe aus, aber nach jedem Sieg treten die erneuerten Lohnreduktionen wieder ein.

Die Löhne der Mauersteinarbeiter betrugen in den siebziger Jahren 30 bis 50 Pfennig (je nach Größe der Steine) pro Mille, anfangs der achtziger Jahre tritt eine Reduktion um je 5 Pfennig pro Mille ein, die bis Ende der achtziger Jahre angehalten hat. Durch wiederholte und hartnäckige Kämpfe ist es den Mauersteinarbeitern gelungen, im Jahre 1899 den Lohntarif aus den siebziger Jahren (30 bis 50 Pfennig) wieder zur Geltung zu bringen!

Bei den Klempnern für Petroleumöfen betrug das Wocheneinkommen in den siebziger Jahren 27 bis 30 Mark, im Jahre 1887 22 bis 24 Mark; für Gas- und Wasserarbeit in den siebziger Jahren 24 Mark, im Jahre 1887 21 Mark; im Durchschnitt schwankten die Wochenlöhne Ende der achtziger Jahre zwischen 12 und 27 Mark. Durch große Kämpfe wurden sie im Jahre 1890 auf 20,40 bis 33 Mark, d. h. ungefähr wieder auf die Höhe, auf der sie in den siebziger Jahren standen, hinaufgebracht.

Die Schneider haben sich seit den siebziger Jahren äußerst starke Lohnreduktionen gefallen lassen müssen. Während sie z. B. für die Anfertigung eines Rockes ehedem 12 bis 15 Mark und für ein Beinkleid 3 bis 3,60 Mark erhielten, brachte die Konfektion den Lohn schon um die Mitte der achtziger Jahre auf 2,40 Mark respektive 0,60 Mark herab.

Die Löhne der Schuhmacher sind seit den siebziger Jahren so gesunken, dass sie 1886 um vier bis fünf Prozent unter dem Tarif von 1874 standen und 1890 bei zwölf- bis vierzehnstündiger Arbeitszeit nur 12 bis 17 Mark pro Woche betrugen! Bei den Tabakarbeitern sind die Löhne seit den siebziger Jahren zwar nominell etwas gestiegen, aber nicht entfernt im Verhältnis zu dem riesenhaften Anschwellen der Wohnungs- und Lebensmittelpreise.

Wie bei den eben genannten zehn Gewerken, ist es auch im Durchschnitt in allen anderen der Fall seit der Entwicklung der Großindustrie in Deutschland, das heißt seit Beginn der siebziger Jahre, sind die Löhne bis Ende der achtziger Jahre stark und absolut, nicht nur relativ gesunken. Seit Ende der achtziger Jahre sind sie zum Teil wieder gehoben worden, aber nicht entfernt im Verhältnis zu der allgemeinen Steigerung der Lebensmittelpreise, zum Teil sind sie sogar auf demselben niedrigen Niveau geblieben.

Dass die Lohnreduktionen, im umgekehrten Verhältnis zu den allgemeinen Preissteigerungen, gerade eine Erscheinung der letzten Zeit, der vorgeschritteneren Periode des deutschen Kapitalismus und nicht etwa nur der Anfänge sind, beweist auch die folgende Zusammenstellung. Von den 56 bekannten Arbeitskonflikten, die sich in Hamburg in der vierzehnjährigen Periode 1865 bis 1878 abgespielt haben, wurden durch Lohnkürzungen drei, das heißt etwa ein Achtzehntel aller Fälle hervorgerufen. Hingegen waren in der sechsjährigen Periode 1885 bis 1890 von der Gesamtzahl von 112 (mitgerechnet die 22 durch die Maifeier 1890 hervorgerufenen) Konflikten nicht weniger als 24, das heißt mehr als ein Fünftel, und rechnet man die Maikonflikte des Jahres 1890 ab, mehr als ein Viertel aller Arbeitseinstellungen durch Lohnreduktionen hervorgerufen!

Allein mit steigenden Lebensmittelpreisen und sinkenden Löhnen ist der wirtschaftliche Niedergang der Arbeiterschaft unter der Einwirkung der großindustriellen Entwicklung noch keineswegs erschöpft. Es tritt noch vor allem auch eine Verlängerung der Arbeitszeit hinzu. Diese wird auf dreierlei Wegen durchgeführt: durch die Sonntagsarbeit, durch Überstunden und durch eine Durchbrechung, manchmal gänzliche Missachtung der Ruhepausen. Der Kampfruf gegen die Sonntagsarbeit und um die Einhaltung von Ruhepausen wird um die Mitte und gegen Ende der achtziger Jahre einstimmig von der gesamten Arbeiterschaft erhoben.

Vielfach wurde die Sonntagsarbeit gerade in dem Maße zur Norm gemacht, so zum Beispiel bei den Schuhmachern, dass die Arbeiterforderungen nicht weiter gingen, als die Sonntagsarbeit bloß auf dringende Fälle zu beschränken. Die Ewerführerbaase lehnten 1888 den Anspruch der Ewerführer auf eine Vergütung für das Durcharbeiten während der Mittagspause mit der folgenden Begründung ab: „Die Forderung sei prinzipiell nie zu bewilligen, weil darin das Anerkenntnis des Rechts auf eine bestimmte Mittagspause liegen würde." Die Überstunden wurden in den achtziger Jahren zur Regel fast ausnahmslos in allen Gewerben. Eine zwölf-, dreizehn-, vierzehn-, ja fünfzehnstündige Arbeitszeit gehörte zu den Alltagserscheinungen.

Noch ein Umstand, gleichfalls ein Ergebnis der durch die großkapitalistische Entwicklung hervorgerufenen sozialen Verschiebungen, trägt in der letzten Zeit dazu bei, wenn nicht die eigentliche Arbeitszeit zu verlängern, so doch die Ruhezeit des Arbeiters zu verkürzen. Es ist dies das in allen großen Industriezentren bemerkbare Verdrängen der Arbeiterwohnungen in die Vorstädte, wodurch der Weg zur und von der Arbeit manchmal stundenlang dauert.

Endlich zur Lohnkürzung und Verlängerung der Arbeitszeit kommt auch noch die fortschreitende Intensifikation der Arbeit hinzu. In manchen Gewerbezweigen wird dies einfach durch Vergrößerung der geleisteten Arbeitsmasse erzielt. So wurden zum Beispiel bei den Ewerführern die zu befördernden Schuten in den achtziger Jahren von 500 bis 600 Zentnern, die sie vorher fassten, auf 800, 1000 und 2000 Zentner Waren vergrößert, und während früher zwei Mann die Beförderung zu besorgen hatten, musste es nunmehr ein einziger.

Desgleichen werden zum Beispiel bei den Maurern, die pro 1000 vermauerte Steine entlohnt werden, immer größere und größere Steine eingeführt. – Eine allgemeine Intensifikation der Tätigkeit in allen Arbeitszweigen ergibt sich von selbst durch die allgemeine Verbreitung der Akkordarbeit. Dasselbe Ergebnis wird bei der Maschinenarbeit durch die fortwährende Steigerung der Leistungsfähigkeit und des Arbeitstempos der Maschine herbeigeführt. Ein frappantes Beispiel hierfür bietet die Lage der Schiffsheizer. Die Schiffsbaumeister richten den ganzen Scharfsinn darauf, um die Hitze in den Dampfkesseln zu erzeugen und festzuhalten, die Anspannung der Maschinen eines Ozeandampfers wird immer mehr gesteigert. Damit werden aber auch an die Leistungsfähigkeit der Heizer immer größere Ansprüche gestellt. „Vor einigen Jahren", schreibt ein Fachblatt 1890, „war es etwas noch ganz Ungewöhnliches, wenn ein Stocker (Heizer) ohnmächtig aus dem Raume auf das Deck gebracht wurde. Jetzt ist es ein alltägliches Ereignis!"

So stellt sich, wenn man alle Momente zusammenfasst, die Lage der Arbeiterklasse in Deutschland seit Anfang der siebziger bis gegen Ende der achtziger, teilweise in die neunziger Jahre hinein, als ein stetes Herabsinken in den Abgrund des wirtschaftlichen und, im logischen Zusammenhang damit, auch der geistigen Verwahrlosung dar. Während mit dem Einzug des Großkapitalismus die kapitalistischen Profite mit schwindelnder Rapidität wachsen, sinken ebenso rapid die Einkommen der Arbeiter. Die Zelt, während der sie an die Saugpumpe des Kapitalismus gefesselt sind, wird verlängert, ihre Muße gekürzt, ihre Leistung immer schwerer gemacht, ihr Lebensblut und Hirn immer mehr ausgesogen, sie selbst erbarmungslos in eine tierische Existenz hinab gedrückt.

Aber hier setzt die gewerkschaftliche Bewegung ein. Auf dem Abhang des geistigen und materiellen Verfalls wird der Arbeiter durch die Koalition aufgehalten und mühsam, unter größten Kraftanstrengungen und unzähligen Opfern, unter fortwährenden Hinabrutschungen wieder zum mehr menschenwürdigen Dasein emporgehoben. Zusammen mit der äußersten Verwahrlosung unter der Arbeiterschaft erzeugt die Großindustrie in den achtziger Jahren in Hamburg ein allgemeines Erwachen zur Koalitionsbewegung. Sie erzeugt „ein Wachstum der Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse".1

III.

Das bewusste Eingreifen der Arbeiterkoalitionen in die mit erschreckender Schnelligkeit wachsende Misere des industriellen Proletariats führt allmählich Ende der achtziger und in den neunziger Jahren eine förmliche Wiedergeburt der Arbeiterschaft herbei.

Als erstes Werk schafft der Gewerkschaftskampf die veralteten Übel, die morschen Überreste der Zunftzeit ab. Hierher gehört vor allem das Kost- und Logiswesen, das aus einem in der patriarchalischen Zeit des Handwerks ganz natürlichen und nützlichen Verhältnis mit dem Einzug der Großindustrie zu einem Mittel der rücksichtslosesten kapitalistischen Ausbeutung und geistigen Degradation des Arbeiters geworden war. Mit diesem Überbleibsel der „guten alten Zeit" hat die Gewerkschaftsbewegung in Hamburg bereits zu Beginn der achtziger Jahre aufgeräumt. In dem ersten Abschnitte des Kampfes 1865 bis 1878 wurde die Forderung der Abschaffung von Kost und Logis beim Meister bei den Arbeitskonflikten in Verbindung mit anderen Forderungen in mehr als zwanzig Gewerben gestellt und mit der Zeit auch durchgesetzt.

Ferner haben die Gewerkschaften der maßlosen Ausdehnung der Arbeitszeit Schranken gesetzt. In der Periode 1865 bis 1878 wurde in Hamburg in 23 Konflikten die Forderung der Verkürzung der Arbeitszeit gestellt. In neun Fällen mit völligem, in vier Fällen mit teilweisem Erfolg. Die ärgsten Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung, der dreizehn- und vierzehnstündige Arbeitstag, sind nach und nach ganz abgeschafft, durchgängig ist die zehnstündige Arbeitszeit erkämpft worden. In einigen Gewerbezweigen ist bereits der Arbeitstag von neuneinhalb und neun Stunden erkämpft. Die Sonntagsarbeit ist so gut wie beseitigt, feste Ruhepausen sind durchgesetzt worden.

Was die Löhne betrifft, so besteht die Hauptaktion der Gewerkschaften darin, die Herabdrückung der Löhne abzuwehren, die einmal durch die allgemeine Steigerung der Lebensmittelpreise, dann aber auch unmittelbar durch Lohnverkürzungen herbeigeführt wurde. Dies ist auch in einigen Gewerbezweigen ganz, in einigen zum Teil gelungen. So konnte zum Beispiel bei den Maurern ermittelt werden, dass ihr tatsächliches Durchschnittsjahreseinkommen bei Berechnung der Arbeitslosigkeit im Jahre 1870 660 Mark, 1885 1050 Mark und 1890 1160 Mark betrug. Freilich wurde anderseits berechnet, dass die notwendigen Ausgaben für den Haushalt einer Arbeiterfamilie von vier Köpfen im Jahre 1884 1490 Mark betrugen. Nach der mit dem Zollanschluss 1888 eingetretenen allgemeinen Teuerung waren aber die Ausgaben der Arbeiter in Hamburg bekanntlich im Durchschnitt um 30 Prozent gestiegen, das heißt, beliefen sich demnach gegen Anfang der neunziger Jahre für eine Arbeiterfamilie von vier Personen auf etwa 1938 Mark. Daraus folgt, dass auch die Löhne der Maurer weder in den achtziger, noch in den neunziger Jahren auf die den gestiegenen Lebensmittelpreisen entsprechende Höhe hinaufgebracht werden konnten, dass sie vielmehr im Jahre 1885 um 30 Prozent, im Jahre 1890 um 40 Prozent unter der für den Haushalt einer Arbeiterfamilie notwendigen Geldsumme standen. Aber auch hier, in bezug auf die Löhne, wurde das ärgste Elend, der Lohnsatz von 9 und 12 Mark, für die Woche beseitigt und im ganzen ist wenigstens die Tendenz des Sinkens der Lebenshaltung stark aufgehalten und verlangsamt worden.

Der gewerkschaftliche Kampf hat aber zugleich mit der materiellen Hebung auch eine geistige Wiedergeburt der Arbeiterschaft herbeigeführt. Schon in seinen Anfängen weckt er das Ehrgefühl der Ausgebeuteten und lässt sie für die vom Protzenkapital mit Füßen getretene Menschenwürde des Arbeiters kämpfen. Bereits in den siebziger Jahren, gleich bei den ersten Regungen der Gewerkschaften, wird unter anderen Forderungen die der Anrede mit „Sie" gestellt. So bei den Bäckern, Schlächtern und anderen.– Ferner sieht die Gewerkschaft auf moralische Unbescholtenheit ihrer Mitglieder, sogar auf deren Berufstüchtigkeit. In den Statuten des Fachvereins der Zigarrensortierer zum Beispiel heißt es, dass, wer dreimal hintereinander wegen nachlässiger, schlechter Arbeit oder unmoralischen Betragens entlassen worden sei, sein Mitgliedsrecht verliere.

Die eigentliche geistige Regeneration der Arbeiterschaft wird aber vor allem dadurch von den Koalitionen verwirklicht, dass sie die zersplitterten, in der Trübsal des Einzelloses verkümmernden, vielfach einander bekämpfenden Arbeiter vereinigt und zum Klassenbewusstsein emporhebt.

Die erste Tat der Gewerkschaft bei ihrer Gründung ist vielfach die Aufstellung einer statistischen Erhebung über die Arbeitsverhältnisse in dem betreffenden Gewerbe. So verfuhr der Fachverein der Schuhmacher in Hamburg im Jahre 1886, der Zigarrensortierer im Jahre 1881, der Maurer im Jahre 1884 bis 1885, der Klempner im Jahre 1890 usw. Dadurch bekommen die einzelnen Arbeiter erst einen Überblick über die Lage ihrer Berufsgenossen und die Missstände kommen auf diese Weise zum Bewusstsein der Gesamtheit.

Ferner wirkt die Gewerkschaft in mannigfacher Weise, um die Mannigfaltigkeit in der individuellen Lage der Arbeiter zu beseitigen und ein allgemeines Niveau der Lebenslage herzustellen, also das Unterscheidende, Trennende in der Lage der Arbeiter abzustellen und das Gemeinsame, Vereinigende herzustellen. Dahin wirkt die allgemeine Tarifierung der Löhne in verschiedenen Gewerben, die die großen Abstände zwischen bestsituierten und meistausgebeuteten Arbeitern beseitigt und sie im gemeinsamen Interesse solidarisiert.

Dasselbe wird noch auf einem anderen Wege durch die Gewerkschaft erreicht, indem sie nämlich die Arbeiter verschiedener Fachberufe in einem Interessenverband zusammenbindet, und so die durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung künstlich geschaffene Kluft zwischen einzelnen Arbeitergruppen überbrückt. Hierfür ist die Entwicklung der Gewerkschaft der Schiffsbauer charakteristisch. Hier hat die Verdrängung des Holzschiffsbaus durch den Eisenschiffsbau und damit der zünftig gelernten Arbeit durch die moderne Arbeitsteilung zum Zusammenschluss aller auf der Werft Arbeitenden: der Schiffszimmerer, Tischler, Schmiede, Schlosser, Kupferschmiede, Dreher usw. in einer Gewerkschaft geführt.

Im gleichen Maße bereitet die Arbeiterkoalition auch durch die Beseitigung der letzten Reste der zünftlerischen Gegnerschaft zwischen einzelnen Berufen, zwischen dem gelernten und dem ungelernten Arbeiter den Boden zur Vereinigung aller Proletarier im gemeinsamen Klassenbewusstsein.

In dem erwähnten Schiffsbauerverbande wurde der zünftige Schiffszimmerer, der sich lange Zeit als etwas Besseres denn die nichtzünftigen Arbeiter betrachtete, mit diesem zusammen organisiert. Die Maßschneider lernten in der Gewerkschaft ihre Überhebung über die Konfektionsarbeiter ablegen und ihnen die Hand zum gemeinsamen Arbeiterkampfe reichen. Die Seiler und Reepschläger, die sich früher arg befehdeten, wenn einer dem anderen „ins Handwerk pfuschte", sind jetzt in einem Verbande organisiert.

Der aus verschiedenen Handwerkern bestehende Werftarbeiterverband verschmolz sich im Jahre 1892 mit dem aus einfachen Tagelöhnern, wie den Baggerern, Ewerführern, Kaiarbeitern usw., bestehenden Hafenarbeiterverbande.

Endlich führt die Gewerkschaft mit unüberwindlicher Logik von Fachvereinen zu örtlichen Fachverbänden, von diesen zum nationalen und schließlich zum internationalen Zusammenschluss der Arbeiter.

So wirkt die Gewerkschaft nach allen Seiten hin nivellierend und vereinigend, sie hebt überall das Gemeinsame in den materiellen Interessen der Arbeiter hervor, drängt das Trennende, die von der bürgerlichen Gesellschaft zwischen die Arbeiter und Arbeitergruppen geschobenen Keile zurück und stellt so die materielle Grundlage der Klassensolidarität, des politischen Klassenbewusstseins und des sozialistischen Klassenkampfes her. Wäre nicht in den achtziger Jahren eine kräftige Gewerkschaftsbewegung in Deutschland ins Leben getreten, Deutschland hätte nicht im Februar 1890 anderthalb Millionen sozialdemokratischer Stimmen gezählt.

IV.

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung aus den letzten fünfzehn Jahren beweist, dass die Arbeitervereinigungen eine materielle und geistige Wiedergeburt der Arbeiterschaft herbeiführen. Dieselbe Geschichte bringt aber auch den Beweis dafür, dass nur die Arbeitervereinigungen, nur deren Kämpfe imstande sind, die Arbeiterklasse in ihrem wirtschaftlichen und geistigen Verfall unter der Einwirkung des Kapitalismus aufzuhalten und sie emporzuheben. Gerade diese Seite der Frage ist angesichts des bevorstehenden Attentats auf das Koalitionsrecht, gegenüber der Beweisführung der Urheber und Anhänger der Zuchthausvorlage von größter Wichtigkeit.

Schon der Umstand, dass die Koalitionsbewegung erst dann beginnt, dass die Arbeiter überhaupt erst dann zur Abwehr greifen, wenn sie bereits vom Kapital mit Skorpionen gezüchtigt, wenn sie direkt in den Abgrund des Elends hinab gedrückt worden sind, dürfte die Unentbehrlichkeit und den rein defensiven Charakter des Gewerkschaftskampfes, seinen Charakter als soziale Notwehr der Arbeiterklasse genügend beweisen.

Aber denselben Beweis erbringt jeder bisherige Arbeiterkampf im Einzelnen. Die Geschichte der Hamburger Gewerkschaften bietet kein einziges Beispiel eines Lohnkampfes, dem nicht redlichste Bemühungen der Arbeiter voraufgegangen wären, den Konflikt auf friedlichem Wege durch Verhandlungen beizulegen. Sie, die Ausständigen, sind allezeit die Geduldigen, die nicht eher an die Abwehr denken, als bis der Becher über und übervoll ist, sie sind allezeit die Arbeitswilligen, die nicht eher das Werkzeug aus der Hand legen, als bis jedes gute Wort, jeder bescheidene Appell an die Gerechtigkeit, an die Einsicht der Brotherren sich als eine Stimme in der Wüste erwiesen hat. Und es ist allezeit der Geldtrotz, der durch brüske Abweisung der Verhandlungen, durch einen „patriarchalischen" Fußtritt die Arbeiterschaft mit Gewalt zum Kampfe treibt, ihnen den Ausstand als einziges Verhandlungsmittel mit dem deutschen Unternehmer aufzwingt.

Als die in himmelschreiender Verwahrlosung verkümmernden Bäckergesellen 1886 ihre bescheidenen, wahrlich zu bescheidenen Forderungen (zwölfstündige Arbeitszeit, Sonntagsarbeit acht Stunden, jedem Gesellen sein eigenes Bett, einen bescheidenen Lohnaufschlag, bürgerliches Essen!) stellten, da brach unter den Meistern ein Sturm der Entrüstung los. „Man sollte", erklärten sie, anstatt zuzulegen, noch abziehen. Eine unerhörte Frechheit liege in allen Forderungen. Auf jeden Fall müsse den Gesellen gezeigt werden, dass sich die Meister keine Vorschriften machen lassen, sondern dass sie vorläufig noch zu befehlen haben."

Die Gärtner ließen Ende 1889 einen neuen Lohntarif und andere Forderungen für das Frühjahr 1890 den Unternehmern mit folgender Erklärung zugehen: „Um Sie nicht durch eine plötzlich gestellte Forderung zu benachteiligen, sondern Ihnen soviel wie möglich entgegenzukommen, erlaubt sich die in der öffentlichen Versammlung gewählte Kommission, Ihnen dies (die künftigen Forderungen) heute schon bekannt zu geben, um Ihnen Zeit und Gelegenheit zu verschaffen, Ihre Geschäftsverbindungen usw. den zu stellenden Forderungen entsprechend gestalten zu können."

Mit diesem bis zur Gutmütigkeit rücksichtsvollen Angehen wurden die Gehilfen rücksichtslos abgewiesen, und als sie im März 1890 ihre Forderungen tatsächlich stellten, da bekamen sie von den Prinzipalen von Unflätigkeiten und Rohheiten strotzende Antworten; einige redeten vom „Beim-Reichsgericht-Verklagen", andere drohten mit der Peitsche usw.!

Im Jahre 1887 richteten die Kaiarbeiter (staatliche Arbeiter) an ihre Vorgesetzten eine Petition, die mit den Worten beginnt: „Wir, die gehorsamst (!) unterzeichneten Kaiarbeiter, erlauben uns ganz gehorsamst (!), der Hochwohllöblichen Deputation für Handel und Schifffahrt nachstehende Petition zur gefälligen weiteren Veranlassung gehorsamst (!) zu unterbreiten."

Diese dreimal „gehorsamste" Petition der vom Staate angestellten Parias wurde in der Weise beantwortet, dass der Überbringer derselben auf der Stelle entlassen wurde mit der Bemerkung, „er sei ein Aufwiegler".

Im Jahre 1888 richteten die Gerber ein höfliches Schreiben an die Unternehmer mit der Bitte um Einführung der zehnstündigen Arbeitszeit. Die Unternehmer antworteten mit Verlängerung der Arbeitszeit auf elf Stunden, und zwar dort, wo bisher 10 und ½ Stunden gearbeitet wurde.

Im Jahre 1886 erklären die Innungsmeister auf die Forderungen der Schmiede, sie wären wohl geneigt, zu bewilligen, hielten es aber unter ihrer Würde, mit den Gesellen zu verhandeln"!

Solcher Beispiele bietet jede Seite der Geschichte der Gewerkschaften die Hülle und Fülle. Jeder Streik ist ein den Arbeitern aufgezwungener, in allen Fällen sind die Unternehmer diejenigen, die zur Machtprobe treiben und die Arbeitseinstellung zum einzigen Mittel des Arbeiters machen, sein Los zu verbessern. Es wäre indes ganz falsch, wollte man annehmen, dass dieses Verhalten des Unternehmertums nur eine Erscheinung der Anfangsstadien der Gewerkschaftsbewegung ist, dass es mit der Zeit einer fortschrittlicheren, klügeren Auffassung den Platz räumt, die das weitere Vorgehen der Arbeiterkoalitionen überflüssig macht. Ganz im Gegenteil; bis auf den heutigen Tag sind die deutschen Unternehmer dieselben klassischen Vertreter der trotzigen Brutalität geblieben, auf die nur eins wirkt: der Faustschlag der Arbeiterkoalition. Dafür bieten nach einem jeden Kampf die regelmäßigen Zurückziehungen der soeben erzwungenen Konzessionen genügenden Beleg.

Um eine und dieselbe Forderung müssen die deutschen Arbeiter nicht einmal, nein viermal, zehnmal wieder und wieder in den Streik treten. Nur zwei aus der Fülle aufs Geratewohl herausgegriffene Beispiele mögen Zeugnis ablegen. Im Jahre 1872 erkämpften sich die Tischler in Hamburg in zehnwöchigem Streik den 9½stündigen Arbeitstag. In den achtziger Jahren wird ihnen diese Errungenschaft wieder entrissen. 1887 (März bis Mai) kämpfen sie zum zweiten Mal um dieselbe Forderung, wieder mit Erfolg. Juli bis August desselben Jahres sehen wir sie zum drittenmal die alten, bereits wieder zurückgezogenen Forderungen durchsetzen, endlich 1888 suchen sie zum vierten Mal die ihnen mittlerweile entrissenen Konzessionen zu behaupten! …

Noch auffallender ist das Bild der Lohnkämpfe bei den Seeleuten Hamburgs. Im Jahre 1888 erringen sie durch einen Streik eine Lohnaufbesserung auf 65 Mark für die Heizer, 57 Mark für die Trimmer. Im März 1889 setzen sie eine abermalige Lohnerhöhung um 10 Mark, im August desselben Jahres eine dritte wieder um 10 Mark, durch, und erreichen auf diese Weise einen Lohn von 85 Mark für die Heizer und 75 Mark für die Trimmer. Nun folgt aber auf dem Fuß die Rückwärtsbewegung. Im Jahre 1890 wird eine Reduktion von 10 Mark durch einen Streik abgewehrt. Im Jahre 1891 wird wieder ein Lohnabzug versucht und diesmal trotz erneuten Streiks durchgesetzt. Seitdem fallen die Löhne rapid und liehen seit Ende 1892 bis 1898 tiefer als zu Beginn des fünfjährigen Kampfes!

Der Kampf mit dem deutschen Unternehmertum ist also ein ewiges Aufrollen des Sisyphussteines, der immer wieder mit beharrlicher Brutalität hinab geschleudert wird, ein ewiger Guerillakrieg, in dem die kämpfenden Arbeiter nicht für einen Augenblick Helm und Panzer ablegen oder das Auge zur Rast schließen dürfen, wo es stets Fuß im Bügel und Waffe in der Hand halten gilt, nicht um neue Eroberungen zu machen, sondern bloß um die soeben gemachten zu behaupten.

Und es sind endlich wieder die Unternehmer, die den gewerkschaftlichen Kampf je weiter je mehr zur unaufhörlichen Machtprobe gestalten. Während sich die Arbeiterschaft in den achtziger Jahren in den Fachorganisationen zusammenschließt, vereinigen sich die Unternehmer, um den Krieg mit schärferen Mitteln führen zu können, in Unternehmerkoalitionen, die dann sofort mit Aussperrung, schwarzen Listen, Organisationen für Streikbrecher, gefügigen Arbeitsnachweisen vorgehen. Schon der gewaltige und scharfe Charakter der Kämpfe des Jahres 1890 ist hauptsächlich ein Ergebnis der von den Unternehmerverbänden geführten Gewaltpolitik. Die Arbeiter werden dadurch immer mehr zu Kraftproben getrieben. Denn, wollen sie sich ihrer Haut erwehren, dann gilt es nunmehr mit verdoppelter Energie auf Unternehmerkoalition mit Arbeiterkoalition, auf Aussperrung mit Streik, auf schwarze Listen mit Boykott, auf Konventionalstrafen gegen nachgiebige Unternehmer mit einer Abwehraktion gegen Streikbrecher zu antworten.

V.

Wenn irgend etwas die bisherige Auffassung unserer Partei von dem Gang der kapitalistischen Entwicklung, wie sie in dem Programm dargelegt ist, glänzend bestätigt, so ist es die Geschichte der Hamburger Gewerkschaftsbewegung.

Die wirtschaftliche Geschichte der Hamburger Arbeiterschaft in den letzten dreißig Jahren genügt allein, um in krassester Weise die Grundgesetze der Kapitalsherrschaft in ihrer Einwirkung auf das Proletariat klarzulegen. Es ist die ihr innewohnende, naturwüchsige Tendenz der kapitalistischen Entwicklung, die materielle Lage der Arbeiterschaft immer tiefer und tiefer herabzudrücken. Und zwar geschieht dies in zweifacher Weise: einmal durch relative Verschlechterung der Lage des Arbeiters, im Vergleich einerseits zu der steigenden Produktivität seiner Arbeit, anderseits zu dem steigenden Kultur- und Lebensniveau der Gesellschaft. Zweitens aber äußert sich diese herabdrückende Tendenz in der direkten absoluten Verschlechterung der Lebenshaltung der Arbeiterschaft, in der Verringerung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Intensivierung der Arbeit, die wieder Vergrößerung der Sterblichkeit, der Kränklichkeit, physische und geistige Entartung nach sich zieht, kurzum in der sogenannten Verelendung der Arbeitermasse. Diese Verelendung ist nicht eine sozialistische Erfindung oder ein „überwundener Standpunkt", wie die bürgerlichen Ökonomen verkünden, sondern eine faustdicke Tatsache, die allen Bewunderern und Verteidigern der herrlichen bestehenden Ordnung geradezu ins Gesicht schlägt. Würden die Arbeiter keine Gegenaktion organisieren, und ließen sie der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft freien Lauf, sie würde sie und die ganze Gesellschaft über kurz oder lang in die Zustände der Barbarei zurückversetzen. Von sich aus, sich selbst überlassen, bietet die kapitalistische Wirtschaft dem arbeitenden Volk nur wachsendes Elend, wachsende Entartung, sie führt es nur hinab, unermüdlich, unaufhörlich, mit beschleunigtem Tempo. Und sich wieder emporheben, sich der herabdrückenden Tendenz des Kapitalismus widersetzen kann das Proletariat nur durch seine bewusste Abwehr, durch den organisierten Kampf, durch die Koalition.

Die Gewerkschaftsbewegung ist zwar nicht in der Lage, wie ihr von Optimisten in und außerhalb der Partei angedichtet wird, den Arbeiter „zum Herrn in der Werkstatt" und den Unternehmer zu ihrem bloßen „Verwalter" zu machen; angesichts gerade der Lehren der Hamburger Gewerkschaften erscheint diese Vorstellung als ein am grünen Tisch, ohne die geringste Rücksicht auf die harte Wirklichkeit ausgehecktes Hirngespinst. Die Gewerkschaftsbewegung ist desgleichen nicht in der Lage, den Arbeitern einen Einfluss auf den Umfang der Produktion oder auf ihre Technik zu verschaffen; der einzige Fall in der Geschichte der Hamburger Gewerkschaften, wo die Einmischung der Arbeiter in die technische Seite des Arbeitsprozesses die Ursache des Konfliktes war, legte bezeichnenderweise ebenso den naturgemäß reaktionären Charakter solcher Bestrebungen wie auch ihre Aussichtslosigkeit klar. (Es war dies die Auflehnung der zünftigen Schiffszimmerer im Jahre 1881 gegen die mit dem alten Schiffsbau eingeführte Arbeitsteilung, wobei sich die Gewerkschaft der Schiffsbauer gegen die Schiffszimmerer erklärte.) Die Gewerkschaftsbewegung ist endlich nicht in der Lage, die Tendenz der relativen Verelendung der Arbeiterschaft aufzuheben, d. h. den wachsenden Abstand zwischen dem Anteil des Arbeiters am gesellschaftlichen Reichtum und der Produktivität seiner Arbeit, zwischen seinem Anteil und dem Anteil der bürgerlichen Klasse zu überbrücken. Diese Seite der kapitalistischen Wirtschaft bleibt so lange bestehen, als diese Wirtschaft selbst bestehen bleibt, und sie ist gerade die revolutionierende, aufstachelnde Kraft in der Lage des Arbeiters, die ihn, sobald er sie in allen ihren Zusammenhängen begriffen hat, zum Sozialdemokraten, zum künftigen Totengräber des Kapitalismus macht.

Aber die Gewerkschaften können und vollziehen anderes und Gewaltiges: sie kämpfen vor allem gegen die absolute Verelendung der Arbeiterklasse; der herabdrückenden Tendenz des Kapitalismus gegenüber bringen sie die emporhebende zur Geltung und richten den vom Kapital niedergedrückten Arbeiter materiell und geistig wieder auf. Sie leiten den aktiven Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Wirtschaft ein und bereiten allmählich, durch wirtschaftliche und geistige Hebung des Arbeiters, durch organisatorische Zusammenfassung, den materiellen Boden für den sozialistischen Befreiungskampf des Proletariats.

Von diesem Standpunkte erscheint erst das Attentat auf das Koalitionsrecht der Arbeiter, die Zuchthausvorlage in ihrem wahren Lichte.

Formell soll bloß der „Arbeitswillige", der Streikbrecher, vor dem „Terrorismus" der Arbeitervereinigung geschützt werden.

Aber die bisherige Geschichte der deutschen Gewerkschaften – siehe insbesondere die hamburgischen – zeigt, dass bis jetzt umgekehrt die Koalitionen von den Streikbrechern terrorisiert wurden, dass die meisten bisherigen verlorenen Lohnkämpfe nicht etwa durch Mangel an Geld, durch Mangel an Ausdauer bei den Kämpfenden, sondern einfach durch Mangel an Solidarität, durch die Streikbrecher verloren gingen. Die Streikbrecher sind es bis jetzt gewesen, die oft, nachdem sie erst längere Zeit sich von den Gewerkschaften unterstützen ließen, ihnen in den Rücken gefallen und die unzähligen Entbehrungen, die schweren Opfer, den ganzen Kraftaufwand der Kämpfenden einfach zunichte machten. Die Streikbrecher „schützen", bedeutet also nichts anderes, als die Koalitionen dem Terrorismus der Streikbrecher, die Organisierten, Disziplinierten, Aufopfernden dem Terrorismus der Unorganisierten, Disziplinlosen, Selbstsüchtigen preisgeben. Die „Arbeitswilligen" schützen, heißt nichts anderes, als jeden Lohnkampf fernerhin unmöglich, jeden Streik zu einer von vornherein verlorenen Schlacht machen.

Aber die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung lehrt uns wiederum, dass ohne Lohnkampf, ohne Streik die deutschen Arbeiter nicht das geringste erreichen können, dass jeder andere Weg zur Besserung ihrer materiellen Lage, der Weg der Verhandlungen, des friedlichen Abkommens, ihnen durch die Brutalität und den Absolutismus der Unternehmer einfach abgeschnitten wird.

Der Schutz der Streikbrecher, der die Lohnkämpfe unterbinden soll, ist somit direkt darauf gerichtet, den Arbeitern jede fernere Hebung ihrer Lebenslage, jede Abwehr gegen den Druck des Kapitals unmöglich zu machen.

Und so bildet die Zuchthausvorlage, bei all der äußeren Bescheidenheit ihrer Absichten, für die Arbeiterbewegung eine Kundgebung von epochemachender Bedeutung. Es ist dies ein Versuch des herrschenden Kapitals, den bereits einige Leitersprossen hinauf zum Licht und zur Luft empor geklommenen Arbeiter wieder und für immer in den dunklen Abgrund des Elends hinabzustürzen. Ein Versuch, die Wurzeln selbst der Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse auszurotten, der Herrschaft des Kapitals, seinem freien Schalten und Walten mit der Existenz des Arbeiters, jede Schranke zu nehmen. Die Schlacht um das Koalitionsrecht steht vor der Türe, die Arbeiterklasse und ihre Vertreter wissen, was auf dem Spiele steht.

Wir haben im obigen einen Teil des reichhaltigen Materials der Schrift: „Die Hamburger Gewerkschaften", dem Leser vorgeführt. Das Buch bietet aber noch für manche mit dem Gewerkschaftswesen verbundene Fragen Belege in Hülle und Fülle und sollte von jedem ernsten Sozialpolitiker ernsthaft studiert werden. Vor allem wäre es aber zu wünschen, dass der Vorgang der Hamburger Gewerkschaften auf die organisierte Arbeiterschaft anderer Industriezentren möglichst anregend wirkt und zur Herausgabe gleich emsiger und gewissenhaft zusammengestellter Einzeldarstellungen über die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in den einzelnen Städten den Ansporn gibt. Wie in den sozialen Fragen, ist auch bei der Beurteilung der Gewerkschaften, ihrer Höhe und ihrer Aufgaben die Geschichte – die beste Lehrerin.

1 Marx: „Das Kapital". 6. Auflage. Band 1. Seite 728.

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