Rosa Luxemburg 19000509 Die Preisbewegung des letzten Jahres

Rosa Luxemburg: Die Preisbewegung des letzten Jahres

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 9. Mai 1900. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 143-146]

Es ist eine der fundamentalen Verkehrtheiten der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, dass die Gesellschaft nur an der Bewegung der Warenpreise den Stand der Produktion, ihr Verhältnis zu der Nachfrage, ihr Programm für die nächste Zukunft zu entziffern vermag. Wie die chaldäischen Priester aus der Stellung der Sterne am Himmel die wichtigsten Weisungen für die antike Landwirtschaft deuteten, so muss die kapitalistische Gesellschaft ihre eigenen Bedürfnisse, ihre eigenen Verhältnisse wie etwas Fremdes, Außermenschliches, Naturgesetzliches aus ihren eigenen Produkten: aus den Warenpreisen enträtseln. Statt auf direktem, kürzestem Wege der planmäßigen Wirtschaft erst die Bedürfnisse der Gesellschaft zu ermitteln und die Produktion danach zu richten, stellt die anarchische kapitalistische Wirtschaft die Dinge auf den Kopf, produziert erst blindlings darauf los, soviel es halten mag, und fragt dann hintennach ihre Priester, die Börsenspieler, die Statistiker, die Ökonomen: Nun, welche Zeichen lest Ihr in den Sternen – auf dem Kurszettel; wird uns bald der Himmel über dem Kopf zusammenkrachen oder steht das Zeichen noch auf schön Wetter?

Professor Johannes Conrad veröffentlicht im letzten Heft der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik die Zusammenstellung der Warenpreise für das Jahr 1899, die er nach dem gleichen System wie die vorhergehenden Veröffentlichungen dieser Art bearbeitet hat. Das allgemeine Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass das vergangene Jahr allem Anschein nach der Ausgangspunkt eines neuen Abschnitts der Preisentwicklung sein wird. Während nämlich die Preise im letzten Jahrzehnt im Verhältnis zum vorhergehenden durchweg heruntergingen, und dieses Sinken auch im Jahre 1898 angehalten hatte, zeigt das Jahr 1899 einen bedeutenden Sprung in die Höhe. Dies zeigt schon das arithmetische Mittel aller wichtigsten Warenpreise in Deutschland (nach den Hamburger Börsennotierungen):

Setzt man nämlich den Durchschnitt der Warenpreise in dem Jahrzehnt 1879 bis 1889 als 100, so stellt sich der Durchschnitt der folgenden Jahre im Verhältnis dazu:

1889-1893

1894-1898

1897

1898

1899

91,52

83,44

82,65

84,04

99,6

Die Warenpreise des letzten Jahres zeigen also in ihrem Durchschnitt eine plötzliche Steigerung im Verhältnis zum ganzen vorhergehenden Jahrzehnt und erreichen fast das Niveau der achtziger Jahre.

Aber der Durchschnitt ist hier, wie sonst bei Warenpreisen, wenig bezeichnend, da dabei so verschiedene und unter mannigfaltigen Bedingungen hergestellte Warengruppen miteinander gemengt werden, wie Getreide, Kolonialwaren, Rohstoffe, Fabrikate usw. Namentlich verschiebt im gegebenen Fall die Einbeziehung der Getreidepreise in die Durchschnittsberechnung das Ergebnis.

Der Getreidemarkt in Deutschland wie auf dem Weltmarkte stand im vergangenen Jahre, wie in den vorhergehenden, unter dem überwiegenden Einfluss der nordamerikanischen und der argentinischen Ernte, und die Getreidepreise haben deshalb ihre eigene Bewegung, die auf eigentümliche Ursachen zurückzuführen ist. Um die Produktionsverhältnisse im kapitalistischen Sinne zu übersehen, muss man deshalb die Getreidepreise ausschalten. Namentlich sind hier drei Gruppen für die Preisbildung wichtig: Textilstoffe, Metalle und Kohle. Diese zeigen im Jahre 1899 folgende Preisbewegung.

Wenn wir die Preise des Jahrzehnts 1879 bis 1889 als 100 setzen, so stellen sich die Preise der folgenden Jahre dazu:


1889-93

1894-98

1897

1898

1899

Baumwolle, Wolle, Hanf, Rohseide

86,86

74,83

73,62

74,59

96,76

Blei, Kupfer, Zink, Zinn, Roheisen

97,99

79,57

78,76

86,34

107,19

Steinkohle …

114,13

114,96

114,41

117,56

127,59

Die Preissteigerung des vergangenen Jahres hat somit vor allem die wichtigsten Artikel der kapitalistischen Fabrikproduktion berührt: Die Textil- und Metallgewerbe und die Steinkohle.

Wir haben aber hier nicht etwa mit einer lokalen Erscheinung des deutschen Marktes zu tun. Ein ganz analoges Bild stellt die Preistafel für den entsprechenden Zeitabschnitt in England dar. Die Sauerbecksche Zusammenstellung über 45 Waren im Märzheft des „Journal of the Royal Statistical Society" zeigt folgende Ergebnisse:

Wenn wir die Preise der Periode 1867 bis 1877 gleich 100 setzen, so stellen sich die Preise der späteren Perioden:


1878-1887

1890-1899

1898

1899

Nahrungsmittel …

84

68

68

65

Mineralien …..

73

71

70

92

Textilien

71

56

51

68

Materialien überhaupt

76

64

61

70

Ganze Summe

79

66

64

68

Auch hier sehen wir, dass, während die landwirtschaftlichen Erzeugnisse heruntergingen, die Fabrikprodukte und Fabrikstoffe im letzten Jahre jäh in die Höhe schnellten und fast die Preishöhe erreichten, die sie vor 20 Jahren aufwiesen, zum Teil noch darüber hinaus.

Es erübrigt sich, zu bemerken, dass sowohl in England wie in Deutschland die allgemeine Preissteigerung des vorigen Jahres auch in den ersten Monaten dieses Jahres anhält, zum Teil noch rapider wird. Wir scheinen somit nach einer längeren Periode des Preisdrucks in eine Phase der Preissteigerung getreten zu sein.

Wie kann nun diese Erscheinung erklärt werden? Auf den ersten Blick wäre man geneigt, sie auf die mit dem Transvaalkriege verbundene Beschränkung der Goldproduktion zurückzuführen. Allein, sowohl der den vorhergehenden Jahren gleichförmige Preisrückgang für Getreide wie die reichlichen Erträge der Golderzeugung der übrigen Goldländer beweisen, dass die gegenwärtige Bewegung der Preise nicht auf mechanische Weise aus der Goldmenge, sondern aus den Produktionsverhältnissen der Waren selbst zu erklären ist.

Professor Conrad führt aus, „dass man nicht einen Moment im Zweifel sein könne, dass es der kolossale Aufschwung in Handel und Industrie ist, der durch die erhöhte Nachfrage nach den meisten Produkten jene Preiserhöhung bedingte". Im Allgemeinen ist diese Erklärung vollkommen richtig. Aber der wirtschaftliche Aufschwung dauert nicht erst seit 1899 an. Schon seit mehr als einem Jahrfünft befinden wir uns mitten in der industriellen Prosperitätsperiode, trotzdem sehen wir die Preise bis 1899 fast durchweg heruntergehen oder nur ganz wenig steigen, und erst das letzte Jahr zeigt uns einen blitzschnellen Sprung in die Höhe.

Das beweist, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der sich bis jetzt noch in ruhigerem und gleichmäßigerem Tempo bewegte, seit dem letzten Jahre in Galopp verfallen ist. Dies bestätigt auch der Umstand, dass die jähe Preissteigerung nicht sowohl die fertigen Fabrikate wie die Rohstoffe der Fabrikproduktion betrifft. Solange die Preise eine gleichmäßige und ruhige Bewegung aufwiesen, konnte man sich noch mit der Hoffnung trösten, dass die Aufschwungsperiode langsam und unfühlbar einer früher oder später unvermeidlichen Periode des Niedergangs Platz machen würde. Sobald aber die rapide Preissteigerung auf einen immer tolleren Galopp schließen lässt, wird die betrübende Aussicht auf einen um so fühlbareren Rückschlag, auf eine Krise immer wahrscheinlicher. Die allgemeine Preisbewegung des Jahres 1899 und der ersten Monate des laufenden Jahres ist in diesem Sinne ein viel beängstigenderes, weil sicheres Symptom als die gegenwärtige Panik auf der Fondsbörse, die an sich nicht mehr als ein Ergebnis der üblichen Spekulation mit den Gruben- und Hüttenwerken zu sein braucht.

Wie dem auch sei, es bleibt der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vorbehalten, des naiven Glaubens zu sein, dass warnende Kassandrarufe, wenn sie sich auf noch so sichere Zeichen stützen, auf den tatsächlichen Gang der Wirtschaft von irgendwelchem Einfluss sein können. Es gehört nach wie vor zum Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, dass sie ihre eigenen Daseinsgeheimnisse in den Sternen sucht, um sich aber in ihrem Tun nur nach dem Donnerwetter zu richten.

Wer aber bereits nach den vorliegenden Tatsachen Belehrung schöpfen kann und soll, das sind die Arbeiter. Es ist eine Tatsache, dass die Warenpreise allgemein seit anderthalb Jahren in rapidem Steigen begriffen sind. Wie steht es aber mit den Löhnen?

Mögen die „Hauptleute" der heutigen Wirtschaftsanarchie nur so weiter galoppieren, bis sie im Graben des Kraches wieder für einen Augenblick zur ruhigen Besinnung kommen. Dagegen hilft weder Bitten noch Warnen. Die Arbeiter aber, die unfreiwillig mit Galoppierenden in diesem Hexensabbat, die morgen zu unterst im Graben liegen und die ganze Last auf sich tragen werden, sie können wenigstens darauf bestehen, dass ihnen heute, so lange die kapitalistische Kavalkade noch auf stolzen Rossen sitzt, auch „ein Plätzchen an der Sonne" des wirtschaftlichen Aufschwungs gewährt wird.

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