Rosa Luxemburg 18991201 Ein neues Buch über die Gewerkschaften

Rosa Luxemburg: Ein neues Buch über die Gewerkschaften

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung“, am 1. Dezember 1899. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 133-135]

Der wirtschaftliche Arbeiterkampf wird in der letzten Zeit erfreulicherweise immer mehr zum Gegenstand ernster, eingehender Untersuchungen gemacht. Nach dem breit angelegten Werk von Schmöle* und der aus Arbeiterkreisen hervorgegangenen Arbeit Bürgers über die Hamburger Gewerkschaften erscheint soeben eine sehr umfangreiche Untersuchung W. Kulemanns über die Arbeiter- und Arbeitgeberkoalitionen sowohl in Deutschland wie in anderen Ländern**.

Auf das inhaltsreiche Buch, das uns noch zu manchen Bemerkungen Anlass geben wird, wollen wir hier nur mit einigen allgemeinen Hinweisen aufmerksam machen.

Der Standpunkt des Verfassers ist der eines verständigen bürgerlichen Sozialreformers, der in der wirtschaftlichen Betätigung der Arbeiterkoalitionen ein naturnotwendiges Erzeugnis der modernen gesellschaftlichen Entwicklung und – selbstverständlich! – ein sicheres Gift erblickt, mit dem, bei entsprechendem Gebrauch, die Sozialdemokratie wie die Ratten vertilgt werden könnte. Weshalb denn die Sozialdemokratie in ihrer grenzenlosen Verblendung die Gewerkschaften aus Leibeskräften fördern und unterstützen und so gewissermaßen ihren eigenen Totengräber spielen kann, wie es Kulemann selbst an der Hand der Geschichte der gewerkschaftlichen Bewegung nachweist, bleibt ein Geheimnis. Sicher ist aber, dass der arbeiterfreundliche Gerichtsrat, wie alle Anhänger dieser Auffassung, hieraus höchstens auf eine Inkonsequenz der Sozialdemokratie, aber um alles in der Welt nicht auf die eigene Inkonsequenz schließen wird. Das Ideal Kulemanns ist, wie er mehrfach ausdrücklich hervorhebt, der Deutsche Buchdruckerverband auf Seiten der Arbeiter und dessen Korrelat, der Deutsche Buchdruckerverein auf Seiten des Unternehmertums, denen eine eingehende Behandlung in drei verschiedenen Teilen des Buches gewidmet ist. Mit solchen Organisationen glaubt er „eine Lösung der sozialen Frage in friedlichem Sinne" erreichen zu können und trifft hier, nur mit etwas anderen Worten, mit Genossen David zusammen. Wenn David in der Tarifgemeinschaft der Buchdrucker „ein Stück Sozialismus", Kulemann aber den „gefährlichsten Gegner" des Sozialismus sieht, so beruht die scheinbar gegensätzliche Beurteilung der Frage in beiden Fällen doch auf ganz gleichartigem Verständnis für das Wesen des Sozialismus.

Im übrigen wirkt aber das politische Prisma des Verfassers auf die Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse keineswegs trübend, der Gegenstand ist vielmehr mit sichtlichem Bestreben, die Sachlichkeit zu wahren, behandelt worden. Kulemann zeigt sogar in anderen Fragen ein weitgehendes Verständnis für die modernen Tendenzen der Gewerkschaftsbewegung. So weiß er zum Beispiel die Internationalität der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse sehr gut zu würdigen. „Es liegt auf der Hand," schreibt er, „dass die gewerkschaftliche Entwicklung nicht in die Grenzpfähle der einzelnen Staaten eingeengt werden kann, wird doch gegen jede noch so berechtigte Arbeiterforderung von den Vertretern der Unternehmer stets in erster Linie der Einwand erhoben, dass durch ihre Befriedigung der einheimischen Industrie die Konkurrenz auf dem Weltmarkte unmöglich gemacht werde. Wenn dies nicht in einzelnen, vielleicht auf dem betreffenden Gebiete unvollkommen entwickelten Ländern, sondern überall in gleichem Maße geschieht, wenn man sich in Deutschland auf Österreich, Frankreich, England, Amerika und dort wieder auf Deutschland beruft, so erinnert das allerdings lebhaft an die Heinesche Erzählung von den beiden edlen Polen, von denen keiner wollte, dass der andere für ihn zahle, und die deshalb beide schließlich nicht dazu kamen, ihre Zeche zu berichtigen. Aber immerhin ist nicht zu bestreiten, dass die Produktionsbedingungen in den Kulturländern einem natürlichen Ausgleichsbedürfnisse unterworfen sind, und dass die Industrie eines Landes geschädigt werden müsste, wenn die Ungleichheit ihrer Belastung im Vergleiche mit derjenigen der übrigen Länder ein gewisses Maß überschreiten würde. Aus diesem Grunde ist die gewerkschaftliche Bewegung, will anders sie dauernden Erfolg haben, grundsätzlich auf internationale Entwicklung hingewiesen."

Darum wendet Kulemann den internationalen gewerkschaftlichen Verbindungen die größte Aufmerksamkeit zu und liefert zu diesem bis jetzt so mangelhaft bekannten und literarisch fast gar nicht behandelten Kapitel der Gewerkschaftsbewegung die Schilderung von 23 international organisierten Gewerken.

Ferner steht der Verfasser auch gegenüber der Organisation der Handelsangestellten und der Beamten auf modernem Standpunkt, indem er offen erklärt: „Sie (staatliche und private Beamte) befinden sich nicht allein in abhängiger Stellung, sondern diese unterscheidet sich auch meist nicht wesentlich von derjenigen des Arbeiters, insbesondere ist sie regelmäßig weder eine dauernd gesicherte, noch hinsichtlich der Leistungen und Gegenleistungen fest bestimmte, so dass für die Verteidigung der Interessen der Mitglieder gegenüber denen der Arbeitgeber volle Veranlassung geboten ist." Auch sind in dem vorliegenden Werk zum ersten Mal ebenso die Organisationen der Post- und Eisenbahnbeamten wie der Handelsangestellten eingehend und zusammenhängend behandelt worden. Interessant ist auch die schroffe Beurteilung der neuesten Husarenpolitik Podbielskis dem Postassistentenverbande gegenüber, ebenso wie die Kritik der Nachgiebigkeit des Assistentenverbandes. „Offenbar ist es der Geist des patriarchalischen Bürokratismus, der aus dieser Auffassung spricht und sich in den schärfsten Gegensatz stellt zu der modernen Anschauung, dass auch der Beamte Staatsbürger ist und alle Rechte desselben ausüben darf, soweit er nicht zu den Pflichten seines Amtes in Widerspruch tritt. Diese Pflichten verbieten ihm aber nicht, Wünsche auf Verbesserung seiner Lage auf gesetzlichem Wege geltend zu machen, und der Umstand, dass die Beamten dies gemeinsam tun, kann die an sich berechtigte Handlungsweise nicht zu einer unberechtigten machen. Jedenfalls hat der Postassistentenverband durch seinen jüngsten Schritt seinen gewerkschaftlichen Charakter im Wesentlichen verloren und damit auch das hohe sozialpolitische Interesse, das er vorher verdiente."

Eine ganz besondere Bedeutung beansprucht der letzte Teil des Kulemannschen Buches, worin er die Unternehmerverbände, sowohl diejenigen, die die Bekämpfung der Arbeiterkoalitionen zum Zweck haben, wie diejenigen, die sich mit den Arbeiterorganisationen zu sogenannten „gemischten Syndikaten" koaliert haben, schildert. Kulemann hat mit großem Fleiße den gegen die Arbeiter gerichteten Unternehmerkartellen nachgespürt, was mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden ist, da diese Kartelle „heute die wahren geheimen Gesellschaften sind", wie sich Brentano in seinem Schreiben an Kulemann ausgedrückt hat. Trotzdem bietet seine Schilderung hier doch nicht ein irgendwie ausreichendes Bild der Verhältnisse, weil er sich auf die formale Aufspürung von arbeiterfeindlichen Statuten und Satzungen der Unternehmerverbände beschränkt, dagegen ihre viel wichtigere Praxis, die schwarzen Listen, die Aussperrungen u. dergl., ganz außer Betracht gelassen hat.

Im Ganzen ist das Kulemannsche Werk ein sehr schätzenswerter Beitrag zu unserer leider noch so armen Literatur über die Gewerkschaften und liefert zu mancher, auch in unseren Reihen, noch strittigen Frage ein reichliches Material.

*Jos. Schmöle: „Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland".

** „Die Gewerkschaftsbewegung. Darstellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter und der Arbeitgeber aller Länder." Von W. Kulemann Jena, G. Fischer. 1900. 730 Seiten Großoktav.

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