Rosa Luxemburg 18991125 Nach dem Siege

Rosa Luxemburg: Nach dem Siege

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 25. November 1899. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 112-114]

Die totgeborene Zuchthausvorlage ist in aller Eile verscharrt worden, und die deutsche Arbeiterschaft kann erleichtert aufatmen. Es war ein voller, ein glänzender Sieg, und im Augenblick kommt es nur darauf an, diesen Sieg möglichst intensiv auszunutzen. Dass die Sozialdemokratie jetzt nicht auf den Lorbeeren in angenehmen Betrachtungen über das Vollbrachte ausruht, dafür sorgen zur Genüge unsere Widersacher selbst, die mit dem Verzweiflungsleichtsinn eines Bankrotteurs von einer Niederlage zur anderen mit toller Mast jagen. Die bevorstehende Flottenvorlage sorgt dafür, dass es unserer Agitation nicht an reichlichstem Stoff mangelt, und dass das angefachte Kampffeuer der Volksmassen erhalten wird. Allein in unserem Interesse liegt es, in der Agitation nicht völlig den Ereignissen nachzujagen, und, dem Kurse der „obersten Stelle" folgend, von Gegenstand zu Gegenstand zu eilen, sondern vielmehr jeder Schlacht und besonders jeder gewonnenen Schlacht einen möglichst dauerhaften, in die Tiefe gehenden Nutzen abzugewinnen zu suchen. Die begrabene Zuchthausvorlage eignet sich dazu in ganz vorzüglicher Weise, und zwar müssen die dauernden Früchte der Agitation in diesem Falle auf dem gewerkschaftlichen Gebiete erzielt werden.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass seit der Ära Tessendorf die deutschen Gewerkschaften noch nie von der herrschenden Politik so bedroht waren wie durch die Zuchthausvorlage. Die Gärung, die durch dieses Attentat auf das Koalitionsrecht in den weitesten Kreisen der Arbeiterschaft hervorgerufen worden ist, ist so mächtig, wie wir es in den letzten Jahren nicht erlebt haben.

Die Stumpfsinnigsten und Gedankenlosesten unter den Arbeitern sind durch die Regierungsvorlage mit dem klangvollen Namen, der wie ein Faustschlag ins Gesicht der Arbeiterklasse tönt, aus ihrem Schlafe wachgerufen worden. Nun gilt es, mit verdoppeltem Eifer diese Gärung auszunützen, d. h. die aufgerüttelten Massen für Gewerkschaftsorganisationen zu gewinnen. Das bedauerliche Verhältnis zwischen dem, was auf diesem Gebiete bereits erreicht worden ist, und dem, was erreicht werden kann und muss, treibt ohnehin zu möglichster Energie im Ausbau der Gewerkschaften. Ihre Jugendlichkeit, ihr meist schwankender Stand in bezug auf die Mitgliederzahlen, ihr noch so häufiges Experimentieren in den Organisationsverhältnissen, die Unregelmäßigkeit und Mangelhaftigkeit in den Beitragsleistungen der Mitglieder, alles dies beweist, dass die deutsche Gewerkschaftsbewegung noch nicht entfernt jene Stabilität und Entwicklung erreicht hat, die ihr einen weitgehenden und dauernden Einfluss auf die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse verschaffen können.

Vor allem aber hat die Regierung mit ihrem beabsichtigten Streich gegen die Koalitionen tatsächlich direkt einen wunden Punkt der Gewerkschaftsbewegung getroffen. Der „Schutz der Arbeitswilligen" konnte nur deshalb für die Arbeiterkoalitionen so verhängnisvoll werden, weil es leider noch so viele „Arbeitswillige" unter den Arbeitern gibt. Die Zuchthausvorlage war nichts anderes, als eine Spekulation der kapitalistischen Ausbeutung auf den Mangel an Solidarität unter den Ausgebeuteten im wirtschaftlichen Kampfe. Dass diese Spekulation den Arbeitern so gefährlich werden konnte, ist ein bedeutsames Zeugnis, wie groß noch ihre Sünden gegen die Klassensolidarität sind.

Mit der siegreichen Abwehr des von der Regierung geführten Streiches ist es also noch nicht entfernt getan. Die Zuchthausvorlage hat ein grelles Licht auf die wundeste Seite der Gewerkschaftsbewegung geworfen, und sie ist eine dringende Mahnung an die Arbeiter, hier Abhilfe zu schaffen. Sie war eine Beschimpfung der Arbeiterschaft und soll zum Appell an ihr Klassengefühl werden. Sie war auf die Zertrümmerung der Koalitionen berechnet und kann sich, bei entsprechender Agitation, in einen Hebel der gewerkschaftlichen Konsolidierung verwandeln.

Der Ruf: Nieder mit der Zuchthausvorlage!, der von einem Ende Deutschlands bis zum anderen hallte, muss sich am Tage nach der Schlacht in den Ruf verwandeln: Hinein in die Gewerkschaften!

Der jetzige Augenblick ist der günstigste für die gewerkschaftliche Agitation und Organisation, der sich denken lässt.

Es kommt noch ein weiteres hinzu. Die wirtschaftliche Konjunktur in Deutschland und auf dem Weltmarkte hat sich noch nicht geändert. Noch dauert die glänzende Zeit des industriellen Aufschwungs, des Goldregens kapitalistischer Gewinne, an. Liefert also der politische Moment die ausgezeichnetste Saat für die gewerkschaftliche Agitation, so bereitet andererseits die wirtschaftliche Konjunktur den fruchtbaren Boden für ihre Aufnahme.

Das Zusammentreffen schafft für die Gewerkschaftsbewegung Bedingungen, wie sie sie günstiger wohl noch nie erlebt hat.

Es liegt an den Arbeitern selbst, die Lage auszunutzen. Sie haben Pulver, sie haben Blei, mögen sie ans Werk gehen. Schlachten schlagen, dazu gehört viel, aber Siege ausnutzen, dazu gehört noch mehr; allein nicht mehr, als die deutsche Arbeiterklasse kann, wenn sie will. Die Regierung hat sich ihre parlamentarische Niederlage geholt, aber wir werden erst dann volle Ursache haben, darüber zu triumphieren, wenn wir das politische Jena der Regierung im Reichstag in ein wirtschaftliches Jena des Kapitals im Kampfe mit den Gewerkschaften verwandelt sehen. Mögen diejenigen, die mit der Zuchthausvorlage Wind gesäet haben, einen Sturm der Arbeiterkoalitionen ernten!

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