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Franz Mehring 18910601 Der neue Kurs

Franz Mehring: Der neue Kurs

1. Juni 1891

[Die Neue Zeit 9. Jg. 1890/91, Zweiter Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 1-5]

Durch die Rede, welche der Reichskanzler v. Caprivi heute im Abgeordnetenhause über die Getreidezölle hielt, klang es wie das leise Wimmern eines Sterbeglöckleins. Rechts donnerte der Beifall der Brotverteurer, und links schlichen sich die letzten Illusionen mäuschenstill zum Saale hinaus. Der neue Kurs sollte den ersten, tiefen Schnitt in die Hinterlassenschaft Bismarcks tun, aber obgleich ihn der Druck einer Hungersnot, die schon an die Tore des Reiches pocht, dazu trieb, so verzagte doch die zitternde Hand, und die Schere klapperte in die Luft.

Man hat viel zu viel Aufhebens davon gemacht, dass einige Auswüchse des Systems Bismarck beseitigt worden sind, Auswüchse, die – mit Ausnahme Russlands und vielleicht Österreichs – in keinem europäischen Staate überhaupt mehr möglich gewesen wären. Das Sozialistengesetz ist beseitigt, weil es beseitigt werden musste; die Presse wird etwas weniger drangsaliert, etwas, nicht viel weniger, und auch sonst ist wohl diese oder jene kleine Abzahlung auf die riesig angewachsene Schuld von Jahrzehnten erfolgt. Aber was besagen die paar kleinen Tropfen auf den heißen Stein? Politisch sind diese geringen Fortschritte vielleicht jetzt schon zu teuer erkauft durch das sofortige Nachlassen der Spannung, welche das despotische Gebaren Bismarcks endlich in einem Teile der bürgerlichen Klassen hervorgerufen hatte.

Die Geschichte mit dem neuen Kurse wird nachgerade etwas altbacken; seit fünfzig Jahren erleben wir sie gerade zum dritten Male. Wie oft erinnern die Vorgänge von heute den Kenner der preußischen Geschichte an die Vorgänge im Anfange der vierziger Jahre! Man schlage in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" den Brief nach, den Karl Marx im Mai 1843 von Köln an Arnold Rüge richtete, und lese beispielsweise darin: „Der alte König wollte nichts Extravagantes… Er wusste, dass der Dienerstaat und sein Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur gelingen wollte. Daher seine liberalen Reden und Herzensergießungen. Nicht das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen regieren."1 Oder man durchblättere die „Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik", deren erster und einziger Band 1843 von Arnold Ruge in der Schweiz herausgegeben wurde. Hier heißt die zweite Abhandlung: „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion. Von einem Rheinländer", und dieser „Rheinländer" war – nach Ruges Briefwechsel I, 279 – Karl Marx. Mit köstlicher Ironie – man glaubt, einen Freisinnigen von heute zu hören – beginnt er: „Wir gehören nicht zu den Malkontenten, die schon vor der Erscheinung des neuen preußischen Zensuredikts ausrufen: Timeo Danaos et dona ferentes" [Ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen], und zerpflückt dann das neue Edikt, welches die bisherige Praxis der Zensoren tadelte, um das Prinzip der Zensur um so schroffer aufrechtzuerhalten, u.a. mit folgenden Worten: „Es ist die Art des Scheinliberalismus, der sich Konzessionen abnötigen lässt, die Personen hinzuopfern, die Werkzeuge, und die Sache, die Institution festzuhalten. Die Aufmerksamkeit eines oberflächlichen Publikums wird dadurch abgelenkt… Mit einem Personenwechsel glaubt man den Wechsel der Sache zu haben. Von der Zensur ab richtet sich der Blick auf einzelne Zensoren, und jene kleinen Schriftsteller des befohlenen Fortschritts handhaben minutiöse Kühnheiten gegen die ungnädig Behandelten, als ebenso viele Huldigungen gegen das Gouvernement."2 Nun, „minutiös" sind jene „Kühnheiten" gerade nicht, die nach Friedrichsruh geschleudert werden, aber dafür sind auch um so dicker die „Huldigungen" gegen den neuen Kurs.

Im Anfang der sechziger Jahre tauchte der neue Kurs zum zweiten Male auf. Die Bourgeoisie kam aus ihrem Schmollwinkel hervor und reckte sich in den Strahlen der neuen Sonne. Sie fühlte ein Stück revolutionären Dranges in sich, denn der „alte verknöcherte Dienerstaat" hinderte die kapitalistische Entwicklung auf Schritt und Tritt. Aber politisch war sie zahm, sehr zahm geworden, denn der rote Schrecken von 1848 steckte ihr noch in allen Gliedern. Vergebens warnten sie einige Demokraten, die sich den bürgerlichen Idealismus der vierziger Jahre gerettet hatten, wie Ziegler und auch Waldeck, die Prinzipien nicht zu verraten; sie wurden in der großen Fahnenflucht nur mitgerissen. Vergebens auch suchte Lassalle die Bourgeoisie mit blutigen Geißelschlägen voranzutreiben. Sie schwor auf den neuen Kurs, und in ihrem harmlosen Gottvertrauen gestattete sie sich den kleinen Luxus, ein bisschen an den „unproduktiven" Heeresausgaben zu streichen. Der Spaß kam ihr teuer zu stehen; der neue Kurs verschwand spurlos in der Versenkung. Sie hatte es aber gar nicht so böse gemeint und warf bereitwillig alle politischen Ansprüche fort, um nur noch an dem festzuhalten, was ohnehin allein ihr Rückgrat gesteift hatte: an der wirtschaftlichen Gesetzgebung, welche der kapitalistischen Entwicklung freie Bahn schaffen sollte. Hier aber fand sie den Einigungspunkt mit dem „alten Dienerstaat", der, wenn er Deutschland blattweise verspeisen wollte, nicht auf die wirtschaftlichen Lebensbedingungen des ostelbischen Großgrundbesitzes allein zugeschnitten bleiben konnte, sondern sich notdürftig der höheren Entwicklung der westelbischen Bourgeoisie anpassen musste. Nicht zum wenigsten auch wurde die bürgerliche Opposition zu Paaren getrieben, weil Junker Bismarck in plumper Nachahmung dessen, was er in Paris an dem kleinen Napoleon beobachtet hatte, mit dem erwachenden Klassenbewusstsein des Proletariats zu kokettieren schien. Das Banner des „sozialen Königtums" wurde aufgepflanzt; Hermann Wagener und Lothar Bucher gelangten in „maßgebende" Ämter; Dühring musste im Auftrage des Staatsministeriums über „wirtschaftliche Assoziationen und soziale Koalitionen" schreiben; ja, in Schlesien wurde, um einen fortschrittlichen „Bourgeois" und in ihm seine Klasse zu ärgern, ein „sozialistisches" Experimentchen mit einer Produktivgenossenschaft gemacht3. Wie tief diese harmlosen Papierspeere in das butterweiche Herz der Bourgeoisie drangen, zeugen noch heute die elegischen Klagen des Herrn Eugen Richter darüber, dass Bismarck die Sozialdemokratie mit den geheimen Fonds großgezogen habe. Aber Bismarck meinte es mit seinem „sozialen Königtum" sowenig böse wie die Bourgeoisie mit ihrer „freiheitlichen Opposition". Die schönen Seelen fanden sich, als die neuen Regimenter die Schlacht bei Königgrätz geschlagen hatten und als die Sicherung des Sieges eine wirtschaftliche Gesetzgebung notwendig machte, welche die Klasseninteressen der Bourgeoisie halbwegs befriedigte. Bucher und Wagener kamen aufs Altenteil, und auf ihren Stühlen machten sich's Delbrück und Michaelis bequem.

Und abermals nach zwanzig Jahren, im Anfange der achtziger Jahre, tauchte der neue Kurs zum dritten Male auf, freilich nur erst in schattenhaften Umrissen. Die Versöhnung zwischen Bourgeoisie und Bürokratie, zwischen Großgrundbesitz und Großkapital war nur oberflächlich gewesen oder genauer: Sie war nur unter dem Drucke eines gemeinsamen Interesses erfolgt. Das „neue Reich" lag im Lebensinteresse der einen wie der anderen, aber bei der Frage, wer das „neue Reich" beherrschen solle, trat der Gegensatz der Interessen wieder hervor. Schon sehr frühe regte sich dieser Gegensatz, schon gleich nach 1871 und sogar noch vor diesem Jahre; man findet interessante Aufschlüsse darüber in dem Briefwechsel von Rodbertus und Rudolf Meyer. Und als Bismarck im Jahre 1873 seinen Famulus Wagener in ein Amt schieben wollte, in welchem derselbe jeden Tag das Ohr des Kaisers gehabt hätte, bekam er von Lasker, dem er übrigens diesen Denkzettel nie vergessen hat, einen derben Schlag auf die Finger. Aber gerade die Gründerkomödie, die zu diesem Zwecke aufgeführt wurde, gab dem Ansehen der Bourgeoisie einen schweren Stoß; mit dem wirtschaftlichen Krach kam auch der moralisch-politische Krach über sie, und ihre feindselig-verbohrte Haltung gegenüber der erwachenden Arbeiterbewegung – eine Haltung, die an Feindseligkeit wie an Verbohrtheit weit über den wirklichen Klassengegensatz hinausging – gab ihr den letzten Rest. Sie erleichterte dadurch nur das Spiel ihres Gegners, der die Attentate zweier Idioten benützte, den roten Schrecken zu entfesseln, mit Hilfe der Bourgeoisie erst die arbeitenden Klassen niederzuwerfen und dann die Bourgeoisie selbst an die Wand zu drücken.

In dieser hilflos-kläglichen Lage fand sich ihr einer Teil mit den Brosamen ab, die vom Tische der nunmehr im größten Maßstabe betriebenen Großgrundbesitzerpolitik fielen, während ihr anderer Teil trotz alledem an seinen „Idealen" festhielt. Aber wie hielt er daran fest! Er setzte seine ganze Hoffnung auf einen – neuen Kurs; er schnitt ein Jahrzehnt lang seine Politik auf einen – Thronwechsel zu; er schüttete täglich noch ein paar Tropfen Wasser in seinen dünnen Wein, damit dies Getränk einem, wer weiß! vielleicht doch nur schwachen Magen auch ja bekomme. Von der Demokratie zum Fortschritt, vom Fortschritt zum Freisinn; von den „Jung-Hegelingen" der „Hallischen Jahrbücher" bis zu den „Nichts-als-geärgerten-Freihändlern" der „Freisinnigen Zeitung"! Auf diesem Krebsgang erschien dann endlich der Krebs, und der Schatten des neuen Kurses verschwand wieder von der Wand.

Aber der neue Kurs kam doch, wenn auch freilich in anderer als der gehofften Gestalt, Der Despotismus Bismarcks hatte sich in seinen eigenen Schlingen gefangen; er hatte gehofft, einen Schüler heranzuziehen, und er fand seinen Meister; er hatte mit dem „sozialen Königtum" gespielt, und das „soziale Königtum" war da. Aber es ist nun einmal das Schicksal der neuen Kurse, um so gründlicher zu scheitern, je kühneren Anlauf sie nehmen; an den Versuch, den Beschwerden der arbeitenden Klassen bis zu einem gewissen Grade abzuhelfen, hingen sich Bourgeoisie und Bürokratie, nun wieder in holder Eintracht, mit ihrem ganzen Schwergewicht, und nach einjährigem Kreißen gebaren die Berge das arme, kleine Mäuslein des neuen Arbeiterschutzgesetzes. Und nun hat dieser neue Kurs nicht mehr die Energie, es zu wagen, ebenso scharf die Getreidezölle zu beschneiden, wie der erste neue Kurs, da er schon recht altersschwach geworden war, im Jahre 1847 – ein Jahr vor dem Tage des Gerichts! – angesichts einer drohenden Hungersnot die Getreidezölle beschnitten hat.

So drehen sich alle diese neuen Kurse doch nur immer im alten Kreise des „alten Dienerstaats". Aber ein neuer Kurs ist freilich da, und er kann genügen. Stand dem ersten neuen Kurse dieser Marx und dem zweiten neuen Kurse jener Lassalle drohend, mahnend, warnend gegenüber, so steht dem dritten neuen Kurse eine millionenköpfige Arbeiterschaft gegenüber, entschlossen, fertig, klar. Es ist der einzige neue Kurs, der diesen Namen verdient, und einen andern hat Deutschland seit fünfzig Jahren nicht gesehen.

3 Gemeint ist eine durch den konservativen Landrat des Kreises Reichenbach in Schlesien inszenierte Intrige gegen den Baumwollfabrikanten Reichenheim. Die Firma ist ursprünglich Staatsbesitz gewesen und 1848 von Hansemann den Gebr. Reichenheim verkauft worden. Reichenheim war Mitglied der Fortschrittspartei und Freund von Hermann Schulze-Delitzsch. Er hatte während des Verfassungskonflikts der Regierung Opposition gemacht. Die Konservativen stachelten daraufhin die Weber von Wüste-Giersdorf an, eine Deputation zum König zu entsenden. Diese bat um staatliche Hilfe gegen den Fabrikanten. Der König versprach in der Audienz gesetzliche Hilfe. Dabei blieb es. Lassalle aber benutzte wider besseres Wissen den ihm von Konservativen zugetragenen Sachverhalt in seiner Ronsdorfer Rede am 22. Mai 1864 zu demagogischen Ausführungen gegen die Fortschrittspartei und zur Agitation für seine Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Ein wirkliches „Experiment" gab es zu dieser Zeit in Schlesien nicht. (Siehe Ferdinand Lassalle: Reden und Schriften. Hrsg. von Eduard Bernstein, Bd. 2, Berlin 1893, S. 831 ff.)

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