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Franz Mehring 18910608 Die Arbeiter und die Getreidezölle

Franz Mehring: Die Arbeiter und die Getreidezölle

8. Juni 1891

[Die Neue Zeit, 9. Jg. 1890/91, Zweiter Band, S. 361-363. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 6-9]

Not lehrt beten, und in ihrer Angst vor dem drohenden Zorne der Massen rufen die Brotverteurer einen gar seltsamen Heiligen an: nämlich Karl Marx. Irgendeiner ihrer findigen Köpfe ist über das „Elend der Philosophie" geraten und hat im Anhange die Rede über den „Freihandel" entdeckt, und siehe da, welch ein Fund! Lautet nicht der Schluss dieser Rede, gleichsam ihr Fünftelsaft:

Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel."1 Kann man sich einen klassischeren Zeugen für die Notwendigkeit hoher Getreidezölle denken? Und so geht denn ein famoser Artikel: Karl Marx über die Getreidezölle, durch die Presse der Brotverteurer. Marx, wenn er noch lebte, wäre vielleicht so unhöflich, wieder von Leuten zu sprechen, die „zur Prüfung literarischer Ware taugen, wie der Esel zum Lautenschlagen"2. Wir wollen höflicher sein und der frommen „Germania", in welcher unseres Wissens die Ente zuerst mit dem Steiße voran auftauchte, nur mit Lessing sagen: „O Sie allein sind ein wahrer Christ! – und belesen in der Schrift wie der Teufel."

Not lehrt beten, und hätte der gesetzliche Arbeiterschutz die große Industrie auf die Nägel gebrannt, wie er es bekanntlich nicht getan hat, so wäre sicherlich einer ihrer findigen Köpfe über die „Neue Rheinische Zeitung", 4. Heft vom April 1850, geraten, wo Engels über die englische Zehnstundenbill u. a. schreibt: „Diese Assoziation der Arbeiter mit den heterogensten und reaktionärsten Elementen der englischen Gesellschaft machte es nötig, dass die Zehnstundenagitation ganz außerhalb der revolutionären Arbeiteragitation geführt wurde … nicht ein einziger Chartist agitierte in offizieller Gemeinschaft mit den aristokratischen und bürgerlichen Zehnstundenmännern oder saß im Zehnstundenkomitee (Short-Time-Committee) in Manchester. Dies Komitee bestand ausschließlich aus Arbeitern und Fabrikaufsehern. Aber diese Arbeiter waren vollständig gebrochene, matt gearbeitete Charaktere,… die … nur noch fähig waren zur demütigen Verehrung der Aristokratie… Der Arbeitertorysmus dieser Zehnstundenleute war der Nachhall jener ersten Opposition der Arbeiter gegen den industriellen Fortschritt, die den alten patriarchalischen Zustand wiederherzustellen suchte und deren energischste Lebensäußerung nicht über das Zerschlagen von Maschinen hinausging. Ebenso reaktionär wie diese Arbeiter waren die bürgerlichen und aristokratischen Chefs der Zehnstundenpartei… Die Bankiers, die Stockjobbers, die Reeder und Kaufleute, die Grundaristokratie, die großen westindischen Grundbesitzer, die Kleinbürgerschaft vereinigten sich in solchen Zeiten mehr und mehr unter der Leitung der Zehnstundenagitatoren."3 Ist da nicht bestätigt, mit den klarsten und unzweideutigsten Worten von der Welt, was im Abc-Buch der Freisinnigen Partei nun schon so lange tauben Ohren gepredigt wird, dass nämlich der gesetzliche Arbeiterschutz eine höchst reaktionäre Erfindung sei, die im Namen der „Freiheit", die „wir" meinen, gar nicht scharf genug bekämpft werden kann?

Da es immer gut ist, den Dingen gleich auf den Grund zu gehen, so mag das „bissele Falschheit", welches bei der Ausbeutung der Rede von Marx für die Zwecke der Brotverteurer mit unterläuft, hier nicht weiter beleuchtet werden. So geistig verwahrlost ist schließlich niemand, um diese beredte und durchsichtige Auseinandersetzung, die den Freihandel schon auf Herz und Nieren zu prüfen wusste, da er noch jung war und seine Lenden gürtete, um „im Interesse der arbeitenden Klassen" die Welt zu erobern, nicht verstehen zu können. Aber neben der absichtlichen Fälschung und Verdrehung läuft allerdings ein gutes Stück unabsichtlichen Missverständnisses mit unter. Dieses Missverständnis erklärt sich aus der zwerghaft verkrüppelten oder, wie Lassalle es einmal nennt, „vermickerten" Form, die der Klassenkampf in Deutschland trägt, soweit er sich innerhalb der herrschenden Klassen selbst vollzieht. Es wäre so komisch, Herrn Eugen Richter mit Bright, wie Herrn v. Kleist-Retzow mit Lord Ashley zu vergleichen. Eine nennenswerte Agitation haben die Freisinnigen sowenig für die Abschaffung der Getreidezölle jemals auf die Beine gebracht wie die Konservativen für die Einführung des gesetzlichen Arbeitstages. In dem „wirtschaftlichen Kartell" des Reichstags, welches der Novelle zur Gewerbeordnung die letzten Zähne ausbrach, die das Unternehmertum verletzen konnten, tagten unsere Lord Ashleys munter mit, und nachdem die Rede des Reichskanzlers vom 1. d. M. unseren Brights die glänzendste Gelegenheit geboten hatte, sich endlich einmal in den Vorkampf für eine große Frage des Volkswohls zu stürzen, wiegeln diese bedächtigen Staatsmänner langsam ab. Eben jetzt läuft eine Notiz durch die verhältnismäßig noch radikalsten Organe der bürgerlichen Linken, wonach Herr v. Caprivi „Veranlassung genommen" hat, „hervorragenden freisinnigen Abgeordneten" mitzuteilen, dass die Furcht vor einer Schädigung der handelspolitischen Verhandlungen die Regierung zu ihrer schroffen Stellungnahme gegen die Beseitigung oder Ermäßigung der Getreidezölle veranlasst habe. Es ist um was in aller Welt nicht abzusehen, was für ein innerer Zusammenhang zwischen den handelspolitischen Verhandlungen mit Österreich-Ungarn und anderen Staaten einer- und einer augenblicklichen Aufhebung der Getreidezölle angesichts eines drohenden Notstandes andererseits besteht, und die freisinnigen Organe, welche jene Notiz veröffentlichen, gestehen selber ein, dass sie diesen Zusammenhang nicht entdecken können. Aber sie finden es „immerhin beachtenswert, dass man in Regierungskreisen das Bedürfnis, nach dieser Richtung hin Aufklärungen zu geben, gefühlt hat", und an diesem Stolze des armen Teufels darauf, dass solch ein großer Herr ihm auf die Schulter geklopft und einer „vertraulichen" Mitteilung gewürdigt hat, wird die freisinnige Agitation gegen die Getreidezölle eine unübersteigliche Schranke finden, es sei denn, dass sie im Landtage den Brotverteurern noch ein rasselndes Wortgefecht liefert.

Aus solcher Lage der Dinge erklärt es sich unschwer, weshalb in Deutschland, sogar oder vielmehr gerade in den „gebildeten Klassen", das historische Verständnis für Kundgebungen, wie die Rede von Marx über den Freihandel oder den Aufsatz von Engels über die Zehnstundenbill, völlig fehlt. Weil Marx gründlich den Irrtum zerstört, dass der Freihandel nur um der arbeitenden Klassen und nicht vielmehr um der großen Industrie willen die Abschaffung der Getreidezölle verlange, und weil er ebenso gründlich nachweist, dass bei der unumschränkten Herrschaft der großen Industrie unter Umständen billiges Brot den Arbeitern teuerer zu stehen kommen kann als teueres Brot, deshalb soll Marx ein Schwurzeuge sein für die hohen Getreidezölle, welche augenblicklich den deutschen Arbeitern jeden Bissen Brot in nahezu unerschwinglicher Weise verteuern! Eine solche Illusion oder ein solcher Humbug oder, was wohl am richtigsten ist, eine solche Mischung von Illusionen und Humbug ist in der Tat nur möglich in einem Lande, dessen herrschende Klassen ihre inneren Kämpfe nicht mehr in einigermaßen großem Stile zu führen wissen, weil sie, die einen wie die anderen, an Haupt und Gliedern gelähmt sind aus panischem Schrecken vor der Arbeiterklasse.

Während in England die Kämpfe der herrschenden Klassen selbst den Plan ebneten für den großen Entscheidungskampf zwischen den besitzenden Klassen hier und den arbeitenden Klassen dort, müssen die deutschen Arbeiter auch noch diese vorbereitende Arbeit auf sich nehmen. Ihnen wird kein Bright oder Cobden die Beseitigung der Getreidezölle, ihnen wird kein Lord Ashley oder R. Oastier die Einführung des gesetzlichen Arbeitstags erkämpfen. Aber die dadurch scheinbar eintretende Erschwerung und Verlangsamung ihres Emanzipationskampfs wird tatsächlich zu einer Erleichterung und Beschleunigung desselben. Denn indem die deutschen Arbeiter die Lösung der Kulturaufgaben auf sich nehmen, welche die geschichtliche Entwicklung eigentlich den besitzenden Klassen zuweist, fassen sie alle Lebenskraft des Volks nur um so fester in sich zusammen, und ziehen sie alle gesunden Elemente desselben nur um so unwiderstehlicher an sich heran.

Und wie sie am 1. Mai in gewaltigen Massen für den gesetzlichen Arbeitstag eingetreten sind, so haben die Arbeiter von Berlin am 5. Juni in acht großen Versammlungen ihre mächtige Stimme gegen die Getreidezölle erhoben. In acht Versammlungen, deren kleinste – wenn eine kleiner war als die andere! – noch unendlich mehr war, als die um Richter oder die um Stoecker bei höchster Anstrengung an eigener Initiative der Massen aufbieten können. Diese Arbeiterversammlungen waren das einzige Ereignis der Woche, welches sich einer ausführlichen Betrachtung lohnt.

Denn was soll man zu dem nationalliberalen Parteitage sagen, der in Berlin tagte und sich über seine Ziele so klar wurde, dass die nationalliberale Presse in erbaulichem Streite darüber liegt, ob er bismärckisch oder antibismärckisch gewesen sei? Oder zu dem freisinnigen Parteitage in Frankfurt a. M., auf dem Herr Bamberger in der üppigen Phantasie schwelgte, die Freisinnige Partei sei die Partei der Zukunft, denn Nationalliberale, Ultramontane und – Sozialdemokraten kristallisierten sich allmählich an sie heran? Sonderbarer Schwärmer, der, um noch einmal Lassalle zu zitieren, „Frühlingswehen und Knospendurchbruch" in sich verspürt, weil er „in naiver Verwechslung das Ende einer Periode für ihren Anfang nimmt"! Ende und Anfang – so mag sich in der Tat ihrer inneren Wucht nach die Opposition verhalten, welche die deutschen Freihändler drüben und die deutschen Arbeiter hüben den Getreidezöllen machen.

2 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: Ebenda, Bd. 3, S. 430: „Er hat diese ‚einzige' Manier des Selbstgenusses von Feuerbach gelernt, aber leider steht sie ihm nicht besser an wie seinem Grauen das Lautenschlagen."

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