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Franz Mehring 18920504 Feudaler Millionenhunger

Franz Mehring: Feudaler Millionenhunger

4. Mai 1892

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Zweiter Band, S. 193-197. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 10-15]

Der Feudalgeist fühlt die ihm so knapp zugemessene Zeit – und greift schnell noch mit beiden Händen von neuem in die Taschen des Volkes, um noch vor dem Hahnenschrei durch eine neue Gewalt seinen feudalen Besitz in bürgerlichen zu verwandeln." An diesen Satz Lassalles wird man unwillkürlich erinnert durch ein Schriftstück, das die ehemals reichsunmittelbaren Großgrundbesitzer des preußischen Staats an das Abgeordnetenhaus gerichtet haben. Diese würdigen Männer fühlen sich durch das neue Einkommensteuergesetz schwer gekränkt; sie sträuben sich, wie jeder andere Staatsbürger zu den öffentlichen Lasten herangezogen zu werden; formell zwar wollen sie auf ihr Privileg der Steuerfreiheit verzichten, aber materiell verlangen sie dafür eine Entschädigung, aus deren Renten sie nicht nur ihre Einkommensteuer in alle Ewigkeit bestreiten, sondern auch noch daneben einen hübschen Profit in die Taschen stecken können. Gerade ein Dutzend dieser „Edelsten" versteigt sich zu der nicht verschämten Forderung; nur der dreizehnte, der Fürst zu Stolberg-Wernigerode, hat sich dem dreisten Attentat auf die „Taschen des Volks" ferngehalten.

Freilich – der Appetit kommt beim Essen, und man muss der preußischen Regierung, insbesondere aber dem Finanzminister Miquel, den Vorwurf machen, dass sie alte und eben nicht die schlechtesten Überlieferungen des preußischen Staats in trauriger Weise vernachlässigt haben, indem sie die ehemals reichsunmittelbaren Großgrundbesitzer überhaupt für die Beseitigung ihrer bisherigen, verfassungswidrigen Steuerfreiheit entschädigen wollen. In dem Gesetze vom 27. Oktober 1810 über die Abgabeneinrichtung und die Finanzen des Staats heißt es: „Auf dem kürzesten Wege wird daher auch ein neues Kataster angelegt werden, um die Grundsteuer darnach zu bestimmen. Unsere Absicht ist dabei keineswegs auf eine Vermehrung der bisher aufgekommenen gerichtet, nur auf eine gleiche und verhältnismäßige Verteilung auf alle Grundsteuerpflichtigen. Jedoch sollen alle Exemtionen wegfallen, die weder mit der natürlichen Gerechtigkeit noch mit dem Geiste der Verwaltung in anderen Staaten länger vereinbar sind. Die bis jetzt von der Grundsteuer befreit gebliebenen Grundstücke sollen also ohne Ausnahme damit belegt werden, und wir wollen, dass es auch in Absicht auf unsere eigenen Domanialbesitzungen geschieht. Wir hoffen, dass diejenigen, auf welche diese Maßregel Anwendung findet, sich damit beruhigen werden, dass künftig der Vorwurf sie nicht weiter treffen kann, dass sie sich auf Kosten ihrer Mituntertanen öffentlichen Lasten entziehen." So die preußische Gesetzgebung von 1810, die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung, mit der Herr Miquel und seine Freunde seit Jahrzehnten so entsetzlich viel herum zu renommieren pflegen, freilich nur, um ihre schwachen Seiten ebenso getreu abzuklatschen, wie ihre starken Seiten heldenhaft zu verleugnen. Weshalb behandelt Herr Miquel nicht die Einkommensteuerfreiheit des hohen Adels nach denselben Grundsätzen, nach denen Hardenberg die Grundsteuerfreiheit des gesamten Adels zwar nicht behandelt hat – denn bekanntlich haben die „Edelsten" die Ausführung des Gesetzes von 1810 zu hintertreiben gewusst –, aber doch behandeln wollte? Oder ist Herr Miquel der Ansicht, dass der preußische Staat immer erst ein Jena erleben muss, ehe in seiner Gesetzgebung die „natürliche Gerechtigkeit" und der in den europäischen Kulturstaaten längst durchgedrungene „Geist der Verwaltung" zu seinem Rechte gelangen darf?

Genug: Herr Miquel will den ehemals reichsunmittelbaren Großgrundbesitzern den 13⅓-fachen Betrag der von ihnen jährlich aufzubringenden Einkommensteuer als Entschädigungskapital zubilligen, und er beziffert dies Kapital, vermutlich zu niedrig, auf 2.700.000 Mark, die aus den „Taschen des Volks" geholt werden sollen, um die Reichsten der Reichen noch ein wenig reicher zu machen. Aber damit sind die mediatisierten Biedermänner noch längst nicht zufrieden. Sie beanspruchen das 29fache des Steuerbetrags als Entschädigung; ferner verlangen sie eine kapitalisierte Entschädigung für die Einkommensteuer, welche sie aus persönlichen Gehältern und Pensionen zu zahlen haben; endlich bestreiten sie dem Staate überhaupt das Recht, das Entschädigungskapital durch Gesetze zu bemessen. Gänzlich ermangelnd jener Noblesse, welche das Gesetz von 1810 wohlwollenderweise bei dem Adel voraussetzte, erklären sie es für ein unveräußerliches Vorrecht ihrer „Häuser", auf Kosten ihrer „Mituntertanen" sich öffentlichen Lasten zu entziehen, und denken sogar großartig genug, sich selbst das Recht des Verzichts auf jenes Vorrecht abzusprechen. Denn nicht sie, sondern ihre „Häuser" seien Eigentümer ihrer Rechte und ihres Vermögens; als augenblickliche Verwalter dürften sie aber der Zukunft nichts vergeben. Welch antike Großartigkeit der Gesinnung! Man begreift eigentlich nicht, wie diese ehernen Charaktere daran denken können, auch nur auf das 29fache Entschädigungskapital abzuschließen, indessen sie glauben es wohl vor den Raugrafen noch der fernsten Zukunft verantworten zu können, dass sie ein ehrwürdiges Recht um einen so fetten Profit losgeschlagen haben, und da sie ihre Rasse kennen müssen, so wagen wir nicht zu widersprechen.

Nur eins scheint uns etwas bedenklich: das prahlende Hervorschleifen ihrer „Häuser". Damit sollten die „Edelsten" wirklich etwas vorsichtiger sein, denn die Geschichte dieser „Häuser" füllt das unsauberste Blatt der deutschen Geschichte, und so geduldig der preußische Steuerzahler auch immer sein mag, so könnte ihm doch vielleicht die Galle überlaufen bei dem Gedanken, dass er wieder einmal soundso viel Millionen wegwerfen soll für den Glanz von „Häusern", die über seine Vorfahren so unsäglich viel Elend, Jammer und Schande gebracht haben. Diese „Häuser" bildeten vor hundert Jahren die verächtlichste und verkommenste Klasse des Reiches. Was sie waren, sagt ein so loyaler Geschichtsschreiber wie Häußer mit den dürren Worten: „Kleine Tyrannen, Jagdwüteriche und Bauernquäler, oder auch Persönlichkeiten, die in Trunk und Unsittlichkeit auf die traurigste Weise verkommen waren." Und ein zeitgenössischer Schriftsteller schreibt: „Die jungen Herren verschwenden ihre Kräfte zu bald, halten den Ehestand nicht heilig und erzielen entweder keine rechtmäßige oder nur eine schwächliche Nachkommenschaft, welche von Generation zu Generation abnimmt und endlich gar verlöscht." Nun, mit dem „Verlöschen" war es leider nicht so arg, sei es, dass ein Kutscher oder Reitknecht wenn auch nicht auf eine heilige oder rechtmäßige, aber doch auf eine sehr natürliche Weise für den nötigen Nachwuchs sorgte, sei es, dass überhaupt viel zu viel dieses Unkrauts auf deutschem Boden wucherte, als dass der Untergang von ein paar Dutzend „Häusern" besonders zu merken gewesen wäre. Ein Verdienst hatte die verworfene Klasse allerdings: Sie erinnerte die Welt daran, dass es noch ein Deutsches Reich gab, indem sie durch ihre schauderhaften Schandtaten und Verbrechen die oberste Reichsgewalt gelegentlich auf die Beine brachten. Der Kaiser Josef II. ließ in mehreren Fällen diese kleinen Tyrannen durch reichshofrätliche Erkenntnisse unschädlich machen.

Aber wie arg hatten sie es treiben müssen, bis sie eine immer noch sehr gelinde Strafe traf! Der Graf von Leiningen-Guntersblum wurde wegen „schreckbarer Gotteslästerung, attentierten Mordes, Giftmischerei, Bigamie, Majestätsbeleidigung, Bedrückung seiner Untertanen und unerlaubter Misshandlungen fremder, auch geistlicher Personen" verhaftet und entsetzt. Der Wild- und Rheingraf Karl Magnus ward wegen „der von ihm selbst eingestandenen Betrügereien, unverantwortlichen Missbrauchs der landesherrlichen Gewalt und vielfältig begangener, befohlener und zugelassener Fälschungen" eingesperrt. Der Graf von Wolfegg-Waldsee wurde wegen „ahndungswürdigen Betragens ernstgemessenst verwiesen und zur wohlverdienten Strafe" auf zwei Jahre nach Waldburg in Verwahrung gebracht. Der Graf von Sayn-Wittgenstein musste wegen seiner „unanständigen, einen landesverderblichen Missbrauch der Landeshoheit involvierenden Grundsätze" eine Geldstrafe zahlen. Und so weiter. Es ist richtig, dass hin und wieder ein tüchtiger Charakter in der verrotteten Gesellschaft auftauchte, aber diese sehr seltenen Ausnahmen wurden, in natürlicher Rückwirkung des Ekels, den ihnen ihre infame Umgebung einflößte, gerade die heftigsten Gegner ihrer Klasse oder doch der Vorrechte, welche sie besaß. So der Freiherr von Stein, in dessen Geiste das preußische Gesetz am 27. Oktober 1810 erlassen wurde; er war bekanntlich ein glühender Hasser der Winkeltyrannen. So der Graf Stolberg mit seinem Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert, worin er prophetisch den Freiheitstod zweier Stolberge besang: „Der Tyrannen Rosse Blut, der Tyrannen Knechte Blut, der Tyrannen Blut, der Tyrannen Blut, der Tyrannen Blut färbte, rauschender Strom, deine blauen Wellen." Beiläufig ein Beweis dafür, dass die Dichter nicht immer Seher sind. Denn an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts bewundern wir es, gewöhnt an den sonstigen Gemeinsinn des deutschen Adels, schon als einen Opfertod für das Vaterland, wenn wenigstens ein Stolberg sich an dem 13⅓-fachen Entschädigungskapital für die Erfüllung seiner Steuerpflicht genügen lässt.

Es war ein unvergessliches Verdienst der Französischen Revolution und ihres Erben Napoleon, mit diesem souveränen Gesindel aufzuräumen. Seine Wiederherstellung war nach der Niederwerfung Napoleons unmöglich, mehr noch durch die Fortschritte der ökonomischen Entwicklung, als durch den sonst ja auch recht festen Riegel, den der Landhunger der größeren deutschen Teilfürsten vorschob. Aber die entthronten „Brüder, Vettern und Onkel" mussten möglichst entschädigt werden und – versteht sich – aus den „Taschen des Volks". Am unrühmlichsten verfuhr dabei der preußische König Friedrich Wilhelm III., so dass selbst der einzige Bewunderer und Verehrer dieses genialen Herrschers, der Hofgeschichtschreiber v. Treitschke, einen leisen Tadel nicht ganz zu unterdrücken vermag. Während in Bayern und Württemberg die ehemals Reichsunmittelbaren, durchweg außerordentlich reiche Leute, doch einigermaßen zu den allgemeinen Lasten herangezogen wurden, betrachtete es nach Treitschke „der König von Preußen für eine fürstliche Ehrenpflicht, das den Entthronten widerfahrene Unrecht zu sühnen, und erließ schon am 21. Juli 1815 eine Verordnung, welche weit über die Verheißungen der Bundesakte hinausging und den Mediatisierten, fast allzu großmütig, sehr bedeutende Vorrechte, sogar die Befreiung von allen direkten Steuern gewährte". Es scheint in der Tat, dass diese Großmut die Kräfte des Königs gänzlich erschöpft hat, denn an die „fürstliche Ehrenpflicht", sein Verfassungsversprechen einzulösen, hat er bekanntlich nie gedacht, obwohl die unerhörten Opfer, die von der preußischen Bevölkerung für die Rettung seiner Krone gebracht worden waren, auch ein weniger zart besaitetes Gewissen tagtäglich daran hätten erinnern müssen.

Kam die Revolution vom 18. März und die oktroyierte preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848, deren vierter Artikel lautet: "Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Standesvorrechte finden nicht statt." Damit war die Steuerfreiheit der ehemals reichsunmittelbaren Großgrundbesitzer endgültig beseitigt. Selbst das Obertribunal konnte nicht daran rütteln. Aber es war die Zeit, von der zehn Jahre später der Vizepräsident des höchsten preußischen Gerichtshofs im Herrenhause so schön sagte: „Die Rechtserschütterungen, die durch das Land gingen, waren allerdings geeignet, die Jurisprudenz in Verlegenheit zu bringen, und sie brauchte einige Zeit, sich zu orientieren." Im Jahre 1854 war sie so weit „orientiert", dass die Landratskammer einen Gesetzentwurf des Ministeriums Manteuffel genehmigte, wonach Artikel 4 der Verfassung der Wiederherstellung der Vorrechte, die vordem den Mediatisierten eingeräumt gewesen waren, nicht entgegenstände. Dieser Beschluss war ebenso rechtswidrig wie sinnlos, denn kein gesetzgebender Körper kann aus den klaren Sätzen: „Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Standesvorrechte finden nicht statt", etwas anderes machen, als was sie besagen. Eine Abänderung der Verfassung wagte man bei alledem nicht, und die Steuerfreiheit der Mediatisierten wurde nicht einmal, wie es das Gesetz von 1854 vorschrieb, durch königliche Verordnung, sondern durch eine nicht publizierte Kabinettsorder wiederhergestellt, so dass sie selbst dann noch nicht einmal formal zu Rechte bestanden hätte, wenn man die Verhöhnung der unzweideutigen Verfassungsvorschrift durch die Landratskammer als statthaft hätte ansehen wollen.

Auf alles dies kommt es überhaupt im Wesen der Sache gar nicht an. In der Wiener Bundesakte ist den Mediatisierten die Steuerfreiheit nicht verheißen worden; damit fehlt ihnen auch der Schein des Rechts, in dieser Frage gewissermaßen als Macht zu Macht mit dem preußischen Staate zu verhandeln. Sie haben sich, wie jeder „Mituntertan", der verfassungsmäßigen Gesetzgebung dieses Staats zu fügen, und wenn das durch die gesetzgebenden Faktoren beschlossene und ordnungsmäßig veröffentlichte Einkommensteuergesetz ihre Steuerfreiheit beseitigt, so helfen ihnen alle früheren Privilegien nichts, selbst wenn sie verfassungsmäßig so unanfechtbar wären, wie sie es nicht sind. Auf die Zumutung des Herrn Miquel, diesen Leuten für die Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten noch Millionen in die Tasche zu stecken, kann man nur mit Lassalle antworten: „Wenn eine Staatsregierung die unbegreifliche Schwäche hat, einen solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich auf das Souveränitätsrecht des Staats, und wenn eine Kammer pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamieren!" Allein – und das kennzeichnet wieder einmal treffend die preußischen Zustände – der feudale Millionenhunger ist noch nicht einmal mit den reichen Spenden des Herrn Miquel gesättigt und schreit nach weit mehr als dem Doppelten.

Mit welchem Erfolge? Warten wir's ab! Säßen Männer im preußischen Landtage, die auch nur vom bürgerlichen Standpunkt die Rechte des Volkes wahrzunehmen gewillt wären, so würden sie den Gesetzentwurf des Herrn Miquel einfach dem Papierkorbe überantworten. So aber – werden sich die preußischen Steuerzahler beglückwünschen können, wenn sie für die Raugrafen der Gegenwart und Zukunft nicht noch mehr bluten müssen, als Herr Miquel ihnen zumutet.

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