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Franz Mehring 18930201 Bürgerlicher Parlamentarismus

Franz Mehring: Bürgerlicher Parlamentarismus

1. Februar 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 617-620. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 29-33]

Der Niedergang des deutschen Parlamentarismus spricht sich vielleicht in keiner andern Tatsache so beredt aus wie darin, dass es augenblicklich; mitten in der Hochflut der parlamentarischen Jahreszeit, kaum minder an politischem Stoffe fehlt als in den schwülsten Tagen des Sommers. Die einzige Frage, welche die Gemüter einigermaßen erregt und sie freilich bei einem gesunden Zustande der Dinge im tiefsten Grunde erregen müsste, die Militärfrage, verschlammt in der Kommission; jeder politische Kopf weiß, dass die beiden kampfesmutigen Löwen, die brüllend drohen, einander bis auf die Schwänze aufzuzehren, nur deshalb mit ihren Schwänzen so fürchterliche Räder schlagen, weil sie sich schließlich angesichts des bis auf den Tod gelangweilten Publikums friedlich nebeneinander legen wollen. Was aber sonst im Reichs- und Landtage verhandelt wird, das sind olle Kamellen, das ist hundertmal schon durchgedroschenes Stroh. Namentlich im Reichstage mit seiner chronischen Beschlussunfähigkeit sieht es ganz jammervoll aus, und wenn nicht die sozialdemokratischen Hechte ein bisschen Bewegung in diesen versumpften Karpfenteich brächten, so stände die hohe Körperschaft kaum noch auf der Höhe jener kleinen, schläfrigen Bezirksvereine, in denen der freisinnige Philister von Berlin eine treffliche Einrichtung schätzt, um einmal in der Woche über seinen gewöhnlichen Nachturlaub hinaus ein paar Stunden Skat klopfen zu dürfen. Mit den Arbeiterversammlungen kann der Reichstag schon längst keinen Vergleich mehr aushalten, es sei denn, dass er mit seiner „Kunst" parlamentarischer Beredsamkeit prangen will, die tatsächlich auf ein bisschen weitläufiger Schwatzgewandtheit hinausläuft, aber in der proletarischen Welt, wo Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vorträgt, freilich nicht heimisch ist.

Um so freudiger durfte man nun aber überrascht sein, als heute die bürgerliche Presse von rechts und links mit lauten Tamtamschlägen verkündete, im Reichstage sei wieder eine „Tat" geschehen, eine Tat zudem, durch die ein St. Georg der Bourgeoisie den Lindwurm der Sozialdemokratie abermals in den Sand gestreckt habe. Weshalb sollten wir darüber auch nicht eine gewisse Genugtuung empfinden! Ein bisschen ist unsereins ja auch verantwortlich für den bürgerlichen Parlamentarismus, nach dem das Ausland nun einmal die Kulturhöhe der deutschen Nation einschätzt, und man nimmt schon gern mit einem derben Puff von einem Landsmann vorlieb, wenn dieser Puff sonst nur die Kraft deutscher Hiebe bezeugt. Also gingen wir mit den günstigsten Vorurteilen an die Lesung dessen, was Herr Bachem gegen die Sozialdemokratie gepaukt hatte. Aber Herr des Himmels! was fanden wir! Einen Helden, rasch und stolz, der sich auf dem papierenen Schaukelpferde von Herrn Eugen Richters „Sozialdemokratischen Zukunftsbildern" in sattem Behagen wiegte und, als er den lachenden Gegner auf sich zukommen sah, todesmutig das Hasenpanier ergriff. Die Sache war nämlich die, dass die sozialdemokratischen Redner die Regierung wie die bürgerlichen Parteien wegen der dreisten Ableugnung des herrschenden Notstandes vollständig eingekreist hatten. Da stürzte sich Herr Bachem, ein wahrer Struthan Winkelried1, in die dräuenden Spieße der Feinde, um dem Kapitalismus wieder eine Gasse zu bahnen – oder er tat wenigstens so. Denn wie hätte der Kapitalismus diesen kostbaren Helden preisgeben dürfen? Kaum war er an die Spieße gelangt, als das Heer der Hasen den tollkühnen Löwen schützend umringte. Die Debatte sollte geschlossen werden, ehe ein sozialdemokratischer Redner auf die unverschämten Herausforderungen des Herrn Bachem antworten konnte. Freilich, das Heldenstücklein glückte nicht, dank der Verkommenheit des deutschen Parlamentarismus, der kein beschlussfähiges Haus mehr zusammenzubringen vermag. Von sozialdemokratischer Seite wurde durch Feststellung der Beschlussunfähigkeit die Annahme des Schlussantrages gehindert, und Herr Bachem darf nun also doch seines Lohnes gewärtig sein.

Es liegt uns fern, ihm sein trauriges Los noch zu erschweren. Wenn diese Zeilen das Licht der Welt erblicken, wird er in einem stillen Winkel sitzen, seine Beulen und Wunden kühlend, und in dieser heilend-heilsamen Beschäftigung möchten wir ihn um keinen Preis stören. Aber für die geistige Verkommenheit des bürgerlichen Parlamentarismus ist die Episode zu bezeichnend, als dass wir nicht ein wenig dabei verweilen sollten. Man denke über die Ursachen des herrschenden Notstandes im Einzelnen, wie man will, aber er ist jedenfalls ein Produkt der heutigen Gesellschaft. Es steht allein auf ihrem Konto, dass Hunderttausende von arbeitskräftigen und arbeitswilligen Menschen keine Arbeit finden können und elend umkommen müssen. Eine Gesellschaft, die nur noch eine Spur von Glauben an sich selbst hätte, würde alles daran setzen, um ein so furchtbares Zeugnis dafür, dass sie zum Untergange reif ist, aus der Welt zu schaffen; sie würde sich lieber der lebensgefährlichsten Operation unterziehen, als in grauenvoller Fäulnis elend dahin zu sterben; sie würde mindestens, wenn sie das Übel nicht an der Wurzel auszurotten vermöchte, Millionen aus dem Fenster werfen, um die Hungrigen zu sättigen und die Nackten zu kleiden. Aber der bürgerliche Parlamentarismus will nicht einmal dieses, geschweige denn jenes; er leugnet mit dreister Stirn den Jammer, der auf Märkten und Gassen zum Himmel schreit, und wenn er nun mit der Nase so darauf gestoßen wird, dass er nicht mehr leugnen kann, dann stellt er sich mit den pathetischen Gebärden der verfolgten Unschuld hin und ruft empört: was? ihr wagt die eiternden Geschwüre am Körper der bürgerlichen Gesellschaft aufzudecken, und ihr wisst doch nicht einmal zu sagen, wie die Schindeln auf den Dächern der sozialistischen Gesellschaft aussehen werden! Die Schindeln auf den Dächern, denn darum handelt es sich ja im Wesentlichen. Zwar sagt Herr Bachem, ein paar solcher Schindeln habe er in der sozialistischen Literatur entdeckt, aber was es sonst mit dieser Gesellschaft auf sich habe, das habe er nicht entdecken können, so sehr er den Sozialismus studiert habe mit heißem Bemühen. Herr Bachem ist ein glaubwürdiger Mann, aber wenn wir an der Wahrheit seiner Worte nicht zweifeln dürfen, so bleibt nur eins von beiden übrig. Entweder leidet er an einem Mangel geistiger Gaben, der sich zutreffend nur durch ein äußerst unhöfliches Wort aus dem unparlamentarischen Sprachschatze kennzeichnen ließe, oder er treibt eine schnöde Demagogie im Dienste des Kapitalprofits. Er hat in jeder sozialistischen Schrift gelesen, dass die sozialistische Gesellschaft sich entwickeln muss und wird als die einzige Rettung der Menschheit aus dem unaufhaltsamen Untergange der bürgerlichen Gesellschaft, und wenn Herr Bachem diese Ansicht nicht teilt, wozu er ja durchaus nicht verpflichtet ist, nun, so mag er nachweisen, dass die bürgerliche Gesellschaft eben nicht untergeht, dass sie ein wohnliches Haus für die Menschheit ist, dass sie jedem ihrer Angehörigen die Gelegenheit bietet, durch ehrliche Arbeit sich ein ehrliches Dasein zu sichern. Führt Herr Bachem diesen Nachweis, so braucht er sich um den Sozialismus weiter keine grauen Haare wachsen zu lassen, denn dann hat er ihn mausetot geschlagen. Aber den Sozialismus damit zu verhöhnen, dass er ehrlich bekennt, nicht wissen zu können, wie es nach hundert Jahren in der Welt aussehen wird, das heißt den Schäfer Thomas auf den Thron des Weltenschöpfers erheben, das heißt die Lessing und Schiller nachträglich für leichtfertige Schwätzer erklären, weil sie vor hundert Jahren die Fäulnis der feudalen Welt bekämpften, ohne zu wissen, dass wir heute im Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen leben. Nachträglich – denn die feudale Welt war trotz aller Fäulnis viel zu gescheit, um auf so – geistreiche Einfälle zu geraten wie der bürgerliche Parlamentarismus von heute.

Der steht wirklich geistig so tief, dass es schon ein bitteres Unrecht wäre, die bürgerliche Welt von heute als solche mit ihm zusammenzuwerfen. Wir haben viel an der bürgerlichen Wissenschaft auszusetzen, aber mit einer Reklame für Herrn Eugen Richters „Sozialdemokratische Zukunftsbilder", wie sie im Reichstage nun schon wiederholt und gestern wieder von Herrn Bachem ohne Widerspruch aus den bürgerlichen Fraktionen betrieben worden ist, hat sie sich nicht befleckt, den einzigen Herrn Adolph Wagner ausgenommen. Als wir vor Jahr und Tag an dieser Stelle und auch sonst die anmutige Mär von der Spar-Agnes ein wenig zergliedert hatten, da beglückwünschte uns brieflich ein namhafter Vertreter der bürgerlichen Ökonomie, natürlich nicht zu der spielend leichten Kritik so blühenden Unsinns, sondern zu dem Heroismus, womit wir uns durch die ganze Scharteke des Herrn Richter durchgewürgt hätten, während ihn der Ekel über so viel Unwissenheit und Verlogenheit nur etwa bis zur fünften Seite habe kommen lassen. Und eine bürgerliche Wochenschrift, die „Grenzboten", wies glaubhaft nach, dass jeder Quartaner, der einen Aufsatz in dem „populären" Stile des Herrn Richter ablieferte, das Heft immer rechts und links von seinem Lehrer um die Ohren geschlagen bekommen würde. Wir erinnern daran natürlich nicht, um Herrn Richter zu kränken; im Gegenteil, wir würdigen ihn und seinen Stil viel tiefer als früher, denn er hat uns inzwischen in seinen famosen „Jugenderinnerungen" erzählt, dass sein erster Tatendrang beim Eintritt ins bürgerliche Leben ein heftiger Kitzel gewesen sei, die auf der Schule gelesenen Klassiker, die sonst den gebildeten Mann der bürgerlichen Klassen durchs Leben zu geleiten pflegten, eiligst zu vertrödeln, und am Ende kann der Mensch für seinen Stil sowenig wie für seine Nase. Aber als Gradmesser für die geistige Verkommenheit des bürgerlichen Parlamentarismus muss sein Pamphlet doch noch mal aus der Makulatur gezogen werden, wo wir sonst sein moderndes Dasein nicht weiter stören wollen.

Und eine Schindel vom Dache des Zukunftsstaats möchten wir Herrn Bachem auch noch zeigen. Er gehört zwar nur zu den bürgerlichen Parlamentariern „zweiter Garnitur", wie ihm sein nunmehr bewunderter Heros Richter einmal bescheinigte, aber seine gestrige Rede wird noch nach hundert Jahren gelesen werden; sie wird so ungefähr in dem Genre unsterblich werden wie das freilich viel ehrlichere und geistreichere Wort der Pompadour: Nach uns die Sintflut! Und glückliche Menschen werden dann die fossile Scherbe mit dem Gefühle betrachten: Ja, diese verschwundene Welt war wirklich verfault bis auf die Knochen, und jeder Schlag, der sie zertrümmert hat, traf den Nagel auf den Kopf.

1 Arnold Struthan Winkelried aus Stans bei Neuwied entschied nach der Überlieferung am 9. Juli 1386 in der Schlacht bei Sempach den Sieg der Schweizer über Leopold von Österreich. Struthan hier ironisch gebraucht wegen des Anklangs an Streit- oder Kampfhahn.

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