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Franz Mehring 18931004 Das dicke Ende

Franz Mehring: Das dicke Ende

4. Oktober 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 44-49]

Der Hurrapatriotismus, der im vergangenen Sommer die Militärvorlage bewilligte, fängt an, in das Stadium des Katzenjammers zu treten. Die Frage, wer den kostspieligen Spaß bezahlen soll, rückt mit jedem Tage ihrer Entscheidung näher, und die besitzenden Klassen geraten gemach aus dem holden Wonnetaumel des patriotischen Einklangs in eine wilde Katzbalgerei über jene Frage. Zwar dass sie selbst nicht zahlen wollen, versteht sich für alle bürgerlichen Parteien von selbst, von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, aber innerhalb dieses allgemeinen Rahmens heldenmütiger Entsagung bleibt doch noch eine Menge diffiziler Punkte übrig, wegen deren es sich schon lohnt, den Schweiß der Edlen zu vergießen.

Am wenigsten Kopfzerbrechen macht der bürgerlichen Welt dabei noch das im Sommer abgelegte Gelöbnis, dass diesmal nicht die arbeitenden Klassen die Zeche bezahlen sollen. Wenn freilich irgendwelcher Verlass auf feierliche Versprechungen hoch angesehener Minister und Parlamentarier sein soll, dann müsste jeder Gedanke an eine Besteuerung von Artikeln des Massenverzehrs mit inbrünstigem Abscheu von Regierung und Reichstag zurückgewiesen werden. Aber wir bringen es kaum übers Herz, im Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte an das überlebte Wort zu erinnern, dass Versprechen und Halten eigentlich einerlei sein sollten. Hierzulande ist es von jeher zweierlei gewesen; seit hundert Jahren und länger ist jede Vermehrung der preußischen Steuern als „Reform" eingeläutet worden, um angeblich die Armen auf Kosten der Reichen zu entlasten, und es wäre unbillig, dem neuen Kurse den Verzicht auf so ehrwürdige und liebe Gewohnheiten der ältesten Kurse zuzumuten.

Wer es wissen wollte, konnte es schon im Sommer wissen, dass von all jenen feierlichen Versprechungen nichts gehalten werden würde. Die klassenbewussten Arbeiter haben es auch gewusst und demgemäß ihre Wahl getroffen; mit denen aber, die nicht alle werden, braucht man gar nicht so viel Mitleid zu haben. Es gibt in allen Dingen eine Grenze, und so auch im Sich-nasführen-Lassen; einmal, zweimal, oder unsertwegen auch ein halb Dutzend Mal mag ein guter Mensch und schlechter Musikant betölpelt werden, aber wenn er dann noch immer nicht kuriert ist, so ist ihm wirklich nicht zu helfen. Das Maß sittlicher Entrüstung, das die freisinnige Presse über den „Wortbruch" ausschüttet, der in der so genannten Deckungsfrage begangen werden soll, vermögen wir nicht mobil zu machen; schon deshalb nicht, weil ebendiese Presse ein noch zehnmal stärkeres Hallo erheben würde, wenn die Kosten des neuen Militärgesetzes wirklich auf die „starken Schultern" abgewälzt, also etwa durch eine Reichseinkommensteuer aufgebracht werden sollten. Das einzige bisschen wirklicher Steuerreform, das Herr Miquel etwa vollbracht hat, die stärkere Heranziehung der besitzenden Klassen zur preußischen Einkommensteuer, fand auf liberaler Seite denselben und vielleicht einen noch lärmenderen Widerstand als auf konservativer, und man wird sich noch erinnern, welche Fülle von Schleichwegen die „Freisinnige Zeitung" zu entdecken wusste, um den Zweck der Selbsteinschätzung zu vereiteln.

Für politische Sentimentalitäten sind die Zeiten zu ernst, und statt die kleinen Leute zu bejammern, die ihr Vertrauen auf die bürgerliche Gesellschaft einmal wieder so bitter büßen sollen, muss man ihnen sagen: Ihr selbst habt es nicht anders gewollt, denn weshalb habt ihr euch bei den Wahlen zur bürgerlichen Gesellschaft bekannt? Macht doch dem Wolfe keinen Vorwurf daraus, dass er Schafe frisst; hört lieber selber auf, euch in den Rachen des Wolfes zu liefern, und ihr werdet mit heilen Gliedern davonkommen. Es gibt nur eine Partei, die der Belastung des Massenverzehrs einen unbeugsamen Widerstand entgegensetzt, und das ist die Sozialdemokratie; wer im vergangenen Sommer seine Stimme nicht für einen sozialdemokratischen Kandidaten abgegeben hat, der muss es sich jetzt auch gefallen lassen, dass ihm sein Glas Bier oder seine Pfeife Tabak verteuert wird. Mit den Schuldigen leiden allerdings auch die Unschuldigen, aber da sie beizeiten wussten, was kommen würde, so lamentieren sie jetzt auch nicht lange, sondern suchen durch Aufdeckung dessen, was ist, die gründliche Abwirtschaftung der bürgerlichen Gesellschaft zu beschleunigen. So wie es gekommen ist, so musste es kommen. Alles, was im vergangenen Sommer über die Abwälzung der neuen Militärlasten auf die „starken Schultern" geschwatzt wurde, war blauer Dunst, und wer sich von diesem blauen Dunst hat blenden lassen, der mag sich jetzt gefälligst selbst anklagen und sich nicht des Todes darüber verwundern, dass die Wölfe, solange sie Schafe finden, auch Schafe fressen und sich nicht freiwillig zum Hungertode verurteilen.

Aber bei aller Einstimmigkeit der besitzenden Klassen darüber, dass sie selbst nicht die neuen Steuern tragen wollen, gehen sie doch sehr weit auseinander in der Frage, wie die Massen am bequemsten geschoren werden können. Es gibt nicht allzu viele Gegenstände des Massenverzehrs, und darunter sind nur wenige, bei denen der Bogen nicht schon bis zum Zerspringen gespannt ist; welcher dieser wenigen Gegenstände aber bluten soll, das ist eine Frage, die unmittelbar zwar nur die arbeitenden Klassen ans Messer liefert, aber mittelbar doch auch für die besitzenden Klassen von wesentlicher Bedeutung ist. Es spielen da die mannigfachsten Interessen durcheinander: Interessen der Klassen, Interessen der Staaten, Interessen der Parteien und auch Interessen der Personen. Die da geschoren werden sollen, haben wenigstens noch den melancholischen Genuss, sich daran zu ergötzen, wie die, die da scheren wollen, sich gegenseitig auf allerlei krummen Schlichen ertappen. So wird der lodernde Feuereifer, womit die „Kreuz-Zeitung" im Interesse der westfälischen Tabakfabrikation und der darin beschäftigten Arbeiter gegen die Tabakfabrikatsteuer ins Feld zieht, von Herrn Miquels Organ mit der Glosse beleuchtet, dass Freiherr von Hammerstein in Herford-Halle zum Reichstage gewählt worden sei, nachdem ihn sein früherer Wahlkreis im Stiche gelassen habe, und dass Herr Stoecker sein Bielefelder Mandat in den nächsten Wochen gegen einen starken Angriff zu verteidigen haben werde. Dank vom Hause Österreich! kann diesmal die „Kreuz-Zeitung" sagen, die mehr als jedes andere Blatt Herrn Miquel zum genialen Finanzkünstler aufzupuffen bemüht gewesen ist. Aber mit noch schwererem Geschütze fällt ihr die „Post" in die Flanke mit der zerschmetternden Argumentation: Tabak oder Branntwein, das ist die Frage! Alles, was drum und dran hängt, Börsensteuer, Lotteriestempel, Weinsteuer, ist ein Brimborium, bestimmt, den Massen ein wenig Sand in die Augen zu streuen; es bringt nicht viel und jedenfalls lange nicht genug, um auch nur die Kosten der Militärvorlage zu decken, geschweige denn „eine Finanzreform in großem Stile" zu ermöglichen; wer aber den Tabak ablehnt, der ruft die Gefahr hervor, „dass der Branntwein wieder ernstlich in Betracht kommt" und „das sollte man im Interesse der Landwirtschaft vermeiden". Mit anderen Worten: Hütet euch, ihr Junkerlein von der „Kreuz-Zeitung", dass ihr nicht aus persönlichem Ehrgeiz die Klasseninteressen des Junkertums verletzt! Und der Wink mit dem Zaunpfahl wird seine Wirkung tun oder hat sie schon getan.

Dies ist eine Probe unter vielen aus dem Tohuwabohu, das in der bürgerlichen Presse über die Reichssteuerfrage herrscht. Urteilt man nach dem äußeren Anscheine, so sollte man meinen, aus diesem Wirrwarr gebe es keinen Ausweg; der ganze Lärm werde ausgehen wie das Hornberger Schießen. Selbstverständlich wäre das aber ein allergröblichster Irrtum. Denn erstens müssen die neuen Steuern geschafft werden, und zweitens wollen die besitzenden Klassen sie nicht auf ihre „starken Schultern" nehmen. Bleibt also als Drittes nur übrig, dass sich irgendeine Reichstagsmehrheit über irgendeinen Artikel des Massenverzehrs einigt, aus dem jährlich noch ein halbes Hundert Millionen Mark mehr herausgeschlagen werden kann. Und wir glauben, dass Herr Miquel ganz auf der richtigen Spur ist, wenn er es auf den Tabak abgesehen hat. Er ist nicht das, was die bürgerliche Presse einen genialen Staatsmann zu nennen pflegt; er kann auch nicht mehr, als der gescheiteste Finanzkünstler der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt noch kann: Nämlich, um ein großes Loch in ihrem Geldbeutel zu stopfen, ein noch weit größeres Loch in ihre Fundamente schlagen. Aber aus seiner kommunistischen Jugendzeit hat sich Herr Miquel einen scharfen Blick für die Machtverhältnisse der einzelnen Klassen gerettet, und er versteht es in seiner Art vortrefflich, die Dinge von vornherein so zu lenken, wie sie sich unter minder scharfsichtigen Finanzministern nur unter unendlichem Ächzen und Krächzen zurecht zu schieben pflegen. Von den drei morceaux de resistance, wie die „Post" so schön sagt, von den drei Gegenständen des Massenverzehrs, die für eine dem Appetit Molochs angemessene Anzapfung herhalten können: Bier, Branntwein und Tabak, ist diesem noch am leichtesten beizukommen. Gegen die Erhöhung der Biersteuer erhebt sich der zweitgrößte Bundesstaat, und der Reichskanzler hat sich der bayerischen Regierung bereits verpflichtet, auf diese „Reform" zu verzichten. Einer Regierung lässt sich aber, schon im gemeinsamen Herrschaftsinteresse, nicht so leicht ein X für ein U machen, wie annoch gläubigen Wählermassen. Zudem hat Bruder Preuß allen Anlass, sich in Süddeutschland nicht gar zu unbeliebt zu machen, und wenn an der Weinsteuer als einer „Luxussteuer" nebenbei festgehalten werden soll, so setzt es jenseits des Mains schon genug böses Blut. Vor dem Branntwein aber steht das preußische Junkertum mit gezücktem Schwert für Gott, König und Vaterland, und der neue Kurs scheut aus guten Gründen, mit dieser Klasse, die ihm schon wegen des russischen Handelsvertrags das Leben so sauer macht, in einer Kardinalfrage anzubinden. Bleibt also nur der Tabak, bei dessen höherer Belastung in erster Reihe Hekatomben von kleinen Leuten abgeschlachtet werden, die nach altem Rechte der misera contribuens plebs klanglos zum Orkus hinab gehen mögen.

So steuert Herr Miquel denn auf die Tabakfabrikatsteuer los, und die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" hat eben einige Grundzüge seines Planes veröffentlicht. Über den wichtigsten Punkt der ganzen Frage, die Höhe der Steuersätze, schweigt sich die offiziöse Zeitung noch fürsichtiglich aus, dagegen sucht sie die traurige Bescherung dadurch in günstigeres Licht zu stellen, dass sie eine möglichst gelinde Handhabung der Kontrolle und eine Abstufung der Steuersätze nach der Qualität verheißt, so dass die besseren Tabake mehr, die schlechteren weniger bluten sollen. Mit beiden Trostgründen ist es nun aber ungefähr ebenso weit her wie mit dem im vergangenen Sommer abgelegten Gelöbnis, dass die arbeitenden Klassen nicht die Kosten der Militärvorlage tragen sollen. Eine Kontrolle der Tausende von Kleinbetrieben, die noch in der Tabakfabrikation bestehen, ist gar nicht möglich, wenn nicht die Verwaltungskosten ins Unermessliche steigen sollen, und ebenso unmöglich ist die Abstufung der Steuersätze nach der Qualität, wenn die Verwaltung nicht in einem ganz aussichtslosen Kampfe mit massenhaften Unterschleifen unterliegen will. Darüber lassen die Erfahrungen, die mit der Tabakfabrikatsteuer in Russland gemacht worden sind, nicht den geringsten Zweifel. Wer mit der Bewilligung der Tabakfabrikatsteuer einmal A gesagt hat, der muss auch B sagen zu dem faktischen Monopol einer Minderzahl von reichen Tabakfabrikanten und C zu dem gleichen Steuersatze ohne Rücksicht auf die Qualität, also zur leichteren Belastung der starken Schultern auf Kosten der schwachen.

Sehr viel klarer und verständiger, als Herr Miquel in der offiziösen Presse, hat eine Versammlung von Tabakarbeitern, die am vergangenen Sonntag hier stattfand, die Tabakfabrikatsteuer in ihren sozialpolitischen Wirkungen gekennzeichnet. Diese Steuer wird die Tabakfabrikate erheblich verteuern und damit besonders den Verbrauch von Zigarren wesentlich einschränken. Sie wird die in der Tabakfabrikation noch zahlreich vorhandenen Kleinbetriebe sowohl durch die Verteuerung des Produkts als auch durch die mit ihr notwendig verbundene, äußerst komplizierte und belästigende steueramtliche Kontrolle gegenüber dem Großbetriebe ganz konkurrenzunfähig machen und zugrunde richten. Sie wird mindestens fünfzigtausend in der Tabakindustrie beschäftigte Arbeiter erwerbslos und dem noch verbleibenden Reste die ohnehin schon äußerst ungünstigen Lohn- und Erwerbsverhältnisse geradezu unerträglich machen. Alles das stimmt aufs Haar, aber gerade weil die Tabakfabrikatsteuer den arbeitenden Klassen am wehesten tut, ist sie am aussichtsreichsten für die offizielle Sozial- und Steuerreform.

Ein altväterisches Sprichwort sagt: Das dicke Ende kommt nach, aber für neudeutsche „Genialität" scheint diese hausbackene Weisheit nicht mehr zu gelten. Für jedes Loch, das Herr Miquel zustopft, reißt er ein weit größeres Loch in den zerschlissenen Mantel der kapitalistischen Gesellschaft, und dabei schafft er so seelenvergnügt, als legte er den Grundstein zu einer Pyramide, die vierzig Jahrhunderte überdauern soll. Ein Optimismus, der unbegreiflich sein würde, wenn er sich nicht häufig genug in der Geschichte an den Finanzmännern untergehender Staaten als eigentümliches Kennzeichen fände!

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