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Franz Mehring 18931206 Die Börsensteuer und die Sozialdemokratie

Franz Mehring: Die Börsensteuer und die Sozialdemokratie

6. Dezember 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 50-54]

Die ablehnende Haltung der Sozialdemokratischen Partei gegen die neue Börsensteuer wird von der bürgerlichen Presse aller Schattierungen zum Gegenstande heftiger Diatriben gemacht. Von der bürgerlichen Presse aller Schattierungen mit Ausnahme vielleicht der eigentlichen Börsenpresse, deren Beifall denn freilich nicht zu den wünschenswerten Dingen gehört. Aber wertlos, wie er sein mag, ist er um kein Haar weniger wertlos als das Gerede über die angeblich börsenfreundliche Haltung der Sozialdemokratie. In diesem Gerede spiegelt sich bestenfalls die schier unglaubliche Prinziplosigkeit wider, die in den bürgerlichen Parteien um sich gegriffen hat.

Nichts kann klarer sein, als dass eine Partei, die eine Sache um ihrer selbst willen verwirft, auch die Mittel zur Durchführung dieser Sache verwerfen muss. Der Ertrag der Börsensteuer ist erklärtermaßen zur Deckung der neuen Militärausgaben bestimmt. Somit wenn die Sozialdemokratische Partei aus triftigen Gründen das neue Militärgesetz verworfen hat, so ergibt sich daraus mit logischer Konsequenz, dass sie auch das neue Börsensteuergesetz verwerfen muss. Handelte sie anders, so würde sie wie ein politischer Narr handeln. Hierzu ist sie jedenfalls nicht verpflichtet. Dergleichen Bocksprünge überlässt sie denjenigen bürgerlichen Parteien, die nicht müde werden, sich am Narrenseile führen zu lassen.

Anders läge die Sache, wenn die Börsensteuer eingeführt werden sollte, um drückende Massensteuern zu ersetzen. Für diesen Zweck würde die Sozialdemokratische Partei die Börse gern bluten lassen. Das hat sie in Parlament und Presse mit hinreichender Deutlichkeit erklärt. Vorbehaltlich der Einzelheiten natürlich, die, wie in dem vorliegenden Gesetzentwurfe der Quittungsstempel, doch auch wieder eine unerträgliche Belastung des kleinen Massenverkehrs darstellen können. Welches Interesse sollte die Arbeiterklasse daran haben, die Börse zu schonen? Die Börse ist ein notwendiges Organ, in gewissem Sinne sogar das notwendigste Organ der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft; auf höchster Stufenleiter prägt sie alle Schwächen und Sünden dieser Gesellschaft aus. Sie ist das größte Schlachtfeld, auf dem sich die besitzenden Klassen um den der Arbeiterklasse ausgepressten Mehrwert raufen. Eine Besteuerung der Börse kostet dem Proletariat keinen Pfennig; wenn es eine Lebensmittelsteuer mit der Börsensteuer umtauschen kann, so würde es mit Freuden zugreifen. Aber die Arbeiterklasse hat das dringendste Bedürfnis sich zurückzuhalten, wenn der Militarismus, der ihr ohnehin Mark und Bein aussaugt, aus der Besteuerung der Börse, also aus dem von ihr selbst geschaffenen Mehrwerte, zu einem noch gefräßigeren Ungeheuer aufgepäppelt werden soll.

Ein Standpunkt, der durchsichtiger wäre, lässt sich kaum denken. Wenn trotzdem auch so genannte wohlmeinende Leute aus der Bourgeoisie über die sozialdemokratische Taktik gegenüber der Börsensteuer den Kopf schütteln, so ist das nur der Konfusion geschuldet, der wir überhaupt die besondere Spezies der „Wohlmeinenden" verdanken. Die Börse mit ihren tausend widerlichen Ausschreitungen bietet ein Bild, das für den „deutschen Idealismus" abschreckend genug ausschaut, und so ist er gleich mit der Berserkerlogik zur Hand, dass wer der Börse bei passender oder unpassender Gelegenheit nicht eins auswischt, von „deutscher Sittlichkeit" und nun gar von „deutscher Sozialreform" keine blasse Ahnung hat. Aber die „Wohlmeinenden", die so denken und sprechen, übersehen dabei, dass die Börse mit allen ihren noch so scheußlichen Seiten ein Miniaturbild der kapitalistischen Gesellschaft ist, dass sie mit dieser Gesellschaft steht und fällt. Die konsequenten Soldschreiber des Kapitalismus haben in ihrer Weise ganz Recht, wenn sie jede Belästigung der Börse verabscheuen als ein Attentat auf die ewigen und heiligen Grundgesetze der Volkswirtschaft. Ihr Irrtum besteht nur darin, dass sie eine vorübergehende Phase des historischen Entwicklungsprozesses für den natürlichen Urzustand der gesitteten Menschheit halten. Die sozialistische Auffassung stellt diesen Irrtum richtig, indem sie sagt: Mit der kapitalistischen Gesellschaft wird auch die Börse fallen, und indem wir die Axt an die Wurzel dieser Gesellschaft legen, führen wir den konsequentesten, rücksichtslosesten und übrigens einzig erfolgreichen Kampf gegen die Börse. Dagegen vom kapitalistischen Boden aus zwar nicht die Börse, aber ihre Ausschreitungen zu beseitigen, das ist ein ziemlich zweckloser Sport.

Ein ziemlich zweckloser Sport, denn wenn die „Wohlmeinenden" praktische Mittel anzugeben wüssten, wie die Ausschreitungen der Börse einzuengen seien, so ließe sich darüber ja wohl reden. Dass die Todeswehen der vergehenden und damit auch die Geburtswehen der entstehenden Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade abgekürzt werden können, ist schon von Marx hervorgehoben worden. Aber jeder ernsthafte Vorschlag, die Börse zu reformieren, setzt ein Verständnis für den inneren Zusammenhang zwischen der Börse und der kapitalistischen Gesellschaft voraus. Diese Voraussetzung fehlt den „Wohlmeinenden" ganz und gar. Sie möchten die Wirkung, nämlich das Börsenspiel, für ihr Leben gern beseitigen, aber die Ursache, nämlich die kapitalistische Gesellschaft, verteidigen sie als ein heiliges Palladium. So kommen sie denn mit allerlei äußerlichen Vexationen der Börse angezogen, die den Todeskampf des Kapitalismus nicht erleichtern, sondern so oder so erschweren würden. Und bei solchen Schnurrpfeifereien mitzutun, hat eine so klare und prinzipienfeste Partei; wie die Sozialdemokratie ist, gar kein Interesse. Am wenigsten in dem vorliegenden Falle, wo die neue Börsensteuer einzig zur Stärkung des Militarismus vorgeschlagen wird, der ohnehin schon mit unerträglicher Wucht auf den arbeitenden Klassen lastet.

Ärger als mit den „Wohlmeinenden" der liberalen Bourgeoisie steht es mit den Vertretern der politischen und sozialen Reaktion, die der Sozialdemokratie einen Strick daraus drehen möchten, dass sie die Börsensteuer ablehnt. Mit den sittlichen Tiraden dieser Leute über die Börse ist es nicht weit her. Selbst bei einem in vieler Beziehung so hoch stehenden Mann wie Rodbertus kam der Pferdefuß gar zu deutlich zum Vorschein, als er klagte, „dass, während alles versteuert ist, selbst der Schatten der Linde, unter der ich sommers sitze, die Börsengeschäfte steuerfrei sich kobolden dürfen", und als er den Staat aufforderte, sich „gegen diese Debauchen des jüdischen Teils der Gesellschaft" zu ermannen. Rodbertus tat diese Äußerungen in der Kritik eines Gesetzentwurfs über Stempelbesteuerung der Börsengeschäfte, den ihm ein geistreicher Gutsnachbar vorgelegt hatte, und seltsam! dieser Gutsnachbar, der Vater eines gegenwärtigen preußischen Ministers, erschoss sich ein paar Monate darauf wegen nicht einmal sehr bedeutender Verluste, die er in Börsenspekulationen mit „Rumäniern" erlitten hatte. Das kleine Vorkommnis zeigt deutlich, was es mit der sittlichen Entrüstung der Junker über die von der Börse genährte Spielwut auf sich hat. Ihr Groll gegen die Börse hat einen ganz anderen Ursprung, und zwar einen nichts weniger als sittlichen. Sie hassen die Börse wegen einer relativ guten Eigenschaft, wegen des starken Gegengewichts, das sie dem Wucher mit Lebensmitteln bietet. Mit Recht hat Bernstein in diesen Blättern schon vor ein paar Jahren ausgeführt: „Hinter dem Geschrei gegen die Kornbörsen steckt auf Seiten der Grundbesitzerpartei nichts als der fromme Wunsch, den Aufkauf und die Preistreiberei um so ungehinderter ins Werk setzen zu dürfen." Und diese Kastanien dem Junkertum aus dem Feuer zu holen, hat die Arbeiterklasse wohl keinen Anlass.

Seitdem der Kapitalismus die Spielwut entfesselt hat, ist sie unter den Junkern reichlich so feurig angebetet worden wie unter den Juden. Die adligen Reiteroffiziere, die in Hannover dem „ollen ehrlichen Seemann" die Hand drückten, konnten sich sogar auf den „Sonnenkönig" Ludwig XIV. berufen, der in seinem Schlosse zu Versailles vor dem reichen Juden Samuel Bernard den Hut zog. Schon Moliere verspottete in seinen Komödien den alten Adel, der die junge Börse zugleich hasste und bei ihr schmarotzte, und wie die vornehmsten Damen des französischen Hofes sich zu den von Rodbertus so oft in börsengegnerischem Sinne verwerteten „Mississippigeschäften" des Schotten Law drängten, davon hat Lassalle in seinem „Arbeiterprogramm" eine drastische Probe gegeben. Im Preußischen führte Friedrich II. gleich nach seiner Thronbesteigung, als sich die Berliner Börse noch in einem sehr unschuldigen Kindesalter befand, die Spielwut gesetzlich ein durch die Lotterie, deren Entreprise hohe Hof- und Staatsbeamte, wie die Grafen Eichstädt und Reuss, oder sonstige Adlige, wie der Baron von Geuder, übernahmen. In welchem Umfange sich in unserem Jahrhundert dann der adelige Großgrundbesitz, die Kardorff, Lehndorff, Ratibor, Ujest und so weiter, an Börsengründungen – und wie unsoliden dazu! – beteiligt hat, das ist noch in allgemeiner Erinnerung. Bei dieser Lage der Dinge wirkt es wirklich etwas heiter, wenn dergleichen Leute jetzt eine sittliche Maske aufstecken und gegen das Börsenspiel als eine Ausgeburt der Hölle eifern – zu eigenem Profit und zur besseren Täuschung der Massen.

Den Gipfel der Dreistigkeit, um einen unerlaubt milden Ausdruck zu gebrauchen, erstiegen in dieser Beziehung während des Sozialistengesetzes gewisse Sophisten und Sykophanten des Junkertums. Der Hofprediger Stoecker reiste damals im Lande herum mit der geistreichen Behauptung, die „Juden" Lassalle und Marx hätten den lieben Gott und den König angegriffen, um die Aufmerksamkeit der Massen von den Sünden der Börse abzulenken, die sie nie mit einem Worte zu tadeln gewagt hätten, und nach einer dieser tiefsinnigen Offenbarungen erklärte Professor Adolph Wagner, sein braver Bundesbruder verdiene dafür gleich einen Lehrstuhl der Volkswirtschaft an einer deutschen Universität. Über den Blödsinn selbst lohnt sich nicht weiter zu reden, und es ist auch anzuerkennen, dass die literarischen Lakaien des Junkertums seit der Beseitigung des Sozialistengesetzes in ihren Verkündungen etwas vorsichtiger geworden sind. Aber mit der angeblichen Abhängigkeit der Sozialdemokratie von der Börse wird auch jetzt noch in der reaktionären Presse mancherlei Unfug getrieben, und so können diese Krebse wohl einmal auf dem Feuer einiger historischen Erinnerungen gesotten werden, damit sie wenigstens so aussehen, als seien sie rot vor Scham.

Die Börse selbst täuscht sich natürlich keinen Augenblick darüber, wer ihr eigentlicher Todfeind ist. Daher die sonderbare Erscheinung, dass dies revolutionärste Werkzeug zur Umwälzung der heutigen Wirtschaftsordnung sich je länger je reaktionärer gebärdet. Aus Angst vor dem Sozialismus duckt sie sich kläglich unter den Militarismus. Wenn Moloch ihr zum Dank für diese Untertänigkeit am liebsten die Haut über die Ohren ziehen möchte, so mag ihr schon ganz recht geschehen. Aber was geht das die Sozialdemokratische Partei an? Will man die Massen durch eine Börsensteuer entlasten, so hat sie wiederholt erklärt, dabei zu sein, aber die Massen noch tiefer zu drücken dadurch, dass sie dem Militarismus gestattet, sich an der Börse oder sonst wo noch fetter zu mästen, das ist gewiss nicht ihre Sache.

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