Franz Mehring‎ > ‎1893‎ > ‎

Franz Mehring 18930111 Ein Menetekel

Franz Mehring: Ein Menetekel

11. Januar 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 521-524. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 24-28]

Seit gestern beginnt sich der politische Karren des Deutschen Reichs wieder in langsam knarrende Bewegung zu setzen; der Reichstag hat seine Weihnachtsferien beendet und der Landtag auch; in beiden Parlamenten sieht es freilich noch sehr öde und leer aus. Angenehme Beschäftigungen erwarten die Volksvertreter ja auch weder hier noch dort; im Reichstage die neuen Steuervorlagen und dahinter Molochs grinsendes Gespenst, im Landtage ein Defizit von etwa sechzig Millionen und eine monströse „Verbesserung" des monströsen Dreiklassenwahlgesetzes. Da soll einer noch mit Lust und Liebe den bürgerlichen Parlamentarier spielen! Und ehe die entscheidenden Würfel über die Militärvorlage fallen, wird wohl kein rechter Zug in das parlamentarische Leben kommen.

Diese Entscheidung selbst liegt nach wie vor im Ungewissen. Die Erfahrungen der parlamentarischen Ferien haben es etwas wahrscheinlicher, aber noch keineswegs gewiss gemacht, dass es zur Auflösung des Reichstags kommt. Die Neujahrsansprache des Kaisers ist in den endlosen Kannegießereien der Zeitungen darüber unmäßig aufgebauscht worden; es ist doch einfach selbstverständlich, dass der Kaiser zu einer Vorlage der verbündeten Regierungen steht, solange sie von diesen Regierungen selbst aufrechterhalten wird, und sein Quos ego! an die militärische Fronde ließe sich, wenn denn einmal seine Worte auf die Goldwaage gelegt werden sollen, am ehesten noch zugunsten eines parlamentarischen Kompromisses deuten. Denn die militärische Fronde richtet sich doch gegen die paar kleinen Zugeständnisse, womit die ungeheuerlichen Forderungen der Vorlage ein wenig beschönigt werden sollen, nicht aber gegen diese Forderungen an sich, sintemalen unter den heißhungrigen Anbetern Molochs seine Frondeure gerade die heißhungrigsten sind. Übrigens ist es auch ziemlich unklar, wie tief und wie weit die militärische Fronde geht und ob sie nicht überhaupt bloß, wie der heitere Antimilitarismus des Mannes in Friedrichsruh, eine Finte für ganz andere Zwecke ist. Bei einem ernsthaften Konflikt zwischen Krone und Militarismus hätte jedenfalls nicht dieser die Eventualität des „Zerschmettertwerdens" ins Auge zu fassen. So viel lehrt die Geschichte des preußischen Militärstaats auf jedem ihrer Blätter.

Wenn somit auf Seiten der Regierung die Möglichkeit eines Kompromisses noch immer nicht ausgeschlossen ist, so hieße es sehr berechtigte Wünsche zu einer sehr unberechtigten Gewissheit erheben, wenn man von irgendeiner Reichstagsmehrheit das Gegenteil behaupten wollte. Gewiss sind sie alle, bis zum schwachmütigsten Nationalliberalen herab, in den Ferien durch ihre Wähler in ihrer politischen Widerstandskraft gestärkt worden, aber von nun an beginnt der Gegendruck wieder zu spielen, und wer ihm jede Wirkung absprechen wollte, der müsste erst das weiche Wachs des bürgerlichen Parlamentarismus in sprödes Erz umzuwandeln verstehen. Hier in Berlin steht nicht mehr der drohende Wähler hinter den Reichsboten, sondern die Regierung, die Fraktion, das gemeinsame Klasseninteresse; wie sich das alles bekämpft und ausgleicht in einem so trotzigen und verzagten Ding, wie die Seele des bürgerlichen Parlamentariers ist, das ist gar nicht vorherzusagen. Seine Gedanken wandern und wechseln wie die Wolken am Himmel; wo heute düsterer Schatten zu sein scheint, kann morgen schon wieder heller Sonnenschein blinken; da muss man sich hüten, den Propheten zu spielen. Gegenwärtig liegen in beiden Schalen der Waage sehr starke Gewichte; um so eher kann dies oder jenes unvorhergesehene Ereignis die Entscheidung bringen, in dieser oder jener Weise.

Ein solches unvorhergesehenes Ereignis ist der Ausstand der Bergarbeiter im Saargebiet und in den rheinisch-westfälischen Kohlenbezirken. Man sollte meinen, er müsse den Fall der Militärvorlage besiegeln, denn ein erschreckenderes Zeugnis für den wirtschaftlichen Notstand der Volksmassen ist gar nicht denkbar. Aber bisher wirkt er gerade in entgegengesetzter Richtung, und sogar freisinnige Blätter benutzen den Ausstand, um die Regierung zu ein wenig Nachgiebigkeit in der Militärfrage zu mahnen. Die Seele des bürgerlichen Parlamentarismus ist nun einmal ein trotziges und verzagtes Ding. Ehe er berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse nachgibt, verhandelt er seine eigenen berechtigten Forderungen im Aufstreich. Der Ausstand der Bergarbeiter berührt eine offen klaffende Wunde am Körper der bürgerlichen Gesellschaft; an diesen armen Menschen haben sie alle gefehlt, die Manchesterleute und die Staatssozialisten, die Liberalen und die Ultramontanen, die Bourgeoisie und die Bürokratie, und was sonst immer die heutige Gesellschafts- und Staatsordnung krönt. Es war ein verhängnisvoller Gang, den die Kaiserdelegierten im Sommer von 1889 zu den Stufen des Thrones antraten; sie verloren darüber die Erfolge des damaligen großen Bergarbeiterstreikes, und die Krone quittierte ihren sozialen Beruf, just da sie ihn zum ersten Male betätigen wollte. Mochte auf beiden Seiten ein guter Wille vorhanden sein, er zerstob spurlos an dem unzerbrechlichen Gefüge der ökonomischen Zusammenhänge, und die wirkliche Logik der Dinge kommt nur zu ihrem Recht, wenn der gegenwärtige Ausstand der Bergarbeiter sich in erster Reihe gegen den Staat als Grubenbesitzer richtet und die einstigen Kaiserdelegierten als „Hetzer" und „Schürer" an seiner Spitze stehen.

Nichts wohlfeiler, als die jetzt hinter allen grünen Tischen, nicht zum wenigsten auch der bürgerlichen Redaktionsbüros, verzapfte Weisheit, dass der Ausstand der Bergarbeiter zur denkbar ungünstigsten Zeit unternommen worden sei. Bildet man sich denn wirklich ein, dass die Bergarbeiter dieser billigen Belehrung zu ihrer Entrüstung bedürfen? Wenn sie aber trotzdem streiken, so sollte man daraus lieber einen Schluss auf das Maß der Ausbeutung ziehen, das sie zu so verzweifelten Entschlüssen treibt. Solche Ausstände sind elementare Ereignisse, für deren Ausbruch die verantwortlich sind, die eine unerträgliche Last auf die Schultern der Arbeiter häufen, unbekümmert um deren Tragfähigkeit. Die Arbeiter sind glücklicherweise noch Menschen und keine Lasttiere, die unter dem Stachel des Treibers forthasten, bis sie tot zusammenbrechen. Und wer es nicht begreift, dass gequälte Menschen auch verzweifeln können, dass es auf einem gewissen Höhepunkt der Qual ihnen eine tatsächliche Erleichterung sein kann, einmal das Joch in den Staub zu schleudern, selbst auf die Gefahr hin, morgen am Wege sterben zu müssen, der hat eben keine Ahnung von sozialer Psychologie, oder er ist von wilder Profitgier völlig verblendet. Und dass der verzweifeltste Entschluss deshalb weder der frivolste noch der törichtste ist, dass die Bergarbeiter im schlimmsten Falle mit der Opferung ihrer Person doch noch immer ihrer Sache nützen, das zeigt schlüssiger als alles andere das rasende Wutgeheul der Unternehmerpresse über den Ausstand. Denkende und fühlende Menschen haben deshalb nichts gemein mit der gnädigen Herablassung, die den ausständigen Bergarbeitern „mildernde Umstände" zubilligt. Ihre Sympathien gehören ungeschmälert diesen Armen und Elenden; ihr Fluch und ihr Hass trifft allein die nichtswürdige Profitwut, die Menschen dazu zwingt, sich selbst und ihre Kinder zu opfern, um nicht ganz auf die Stufe stumpfsinniger Lasttiere zu sinken.

In diesem Falle liegt die Sache umso klarer, als alle, die es angeht, seit drei Jahren wissen, wie es um die soziale Lage der Bergarbeiter in den Kohlenbezirken steht. Nichts von dem, was diesen leidenden Proletariern damals in einem Augenblick aufschauernden Entsetzens versprochen wurde, ist gehalten worden. Das wenige, was sie sich durch eigene Kraft ertrotzten, ist nach und nach wieder beseitigt, ihre Gesamtlage ist eher schlechter als besser geworden. Die Potemkinschen Dörfer waren immerhin noch greifbare Dinge verglichen mit den „Musteranstalten", die aus den fiskalischen Bergwerken erstehen sollten. Bourgeoisie und Bürokratie, so sehr sie innerhalb der bürgerlichen Welt durch gewisse Klassengegensätze getrennt sein mögen, erwiesen sich als ein Herz und eine Seele gegenüber diesem Proletariat. Als ein verknöchertes Herz und eine vertrocknete Seele. Das ging solange es ging, aber wenn es denn nun endlich zu krachen beginnt, so sollte man die Vorwürfe über den „ungünstigen" Zeitpunkt doch wirklich nur an die richten, die drei Jahre der günstigsten Zeit nutzlos vergeudet haben. Oder sollen hungernde Arbeiter in jeder Minute über die Fülle besonnener Weisheit gebieten, welche die satten Spitzen von Gesellschaft und Staat jahraus jahrein so beharrlich vermissen lassen? Ein so jammervolles Armutszeugnis wollen die bürgerlichen Politiker ihrer herrlichen Weltordnung doch hoffentlich nicht ausstellen.

Für sie alle ist der Ausstand der Bergarbeiter ein Menetekel, und es ist unzweifelhaft, dass er auf die starren Mannesseelen, sowohl am Tische des Bundesrats wie auf den Bänken des Reichstags erweichend wirken wird, um doch noch eine Einigung in der Militärfrage herbeizuführen. Gerade dieser Ausstand erinnert sie alle, alle daran, dass die heutige Gesellschafts- und Staatsordnung so unfähig wie unwillig ist, den Massen des Proletariats noch ein leidliches Dasein zu schaffen. Er führt sie mit grausamer Logik auf die ultima ratio der herrschenden Klassen zurück, die innerlich abgewirtschaftet haben: auf die Gewalt. Schon sind die liberalen Blätter dabei, mit ihrer ganzen Beweiskraft – und was können sie nicht alles beweisen! – ihren „ewigen Prinzipien" diese Logik mundgerecht zu machen, und die offiziösen Organe fangen auch an, ein Einsehen zu haben und die Frage zu erörtern, womit sich die Regierung vielleicht begnügen „könnte". Solange die Angst vor der Arbeiterklasse das im letzten Grunde bestimmende Moment aller bürgerlichen Politik ist – und dies wird so lange sein, als die bürgerliche Gesellschaft überhaupt noch besteht –, solange wird man auch darauf rechnen müssen, dass Ereignisse, wie der Ausstand der Bergarbeiter, der eine noch gesunde Gesellschaft freilich warnen würde, den Bogen allzu straff zu spannen, die bürgerliche Gesellschaft, deren politische Verkörperung das Deutsche Reich ist, nur um so mehr veranlassen wird, sich in einem Walle von Bajonetten zu verschanzen.

Und so wäre der Ausstand der Bergarbeiter zu einem doppelt „ungünstigen" Zeitpunkt ausgebrochen? Ach, nicht doch! Konflikt oder Kompromiss in der Militärfrage – das mag für die bürgerlichen Klassen eine äußerst bedenkliche und schwer zu entscheidende Frage sein; sie mögen sich darüber ihren sorgenreichen Kopf abrechen, und es ist noch in tiefes Dunkel gehüllt, wie sie sich schließlich entscheiden werden. Aber die Arbeiterklasse kann politisch die Entscheidung unbesehen annehmen, wie sie fällt: In dem einen wie in dem andern Falle wird sie allein eine konsequente Haltung gegenüber dem kultur- und volksfeindlichen Militarismus bewährten.

Kommentare