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Franz Mehring 18930510 Kapitalismus und Militarismus

Franz Mehring: Kapitalismus und Militarismus

10. Mai 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Zweiter Band, S. 193-196. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 33-37]

In der wilden Flucht vor dem gefürchteten Zusammenstoße ist es nun doch zu diesem Zusammenstoße gekommen: Schneller als der eilende Fuß die bürgerlichen Freiheitshelden von dannen trug, stürmte das Verhängnis hinter ihnen her. Es war so etwas wie eine Schicksalstragödie, in der ein sinnloser Zufall entscheidet; eine halbe Stunde ehe der Reichskanzler die kaiserliche Order verlas, die den Reichstag auflöste, konnte man nach vernünftiger Berechnung zehn gegen eins wetten, dass ein Kompromiss in der Militärfrage gelingen würde. Aber die Vernunft hatte eben in dieser Tragikomödie nichts mitzusprechen. Nichts oder doch nur sehr wenig. Denn zur Ehre des bürgerlichen Parlamentarismus mag man wohl noch annehmen dürfen, dass ein plötzlich aufwallendes Gefühl des Ekels vor dem hässlichen Schacher nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, durch den Schluss der tagelang ohne sachlichen Zweck fort gesponnenen Debatten allen weiteren Kompromissverhandlungen den Boden zu entziehen.

Die althergebrachte Floskel: Die Entscheidung liegt nunmehr bei den Wählern, hat diesmal einen tieferen als den landläufigen Sinn, worin sie gewöhnlich gebraucht wird. Die Angst vor den Wählern ist im letzten Grunde das entscheidende Moment gewesen, das trotz alledem die Kompromissverhandlungen zum Scheitern gebracht hat; es ist ein erster Erfolg, den die Wähler über die Gewählten, die gequälten und unterdrückten Massen über die tönenden Heldenspieler der parlamentarischen Komödie davongetragen haben, und es fragt sich nunmehr, ob sie aus diesem ersten Erfolge die nötigen Konsequenzen ziehen, ob sie bereit und fähig sein werden, die Lasten und Mühen auf sich zu nehmen, die ein bis aufs Messer mit dem Militarismus geführter Kampf nach sich ziehen muss. Von den klassenbewussten Arbeitern versteht sich das von selbst, aber die Masse, die in der Krisis des bürgerlichen Parlamentarismus das zunächst entscheidende Wort hat, ist die Masse der bürgerlichen Wähler. Sie steht unter dem dumpfen Gefühle, dass es so nicht weitergeht, aber es handelt sich darum, ob sie eine klare Erkenntnis davon hat, wie es dann überhaupt weitergehen kann und soll.

Die bürgerlichen Parteien treten mehr oder minder zerrüttet in den Wahlkampf ein, und am zerrüttetsten die Partei, der nach historischem Rechte der Vorkampf gegen den Militarismus gebührt. Man sagt hier dem alten Virchow das geflügelte Wort nach, zweimal habe er die zerschmetternde Niederlage des Liberalismus im Kampfe mit dem Militarismus erlebt, und zum dritten Male möchte er seine müden Knochen nicht auf die hoffnungslose Wahlstatt schleppen. Wir glauben nicht, dass Virchow so gesprochen hat, denn dazu ist er viel zu sehr politischer Illusionär, aber wenn nicht wahr, so ist das ihm nachgesagte Wort gut erfunden. Wer nicht erst seit heut oder gestern die politische Entwicklung der bürgerlichen Klassen beobachtet hat, wird mit wahrem Entsetzen den Anfang der freisinnigen Wahlagitation bemerkt und sich der Einsicht nicht verschlossen haben, dass wenn die Sache so weitergeht, keine Lorbeeren, sondern gründliche Schläge als Lohn dieses Feldzugs winken. Bernstein hat einmal irgendwo die Freisinnigen die Bourbonen des deutschen Parteilebens genannt, die nichts lernten und nichts vergäßen, aber ein schlagenderer Beweis für diese Auffassung ist vielleicht noch niemals geliefert worden als gegenwärtig, wo die freisinnige Wahlagitation mit dem abgestandenen Gerede von dem „sturmerprobten" Führer Eugen Richter und der „wieder entrollten Fahne des altbewährten Fortschritts" eröffnet wird.

Soweit ein einzelner ein gerüttelt und geschüttelt Maß der Schuld an dem moralisch-politischen Krache der Freisinnigen Partei trägt, ist es der „Sturmerprobte". Wenn Ziegler schon die ehemalige Fortschrittspartei eine „olla potrida1 der Prinzipien" schalt, so hat Eugen Richter den Mischmasch vollends zu einem ungenießbaren Kohl gemacht, als er vor zehn Jahren in erster Reihe, wie er sich dessen selbst gerühmt hat, die Fusion betrieb und heimlich hinter dem Rücken der Wähler durchsetzte aus höfischer Rücksicht auf die Wünsche des Kronprinzen. Den Protest, den die damals noch vorhandenen spärlichen Reste bürgerlicher Demokratie gegen diesen Verrat erhoben, schlug der „Sturmerprobte" mit den ihm geläufigen persönlichen Schmähungen nieder, und wer noch neun Jahre zurückdenken kann, wird mit hoher Befriedigung über das praktisch erreichbare Maß menschlicher Charakterwürde in den gegenwärtigen Proklamationen des Herrn Eugen Richter zur Rechtfertigung seiner Sezession bis aufs Tipfelchen über dem i genau dieselben Gründe angeführt finden, die, als sie zur Bekämpfung seiner Fusion von bürgerlich-demokratischer Seite vorgebracht wurden, nach seiner glaubwürdigen Versicherung nur der „hämischen Nörgelsucht eitler Demagogen", der „unbefriedigten Eitelkeit gewisser Zeitungsschreiber" usw. entsprangen. Sein neunjähriges Lug- und Trugspiel hat der „Sturmerprobte" dann würdig damit gekrönt, dass er bis in die allerletzten Tage des aufgelösten Reichstags hinein öffentlich die vollkommene Einigkeit der Freisinnigen Partei bis auf einen oder allerhöchstens zwei Abtrünnige beschwor, während schon die Spatzen auf den Dächern pfiffen, wie es in Wirklichkeit mit dieser Einigkeit bestellt war.

Cavour pflegte zu sagen, in der Politik sei nichts abgeschmackter als der Groll, und wenn Herr Eugen Richter wirklich einen ernsthaften Kampf mit dem Militarismus beginnen, wenn er auch nur, um im Phrasenstile der hiesigen Bourgeoisphilister zu sprechen, die „wieder entrollte Fahne des altbewährten Fortschritts" schwingen wollte, so würden wir uns nicht bei den Sünden seiner Vergangenheit aufhalten, sondern es der historischen Forschung überlassen, festzustellen, wo er denn eigentlich „Stürme erprobt" hat, da er doch selbst so kleine „Stürme" wie Pressprozesse fürchtet und sich stets hinter Strohmänner von Redakteuren verschanzt, wie er denn auch sonst durch die splendide Dankbarkeit des Großkapitals aller irdischen „Stürme" enthoben worden ist. Indessen da Herr Eugen Richter die Wahlagitation mit einem gehässigen Ausfall auf die Sozialdemokratie eröffnet hat, da er die Partei, auf deren ihm als ein Almosen der Großmut gewährte Stichwahlhilfe er spekuliert, an Gemeingefährlichkeit mit den reaktionären Parteien auf dieselbe Stufe stellt, beiläufig in holdem Einklänge mit dem biedern Volksparteiler Payer, so wäre es ein Verbrechen, den Wählern zu verschweigen, was sie nach solchen Proben von diesem Manne zu hoffen haben. Er will bleiben, was er bisher gewesen ist, ein Diener und Helfer des Großkapitals, und unter dieser Voraussetzung haben die Wähler von ihm in Sachen des Militarismus nichts zu erwarten als Verrat.

Schon vor acht Tagen erwähnten wir beiläufig an dieser Stelle, dass die von der Militärfrage umgefallenen Elemente des Freisinns, im allgemeinen und von Ausnahmen auf beiden Seiten abgesehen, die gebildeteren und einsichtigeren Träger des kapitalistischen Liberalismus seien. Das ist kein Zufall, sondern die Sache hat ihren logischen Zusammenhang. Der deutsche Kapitalismus ist nicht durch eigene Kraft zur politischen Herrschaft gelangt, sondern durch seine Preisgabe an den preußischen Militarismus, dem er alle seine Prinzipien opferte, um dafür eine Förderung all seiner Interessen zu erlangen. Der Kapitalismus ist dadurch abhängig geworden vom Militarismus, und diese Abhängigkeit ist in demselben Masse gewachsen, in welchem der Kapitalismus durch die anschwellende Arbeiterbewegung entnervt und geschwächt worden ist. Darüber sind sich die klügeren Anhänger des kapitalistischen Liberalismus vollkommen klar, und zwar nach der einen wie nach der andern Richtung hin. Während Herr Eugen Richter vor wenigen Monaten erst durch seine wunderherrliche Beredsamkeit gegen den sozialistischen „Zukunftsstaat" den stürmischen Beifall aller Reaktionsparteien entfesselte –

Ganz anders liegt die Sache mit Herrn Eugen Richter, dessen „sturmerprobte Prinzipientreue" nichts ist als ein Feigenblatt für den Mangel an Ehrlichkeit und Einsicht, der ihn vor den gebildeten Vertretern des kapitalistischen Liberalismus auszeichnet. Mit Angriffen auf die Gemeingefährlichkeit der Arbeiterpartei den gegenwärtigen Wahlkampf eröffnen, ist eine Täuschung der Wähler, die nicht früh und nicht scharf genug als solche angenagelt werden kann – zur Warnung für diejenigen bürgerlichen Wähler, die wirklich noch einen letzten Versuch machen wollen, auf dem Boden der heutigen Gesellschaft mit dem Militarismus fertig zu werden. Ohne die Hilfe der Arbeiterklasse ist jeder Versuch dieser Art eine unnütze Kraft- und Zeitverschwendung. Um es noch einmal zu sagen: Der Kapitalismus ist ohnmächtig gegen den Militarismus nach der ganzen historischen und politischen Entwicklung, wie sie sich in Deutschland bisher vollzogen hat, und wer den Wählern das Gegenteil sagt, der will sie ebenso nasführen, wie die Barth und Genossen ihnen wenigstens klaren Wein einschenken. Mag sein, dass langjährige Gewöhnung der bürgerlichen Wählermassen an die Flunkereien der kapitalistischen Soldschreiber Herrn Eugen Richter noch einmal auf die Beine hilft. Mag sein auch, dass er in den Stichwahlen die von ihm heimlich ersehnte Unterstützung der proletarischen Wählermassen findet, denn die Arbeiter sind in ihren politischen Kämpfen ohne persönliche Ranküne, und ihr glorreicher „Vernichter" ist ihnen immer noch gut genug, als Futter für Pulver verknallt zu werden. Aber wenn die Entscheidung in der Militärfrage noch jemals in die Hände des „Sturmerprobten" gelangen sollte, so wird er die Interessen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen ebenso an den Kapitalismus und damit auch an den Militarismus verraten, wie er im Jahre 1884, als die Entscheidung über das Sozialistengesetz in seiner Hand lag, seine Getreuen „abkommandierte". Wähler, die sich darüber noch genauer unterrichten wollen, mögen nur die „Freisinnige Zeitung" studieren; dies Gewimmere darüber, dass sie „Räuber und Mörder" gescholten wird, während sie doch nicht gar so viel weniger angeboten habe, als der Antrag Huene anbiete, diese byzantinischen Anekdötlein über den Aufenthalt des Kaisers in Rom, die anmutig abwechseln mit den Huldigungstelegrammen an den „Sturmerprobten", dies sehnsüchtige Liebesgirren um den Ausreißer Baumbach, der einmal im Reichstage die gesetzliche Regelung der industriellen Kinderarbeit mit dem trefflichen Argument bekämpfte, dass die Hohenzollernkinder ja auch ein Handwerk lernen müssten – genug, dies und anderes kann jeden Wähler darüber belehren, was er von einem allzeit getreuen Diener des Kapitalismus zu erwarten hat, falls die Wahl eines neuen Reichstags mit oppositioneller Mehrheit die Dinge auf des Messers Schneide treiben sollte.

Bürgerliche Wähler, denen es wirklich nach einem gründlichen Gange mit dem Militarismus gelüstet, haben einen ganz sicheren Weg, zu ihrem Ziele zu kommen, indem sie für die sozialdemokratischen Kandidaten stimmen. Geht ihnen das aber wider den Strich, und wir möchten ihnen nicht gerne etwas Unbilliges zumuten, so mögen sie sich wenigstens von der entwürdigenden Vormundschaft des ihrer Masse todfeindlichen Kapitalismus befreien und aus ihrer eigenen Mitte den ersten besten in den Reichstag schicken, von dem sie wissen, dass er zu allen Forderungen des Militarismus nein, nein und abermals nein sagen wird. Mit einem solchen Vertreter würden sie zehnmal mehr erreichen als mit dem „Sturmerprobten", und wenn sie den einfachsten ihrer Nachbarn wählten, so würde er vor dem Heldengefolge der Hermes und Knörcke noch immer als ein wahrer Solon an Beredsamkeit und Weisheit hervorleuchten.

1 Richtig: olla podrida (span.) - Gericht aus diversen Fleischsorten, Gemüsen und Früchten; im übertragenen Sinn abwertend: Mischmasch. (Franz Ziegler nannte die Fortschrittspartei die „olla potrida aller Prinzipien". Siehe Franz Mehring: Die Lessing-Legende, Bd. 9 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 60.)

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