Franz Mehring‎ > ‎1894‎ > ‎

Franz Mehring 18941128 Andere Zeiten

Franz Mehring: Andere Zeiten

28. November 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 289-292. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 89-93]

In acht Tagen wird endlich der Reichstag zusammentreten und einer politischen Lage ein Ziel setzen, die gerechten Anspruch darauf erheben darf, selbst in unserer verworrenen Zeit als ein Kuriosum zu gelten. Nicht als ob der Reichstag die allgemeine Verwirrung ohne weiteres schlichten könnte und würde, vielleicht vermehrt er sie noch. Aber irgendwelche Karten muss dann doch die Regierung auf den Tisch legen, und es ist wieder die Möglichkeit gegeben, dem Tintenfisch der Reaktion die Glieder zu zerschlagen, während er sich jetzt in eine dunkle und ungreifbare Wolke hüllt.

Es sind vornehmlich zwei Fragen, mit denen sich der Reichstag in seiner neuen Session beschäftigen wird: mit der Bekämpfung des Umsturzes und mit der Erhöhung der Steuerlast. Beide Fragen stehen in einem inneren Zusammenhange, so lebhaft auch dieser Zusammenhang von denen bestritten wird, die es angeht. So ist nun einmal der Brauch im neuen Deutschen Reiche, dass in Finanznöten, in denen der Reichstag sich schwierig zeigt, alsbald ein Gespenst an der Wand erscheint: 1878 das rote Gespenst, 1887 das Kriegsgespenst und in diesem gesegneten Jahre zur Abwechslung wieder einmal das rote Gespenst. Als der Reichstag in seiner vorigen Session höflich, aber entschieden abgelehnt hatte, in den Pott des Herrn Miquel zu steigen, wurden Gesellschaft und Staat für gefährdet erklärt durch den Umsturz, und kein Blatt war eifriger, die Bekämpfung des Umsturzes zu verlangen, als die „National-Zeitung", das Organ des Finanzministers.

Neuerdings wird zwar eine andere Mär verkündet, doch sie klingt wenig wahrscheinlich und sieht sehr darnach aus, als solle sie die richtige Spur verwischen. Nach ihr hätte Caprivi den Industriellen versprochen gehabt, für ihre Unterstützung der Handelsverträge neue Gewaltmaßregeln gegen die Sozialdemokratie vorzuschlagen; indem Caprivi nach der Ermordung Carnots seinen „Mut der Kaltblütigkeit" habe preisen lassen, sei er gewissermaßen wortbrüchig geworden, wodurch er nicht nur seine politische Stellung erschüttert, sondern das Verlangen nach Bekämpfung des Umsturzes erst recht entfacht habe. Die Geschichte trägt den Stempel der Erfindung an der Stirn. Bei den Handelsverträgen führten nicht die Industriellen die Sache Caprivis, sondern Caprivi führte die Sache der Industriellen, und es ist eine allzu geistreiche Unterstellung, dass die Industriellen nur gegen Übernahme anderweitiger Verpflichtungen dem Reichskanzler erlaubt haben sollen, ihre Sache zu führen. Möglich, dass sie auch diese Gelegenheit benutzt haben, ihre heiße Sehnsucht nach einer neuen Knebelung der arbeitenden Klassen kundzutun; Herrn Stumm und seinesgleichen mag jeglicher Mangel an Verschämtheit zuzutrauen sein. Aber die Behauptung, dass Caprivi bei dieser Gelegenheit eine bindende Verpflichtung übernommen habe und dann über seinen Wortbruch gestolpert sei, ist höchst abenteuerlich; erklärt sich das Geschrei nach Bekämpfung des Umsturzes im allgemeinen aus dem Verlangen nach der Wiederkehr der bismärckischen Korruptionsära, so datiert es im besonderen von der Ablehnung der neuen Steuervorlagen in der vorigen Session des Reichstags.

Demgemäß sollte der Reichstag in seiner neuen Session zunächst nur mit der Umsturzvorlage befasst werden, während die Regierung den Etat und die neuen Steuergesetze noch hinter sich hielt. Lehnte die Mehrheit jene Vorlage ab, so konnte der Reichstag aufgelöst werden, ohne dass die Wähler wussten, welche Bescherungen ihrer sonst noch harrten; unter dem sinnbetörenden Geschrei der Angst vor dem roten Gespenst sollte ein neuer Kartellreichstag zusammengetrommelt werden. Man muss die geniale Einfachheit dieser Staatskunst bewundern, aber sie war ein bisschen zu verwünscht gescheit und überschätzte die Dummheit des deutschen Michels. Dieses Kind hat oft genug die Hand wieder in dasselbe Feuer gesteckt, an dem es sich eben erst verbrannt hatte, aber wenn es schließlich statt der fünf Finger nur noch fünf verkohlte Stumpfe hat, dann bedenkt es sich doch, ehe es sich die Fähigkeit, einmal derbe zuzugreifen, ganz wegsengen lässt. Gegenüber dem allgemeinen Widerspruch ist die Regierung mutig genug gewesen, einen Schritt zurückzutun.

Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", die mit derselben Bedientenhaftigkeit, womit sie vor vier Jahren die Bismärckische Livree ablegte, um in die Caprivische Livree zu schlüpfen, nunmehr die Caprivische Livree abgelegt hat, um in die Hohenlohische Livree zu schlüpfen, erklärt pomphaft, dem Reichstage würde sofort nach seinem Zusammentritte neben der Umsturzvorlage auch der Etat und was sonst an Gesetzen fertig gestellt sei, zugehen, wohlgemerkt, nachdem sie ein paar Tage vorher ebenso pomphaft das gerade Gegenteil verkündet hatte.

Dieser freiwillig-unfreiwillige Rückzug der gegenwärtigen Regierung stellt ihren weiteren Taten kein günstiges Prognostikon. Wir haben schon früher auf die Gründe hingewiesen, die es für sie ohnehin schwieriger machen, eine Bekämpfung des Umsturzes durchzudrücken, als dieselbe Aufgabe für Caprivi gewesen wäre; bestätigt es sich nun gar noch, dass der Kern der „streng sekret behandelten" Vorlage die Wiederherstellung des alten Hass- und Verachtungsparagraphen1 sei, so sieht es böse für die Regierung aus. Und es ist wahrscheinlich genug, dass sich diese Meldung trotz aller „eingeweihten" Blätter bestätigen wird. Die gewaltsame Reaktion hat unter ihren Methoden keine große Auswahl; sie schlägt mit dem Polizeiknüppel tot, oder sie lässt die Klassenjustiz los, indem sie sie von den juristischen Zwirnsfäden befreit, welche sie etwa noch fesseln. Da es nun gewiss ist, dass der Polizeiknüppel nach den trüben Erfahrungen, die mit dem Sozialistengesetze gemacht worden sind, einstweilen noch in der Ecke stehen bleiben soll, so werden wohl ein paar von den juristischen Zwirnsfäden zerschnitten werden, durch welche die Klassenjustiz bisher gebändigt werden sollte. Über den Hass- und Verachtungsparagraphen selbst haben wir uns auch schon an dieser Stelle ausgelassen: Er ist erfunden von Louis-Philippe, wiedergeboren von Manteuffel, mit Schimpf und Schande gestorben in Bismarcks „liberaler" Zeit. Bismarck selbst hat ihn dann schon sechs Jahre nachher wieder aus dem Grabe geholt, aber der Reichstag wandte sich einstimmig von der missduftenden Leiche ab. Soll der Hass- und Verachtungsparagraph jetzt dennoch wieder zu künstlichem Leben galvanisiert werden, so wird er mit verstärkter Kraft seinen alten Beruf erfüllen: die zu schänden, die ihn anwenden, die zu ehren, die er verfolgt.

Einstweilen ist die Aussicht dazu gering. Wir sagen das nicht aus irgendwelchem ungerechtfertigten Zutrauen auf den gegenwärtigen Reichstag, sondern aus der sehr nüchternen Erwägung heraus, dass diese Bekämpfung des Umsturzes ihre praktische Schneide viel mehr gegen die bürgerlich-oppositionellen Parteien kehrt als gegen die Sozialdemokratie. Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs lautet jetzt: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegeneinander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft." Durch die Streichung der gesperrt [hier: kursiv] gedruckten Worte soll der Hass- und Verachtungsparagraph wiederhergestellt werden und würde dadurch auch wiederhergestellt sein. Es ist damit auf den Klassenkampf des Proletariats abgesehen, und wir werden die Letzten sein, diese edelmütige Absicht zu verkennen, haben sie auch schon vor einigen Wochen anerkannt.

Praktisch hat die Sache aber den Haken, dass die deutsche Rechtsprechung gegenüber der Sozialdemokratischen Partei die juristischen Zwirnsfäden des Paragraphen 130 schon aus eigenem gesellschafts- und staatserhaltendem Antriebe stark gelockert hat. Sie hat bereits glücklich herausgefunden, dass dieser Paragraph weder eine Aufforderung zu einer bestimmten Handlung, noch einen Anreiz zu einem sofortigen Tun voraussetzt. Es genügt nach einem Erkenntnis des Reichsgerichts vom 9. Februar 1886, dass die Anreizung geeignet sei, eine zum Ausbruche von Gewalttätigkeiten geneigte Stimmung hervorzurufen. Zwischen dieser Auslegung und der gänzlichen Streichung der Worte „zu Gewalttätigkeiten" ist wirklich kein nennenswerter Unterschied mehr. Namentlich in Gegenden mit hochgespannten Klassengegensätzen würde davon nicht viel zu merken sein, und mit Recht hat die englische Presse in diesen Tagen schon darauf hingewiesen, es sei schwer zu erkennen, was den Regierungen nach den hervorragenden Leistungen der sächsischen Justiz gegenüber der sächsischen Sozialdemokratie denn eigentlich noch zu wünschen übrig bliebe.

Ganz anders steht es mit den bürgerlich-oppositionellen Parteien, denen die Worte des Paragraphen 130, die nunmehr gestrichen werden sollen, bisher allerdings einen gewissen Schutz gewährt haben. Sie sind der antisemitischen, liberalen, ultramontanen Agitation oft genug zugute gekommen. Und deshalb glauben wir, dass diese Parteien nicht geneigt sein werden, einen Damm einzureißen, der in erster Reihe sie schützt. Vielleicht ist das selbst nicht einmal von der Konservativen Partei zu erwarten, die heutzutage, um bestehen zu können, auf eine lebhafte Agitation angewiesen ist. Die Umsturzvorlage hat somit sehr geringe Aussichten im Reichstage. Ob der dürftige Rest politischer Freiheit, den die Massen im neuen Deutschen Reich noch besitzen, ganz ungerupft davonkommen wird, mag fraglich sein, aber voraussichtlich wird sich für den eigentlichen Kern der Vorlage keine Mehrheit finden. Wie unberechenbar alle bürgerlichen Parteien sein mögen; insoweit kann man sich ziemlich sicher auf sie verlassen, dass sie sich nicht selbst die Nase abschneiden mögen. Auch ihr Sozialistenhass wird sie nicht zu dieser Dummheit verleiten, denn sie wissen recht gut, dass die deutschen Gerichte schon von selbst alles tun, um die sozialdemokratische Agitation unter dem Schutze des Paragraphen 130 nicht übermütig werden zu lassen.

Nun liegt eine Ablehnung des Hass- und Verachtungsparagraphen durch den Reichstag im Interesse und im Plane der Reaktion. Denn die Bekämpfung des Umsturzes ist ja nur aufs Tapet gebracht worden, um Caprivi zu stürzen, den Reichstag zu sprengen und durch die Angstmeierei, die mit dem roten Gespenst getrieben werden soll, einen neuen Kartellreichstag zusammenzutrommeln. Indessen diese Rechnung hat ein großes Loch. Der Widerspruch, der sich gegen den Plan der Regierung erhob, das Umsturzgesetz allein dem Reichstage vorzulegen und alle anderen Vorlagen zurückzuhalten, hat sie bereits darüber belehrt, dass die Zeit der allzu harmlosen Scherze vorüber ist. Nachdem sie sich diesem Widerspruche gefügt hat, wird es für die proletarische und gegebenenfalls auch für die bürgerliche Opposition ein Leichtes sein, den inneren Zusammenhang zwischen der Bekämpfung des Umsturzes und den neuen Steuern so klar aufzudecken, dass auch dem blödesten Hödur unter den Wählern die Augen aufgehen. Kommt es aber trotzdem zur Auflösung des Reichstags, nun, so mag die Reaktion sehen, wo sie mit ihrer Wahlparole bleibt. Ein Volk, das seinen von einer erdrückenden Steuerlast schon tief in den Staub gedrückten Nacken noch mit Hunderten von Millionen neuer Steuern belüde, bloß für den Genuss, den Hass- und Verachtungsparagraphen wiederhergestellt zu sehen, würde sich selbst zu einem Gegenstande des Hasses und der Verachtung machen, wie er selten in den Jahrbüchern der Geschichte zu finden sein mag. Einstweilen glauben wir nicht daran.

Mit dem Zusammentritte des Reichstags wird sich zeigen, wie sich die Regierung aus diesem Dilemma heraus zu wickeln gedenkt. Nichts begreiflicher, als dass sie sich zunächst in eine dunkle und ungreifbare Wolke gehüllt hat. Aber in acht Tagen heißt es mit offenen Karten spielen. Der neueste Kurs hat einigen Mut gezeigt, indem er das Erbe des neuen Kurses antrat; jetzt muss er aber noch ungleich viel mehr Verstand zeigen, um dies Erbe zu liquidieren. Die Ausbeuterclique, die Caprivi stürzte, hat es sich etwas zu bequem gemacht, als sie einfach Bismarcks Konzepte abschrieb. Heute sind andere Zeiten, als 1878 und selbst noch 1887 waren. Es ist noch weit davon, dass die Mehrheit der deutschen Reichstagswähler den Dingen wirklich auf den Grund sieht, aber allzu plumpen – Fingerfertigkeiten sieht sie doch schon auf die Finger. Wir begreifen die innige Begeisterung der Ausbeuter und Unterdrücker für die Angstwahlen von 1878, für die Faschingswahlen von 1887. Aber die schönen Tage von Aranjuez kommen nicht wieder. Es sind eben andere Zeiten.

1 Gemeint ist die unter anderem vorgesehen gewesene Verschärfung des Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches durch die so genannte Umsturzvorlage. Sie sah 600 Mark Geldstrafe oder 2 Jahre Haft für Aufreizung zum Klassenhass, zu Gewalttätigkeiten, für Beschimpfungen der Religion, der Monarchie, der Institution der Ehe usw. vor. Die „Umsturzvorlage" kam am 11. Mai 1895 zu Fall.

Kommentare