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Franz Mehring 18940307 Faustrecht

Franz Mehring: Faustrecht

7. März 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 737-741. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 61-66]

Der Fall Kirchhoff, der an dieser Stelle wiederholt besprochen worden ist, hat im Reichstage noch ein Nachspiel gehabt: die Proklamierung des Faustrechts durch den Kriegsminister. Herr v. Bronsart verkündete, um mit einem nationalliberalen Blatte zu sprechen, die Selbsthilfe mit Revolver und Knüttel förmlich als Prinzip; er übernahm nach demselben Blatte die Verantwortung für die Herbeiführung von Zuständen, wie sie vor Jahrzehnten in Kalifornien und Texas bestanden haben. Zwar schien es einen Augenblick, als ob der Kriegsminister nach vierundzwanzig Stunden etwas einlenken wollte, aber kaum hatte die bürgerliche Presse ihre Befriedigung darüber ausgedrückt, als der redegewandte General nach abermals vierundzwanzig Stunden auch schon erklärte, er habe nichts abschwächen und mildern wollen; seine Ansichten über die Selbsthilfe mit Revolver und Knüttel seien ganz so schroff und ungemütlich, wie sie ursprünglich der Welt erschienen seien.

An der Aufrichtigkeit dieser Versicherung ist kein Zweifel gestattet; für den Kenner des preußischen Militarismus hat sie auch nichts Überraschendes. Das einzige, was man dem Kriegsminister zum Vorwurf machen könnte, ist eine gewisse Lückenhaftigkeit seiner Theorie. Er hätte hinzusetzen sollen, dass sie ausschließlich von Offizieren, die unter dem Schutze der Militärgerichtsbarkeit stehen, straflos oder so gut wie straflos ins Leben gerufen werden könne. Er hatte zwar die Güte, den zivilen Volksvertretern zu sagen: „Das traue ich Ihnen denn doch zu, wenn Ihnen die Braut, die Frau, die Tochter beleidigt wird, Sie schlagen den Betreffenden nieder und Sie haben ein Recht dazu", aber wenn einer der also Haranguierten auf diese Brücke treten wollte, so könnte er üble Erfahrungen machen. Die Geschworenen nehmen Mordversuche nicht ganz so auf die leichte Achsel, wie der Kriegsminister ihnen zutraute, und die gelehrten Gerichte erst recht nicht. Und am wenigsten ist der Justizminister in solchen Fällen so schnell mit einem Antrage auf Begnadigung zur Hand wie der Kriegsminister. Wir haben das erst kürzlich an einem Falle illustriert, in welchem ein Mädchen, das tausendmal ärger von einem Offizier beschimpft worden war, als die Tochter des Generals Kirchhoff von dem „Berliner Tageblatt" beschimpft worden ist, zur Selbsthilfe mit dem Revolver gegriffen hatte. Die Geschworenen verurteilten sie wegen Mordversuchs, das Gericht erkannte auf anderthalb Jahre Gefängnis und die Krone ließ es trotz des einstimmigen Gnadengesuchs der Geschworenen bei einem halben Jahre Gefängnis bewenden, während der General Kirchhoff nach acht Tagen leichter Festungshaft begnadigt worden ist.

Der Kriegsminister ist ein geschickter Debatteur, und er kannte sein Publikum, als er den hohen Reichstag behandelte, als habe er eine Schar ehrwürdiger Odoardo Galottis vor sich. Mann für Mann tappten die bürgerlichen Worthelden in die Falle, am stelzbeinigsten der freisinnige Abgeordnete Lenzmann, der vor acht Jahren am Grabe seines Freundes Phillips schwor, er werde das demokratische Banner, „und sei es durch Ströme von Blut", bis ans Ende der Welt tragen, und der sich nunmehr unter den alltäglichsten Freisinn verkrümelt hat. Hoch und teuer versicherte Herr Lenzmann, drei Söhne habe er verloren, aber wer seiner einzigen Tochter etwas am Zeuge flicken wolle, den werde er niederschlagen oder durchpeitschen. Gibt es etwas Lächerlicheres als diese Rodomontaden in einem Augenblicke, wo ein pflichttreuer Volksvertreter gar nichts anderes zu tun hatte und gar nichts Wirksameres tun konnte, als im trockensten Tone festzustellen, dass alle rührseligen Redewendungen des Kriegsministers über die verletzten Vatergefühle des Generals Kirchhoff darauf abzielten, das Faustrecht als ein unantastbares Vorrecht der Offizierskaste auch in dem so genannten Rechtsstaate zu erhalten? Hätte der General Kirchhoff auf handhafter Tat einen Beleidiger seiner Tochter niedergeschlagen, so läge die Sache gewiss anders, und er hätte dann gehandelt, wie ein normaler Zivilmensch unter gleichen Umständen zu handeln pflegt. Aber wenn er nach sehr umständlichen und weitläufigen Vorbereitungen von dem gerichtlich längst bestraften Beleidiger seiner Tochter ein entehrendes schriftliches Schuldbekenntnis mit dem Revolver in der Hand erzwingen wollte, so benutzte er das Faustrecht, das seinesgleichen als ein besonderes Klassenvorrecht beansprucht, und angesichts dieses Tatbestandes ist alles sentimentale Geschwafel sehr am unrechten Orte.

Doch indem sie über den Stock sprangen, wollten die bürgerlichen Worthelden wenigstens noch ein wenig bellen, und man muss es dem Kriegsminister danken, dass er gegenüber diesen Versuchen, eine sehr klare Sachlage künstlich zu verdunkeln, auf alle taktischen Künste verzichtete und sich bündig zu dem Faustrechte bekannte. Was ihm zu tun noch übrig blieb, war die Beschränkung dieses Faustrechts auf die Offizierskaste. Wäre die Theorie des Kriegsministers in der Allgemeinheit gemeint gewesen, in der er sie aussprach, wäre nach seiner Ansicht jeder, der die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft für unzureichend hält, um zu seinem Rechte zu kommen, dadurch befugt, sich gewaltsam das zu verschaffen, was er für sein Recht hält, so wäre die Bombe des Anarchisten im Wesen der Sache ebenso geheiligt wie der Revolver des Generals. So hat es aber Herr v. Bronsart natürlich nicht gemeint; er würde der erste sein, die blutigsten Kriegsartikel anzurufen, wenn einer der Soldaten, deren Schauer erregende Misshandlungen der Erlass des Herzogs Georg von Sachsen schildert, sich an seinen Peinigern so gerächt hätte wie der General Kirchhoff an dem Redakteur des „Berliner Tageblattes". Deshalb hätte er seiner Proklamierung des Faustrechts hinzufügen sollen, dass sie nur gelte für die Offizierskaste und etwa noch die Gesellschaftsschichten, die mittel- oder unmittelbar mit dieser Kaste zusammenhängen. Dann hätte er ausgesprochen das was ist und sich ein bemerkenswertes Verdienst um die Klarstellung des deutschen Kulturzustandes erworben. So aber überließ er dies Verdienst der sozialdemokratischen Fraktion, deren Redner die faustrechtlichen Theorien des Kriegsministers in den zwar nicht logischen, aber historischen Zusammenhang stellten, in den sie gehören.

Es ist ein eigentümliches Ergebnis der historischen Dialektik, dass gerade im „Volke der Dichter und Denker" ein Überbleibsel der mittelalterlichen Barbarei, wie das Faustrecht, als kostbares Klassenvorrecht derjenigen Klassen gehütet wird, die in erster Reihe moderne Kultur und Zivilisation vertreten wollen. Um den Fall Kirchhoff und ähnliche Fälle handelt es sich dabei ja keineswegs allein, ein christlich-konservativer und christlich-sozialer Prediger verteidigte im Reichstage gegen Bebel auch den Duellunfug der herrschenden Klassen. In diesem Punkte ist die katholische Kirche allerdings konsequenter als die protestantische: Sie verwirft das Duell praktisch nach den theoretischen Lehren des Christentums, katholische Offiziere haben wiederholt lieber ihr Offizierspatent an den Nagel gehängt, als dass sie sich zu privilegierten Raufbolden entwürdigen ließen, und auch im Reichstage lehnten die Vertreter des Zentrums jede Verantwortlichkeit für die Verteidigung des Duells durch protestantische Geistliche ab. Aber wenn dies um der Gerechtigkeit willen anerkannt werden muss, so erklärt sich der Unterschied doch nur daraus, dass die katholische Kirche vermöge ihrer größeren Macht sich eher herausnehmen darf, etwas ideologische Politik gegenüber den Interessen der herrschenden Klassen zu treiben, als die protestantische. In dem preußisch-deutschen Militärstaate kämpft der Militarismus um sein Faustrecht wie um sein Haupt und Leben, und in der Tat ist dies Recht der klassische Ausdruck des feudalen Geistes, der sich bis ans Ende des neunzehnten Jahrhunderts gerettet hat. Eher könnte man dem Herkules seine Keule entwinden als dem Militarismus dies barbarische Vorrecht. Erst mit dem Militarismus selbst wird es dahin sinken. In England, wo es keinen Militarismus gibt, wo der feudale Geist gründlich ausgerottet ist, wird das Duell allgemein als eine verächtliche Albernheit betrachtet, und ein christlicher Geistlicher, der es so verteidigen wollte, wie es neulich der Pastor Schall im Reichstage verteidigt hat, gewänne damit alle Anwartschaft auf einen Platz in einer, um uns höflich auszudrücken, Nervenheilanstalt.

In Deutschland sind aber die bürgerlichen Klassen niemals mit dem Feudalismus, niemals mit dem Militarismus fertig geworden, und hieraus erklärt sich die schwächliche Haltung der bürgerlichen Opposition gegenüber der Proklamierung des Faustrechts durch den Kriegsminister. Gewiss, sie ist ihnen missfällig genug, wie ihnen auch der Feudalismus und der Militarismus missfällig sind, wenigstens ihren kleinbürgerlichen Schichten, denn die große Bourgeoisie sucht sich nach der Art eitler Parvenüs ja vielfach anzufeudalisieren und anzumilitarisieren. Aber sie wagen nicht den ehrlichen, den offenen, vor allem nicht den grundsätzlichen Kampf, und wie sich Herr Lenzmann im Reichstage als eventueller Racheengel seines Töchterleins maskierte, so drücken sich die bürgerlichen Oppositionsblätter unter den wunderlichsten Ausflüchten um den eigentlichen Kern der Frage herum. Die „Freisinnige Zeitung" schrieb schon früher, der Fall Kirchhoff ginge die Öffentlichkeit gar nichts an, die „Vossische Zeitung" behauptet, das Unglück des Generals sei zu erschütternd, als dass es gegen den Militarismus ausgebeutet werden dürfe, und das „Berliner Tageblatt" tanzt in den groteskesten Sprüngen der Huldigung um den Mann herum, der einen Revolver auf seinen Redakteur abgedrückt hat. Und ebenso in der Duellfrage, obschon die liberalen Blätter hier doch in der glänzenden Diatribe Schopenhauers gegen das Duell eine sehr brauchbare Vorlage entrüsteter Leitartikel hätten. Von seinem philiströs beschränkten Standpunkte kam Schopenhauer freilich auch nur zu dem unfruchtbaren Endergebnis, das Duell sei eine unverständliche Narrheit; die historischen Bedingungen dieser historischen Erscheinung hat er nie begriffen. Aber er war geistreich genug, um den Widersinn des Duells in einem bürgerlichen Zeitalter mit ätzender Kritik zu überschütten, um den blödsinnigen Begriff der „Satisfaktionsfähigkeit" bis in seine letzte Faser zu zerreißen. Statt sich hieran zu halten, kommt das Leibblatt der hiesigen Bourgeoisie mit den Duellmandaten früherer preußischer Könige angezogen, zum trefflichen Beweise dafür, dass sich Geschichtsfälschungen ebenso benutzen lassen, um bürgerliche Feigheit zu beschönigen, als um feudalen Übermut zu verherrlichen.

Die Duellmandate nicht bloß der preußischen Könige, sondern der absoluten Fürsten im siebzehnten und namentlich im achtzehnten Jahrhundert überhaupt hatten nicht im Entferntesten den Zweck, modern-bürgerlichen Anschauungen zum Siege zu verhelfen über mittelalterlich-feudale Anschauungen. Sie zielten einfach darauf ab, den feudalen Geist so weit zu bändigen, als für die Zwecke des aus der ökonomischen Entwicklung neu erwachsenden Absolutismus und seiner stehenden Heere notwendig war. Mit der unerlässlichen Disziplin dieser Heere vertrug es sich nicht, dass sich die Offiziere tagtäglich mit dem Degen in der Faust rauften, und hiergegen richteten sich die fürstlichen Duellmandate. Hiergegen, und hiergegen allein. Soweit sich in dem Duell ein feudal-militärisches Vorrecht gegenüber dem gemeinen Rechte der bürgerlichen Roture verkörperte, haben es die absoluten Fürsten, und ganz besonders die preußischen Könige, ebenso gepflegt wie in jener anderen Beziehung bekämpft. Friedrich Wilhelm I., der berufenste Militärkönig des vorigen Jahrhunderts, setzte die Todesstrafe für jeden Duellanten fest, aber wenn die Übertreter seiner Duellmandate ins Ausland entkamen, empfahl er solche „braven Kerle" der Gunst fremder Fürsten. Als er den Major v. Jürgass mit einem unnennbaren Schimpfwort beehrte und der Beleidigte erwiderte: „Das sagt ein Hundsfott", erklärte der König, er könne das nicht auf sich sitzen lassen und sei bereit, für die Beleidigung mit Schwert oder Pistolen Revanche zu nehmen. Als seine Offiziere protestierten, fragte er zornig, wie er denn sonst Genugtuung für seine beleidigte Ehre erhalten könnte. Man fand das Auskunftsmittel, dass sich der Oberstleutnant v. Einsiedel, der des Königs Stelle beim Gardebataillon vertrat, statt seiner schlagen müsse. Das Duell ging vor sich, Einsiedel wurde am Arme verwundet, der König füllte ihm dafür einen Tornister mit Talern und befahl ihm, die Last nach Hause zu tragen. In diesen naiven Widersprüchen offenbart sich treffend, was es mit den Duellmandaten der früheren preußischen Könige auf sich hatte.

Wer mit der „Vossischen Zeitung" sich einbildet, dass in England nicht die bürgerliche Entwicklung, sondern – der Prinzgemahl Albert das Duell im Heere und damit auch in der bürgerlichen Gesellschaft ausgerottet habe, der mag sich auch wohl einbilden, dass mit den Duellmandaten der alten Hohenzollern etwas ausgerichtet worden sei. Es gehört das rührende Gottvertrauen der protestantenvereinlichen Tante Voss dazu, um anzunehmen, dass sich die märkischen und pommerschen Junker von ihrer Raufsucht hätten bekehren lassen durch die fromme Mahnung, ihre von Christo erkaufte teure Seele nicht in augenscheinliche Gefahr zu bringen. Tatsächlich erstarb die feudal-zügellose Duellwut in demselben Maße, in dem die Junkerklasse wachsenden Vorteil von dem stehenden Heere und dessen notwendiger Disziplin zog. Aber in demselben Maße wuchs auch die Heiligsprechung des Duells als eines feudal-militärischen Vorrechts gegenüber der bürgerlichen Kanaille. Von königlichen Duellmandaten im neunzehnten Jahrhundert ist kaum noch zu erzählen. Ein Offizier, der sich duelliert, wird nicht mehr mit dem Tode bestraft. Die Militärgerichtsbarkeit verhängt eine winzige Strafe über ihn, und von dieser winzigen Strafe braucht er nur einen winzigen Teil abzusitzen, bis ihn die königliche Gnade erlöst, für deren Gebrauch, versteht sich, der Kriegsminister verantwortlich ist. Das ist der regelmäßige, den bürgerlichen Oppositionsblättern genau bekannte Hergang. Sie kennen sehr gut das Rhodus, auf dem sie tanzen müssten, wenn sie dem Duell ernsthaft zu Leibe wollten. Aber statt auf diesen heißen Boden zu treten, fuchteln sie lieber mit den Duellmandaten des achtzehnten Jahrhunderts herum. Da loben wir uns noch den Pastor Schall, der ehrlich das Duell als ein Zubehör des christlichen Staates rühmt, so wie dieser Staat im Deutschen Reiche blüht.

Einzig und allein die Sozialdemokratische Partei hat inner- und außerhalb des Reichstags gegenüber der Proklamierung des Faustrechts durch den Kriegsminister die moderne Kultur und Zivilisation mit der notwendigen Konsequenz vertreten. Die Tatsache springt so in die Augen, dass die „Grenzboten" verwundert erklären, alles was im Reichstage von liberaler Seite gesagt werden müsste, werde jetzt von sozialdemokratischer Seite gesagt. In dieser naiven Verwunderung spiegelt sich unbewusst die Tatsache, dass der Liberalismus meilenweit vom Sozialismus überholt worden ist.

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