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Franz Mehring 18941212 Hohenlohes Anfänge

Franz Mehring: Hohenlohes Anfänge

12. Dezember 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 353-356. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 94-99]

Seit acht Tagen haben sich die Ereignisse gedrängt: Man darf heute nicht mehr sagen, dass der neueste Kurs arm an Taten sei. Freilich sind diese Taten auch darnach. Ein reaktionäres Programm des Fürsten Hohenlohe, die Umsturzvorlage, ein Attentat auf die parlamentarische Immunität; mehr hat in sieben Tagen Bismarcks so genanntes Genie auch in den Zeiten seines höchsten Glanzes nicht fertig gebracht. Und doch ist der Gesamteindruck nur der alte, ein Bild höchster Hilflosigkeit und Schwäche.

Ein schwacher Greis, der mit dünner und zitternder Stimme von einem Blatt Papier einige Gemeinplätze abmurmelte: So trat der leitende Staatsmann bei seiner ersten parlamentarischen Rede dem Reichstage gegenüber. Er verkündete, dass sich kein Systemwechsel vollzogen habe, aber doch nicht alles so bleiben solle, wie es unter Caprivi gewesen sei. Fürst Hohenlohe will noch einiges zum Schlechten verkehren. Er will den Hemmschuh beseitigen, den Caprivi vernünftigerweise der Kolonialpolitik anzulegen versuchte. Auf diesem Gebiete sinnloser Abenteuer sollen wieder geniale Sprünge gemacht werden, deren Kosten den Steuerzahlern aufzuerlegen der neueste Kurs großmütig genug ist. Besonders wohltuend wird auf sie die Ankündigung neuer Schiffsbauten wirken, die bekanntlich zu den wohlfeilsten Scherzen der nationalen Kulturmission gehören.

Es wäre überflüssig, besonders hervorzuheben, dass Fürst Hohenlohe zu den Finanzplänen seines geistreichen Kollegen Miquel Ja und Amen sagte. Von ihm entlehnte er auch die wunderliche Behauptung, dass die deutsche Gesetzgebung mehr im Interesse der Industrie als der Landwirtschaft gearbeitet habe. Als ob die Landjunker von dieser Gesetzgebung jemals gegen die Schlotjunker zurückgesetzt worden wären! Um aber den Schlotjunkern jeden Anreiz zur Empfindlichkeit zu nehmen, erklärte Fürst Hohenlohe, den Maßnahmen zum Wohle der arbeitenden Klassen, insbesondere dem Schutze der Arbeiter in den Großbetrieben, müsse nun endlich ein Ziel gesetzt werden. Nach diesen Komplimenten an die weltliche Zwingherrschaft der Land- und Schlotjunker durfte ein Kompliment an die geistliche Zwingherrschaft der Kirche nicht fehlen. Fürst Hohenlohe tat Reu' und Leid wegen seiner kulturkämpferischen Vergangenheit. Sie liege, so sagte er, sich demütig vor dem Zentrum verneigend, fast dreißig Jahre hinter ihm. In staatsmännischem Ernst variierte er das volkstümliche Scherzwort: Es ist schon gar nicht mehr wahr, so lange ist es her. Staat und Kirche Hand in Hand, alles sonst aus Rand und Band, in diesem Gedanken gipfelte sein famoses Programm.

Lobenswert daran war wenigstens, dass Fürst Hohenlohe, indem er sich unverhüllt als Kommis der herrschenden Klassen vorstellte, auch jenes Feigenblatt abwarf, das die Thronrede noch den arbeiterfeindlichen Tendenzen der Umsturzvorlage vorzuheften versucht hatte. Der neue Reichskanzler verschmähte in anerkennenswerter Ehrlichkeit jede Anleihe bei dem abgestandenen Phrasenschatze des „sozialen Königtums". Er behauptete nicht mehr, dass der Schutz der Armen und Schwachen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten der oberste Beruf oder überhaupt ein Beruf der Monarchie sei. Er nannte, ganz wie es dem Standpunkte der ausbeutenden und unterdrückenden Klassen entspricht, das gesetzmäßige Ringen des Proletariats um ein menschenwürdiges Dasein „Bestrebungen, welche die Grundlagen des Staates und der Gesellschaft bedrohen". Leider wurde der wohltuende Eindruck dieser Offenheit einigermaßen dadurch getrübt, dass der Fürst Hohenlohe erklärte, die von ihm gegen die arbeitenden Klassen geplanten Knebelgesetze „entsprächen den Wünschen weitester Volkskreise". Doch darf man deshalb auch nicht zu ungünstig über den hervorragenden Staatsmann urteilen. In den Augen deutscher Reichskanzler besteht das „Volk" nur aus den paar hunderttausend Ausbeutern und Unterdrückern, und den „weitesten Kreisen" dieses engen Zirkels mag wohl die Wiedergeburt des Sozialistengesetzes auf dem Boden des gemeinen Rechts sehr erwünscht sein.

Die Umsturzvorlage selbst hat sich denn nun auch in ihrer ganzen Schönheit offenbart. Man muss ihr das Kompliment machen, dass sie der Rede- und Schreibfreiheit im Deutschen Reich, soviel davon etwa noch vorhanden war, einen gründlichen Kehraus zu tanzen beabsichtigt. Ihren Kern bilden die Verschönerungen, die sie an den Paragraphen 130 und 131 des Strafgesetzbuches vorzunehmen beabsichtigt. Zwar hat sich die Nachricht nicht bestätigt, dass der Paragraph 130 durch die Streichung der Worte „zu Gewalttätigkeiten" verkautschukt werden soll. Diese Worte sollen nicht gestrichen werden, wohl in der berechtigten Erwägung, dass sie gegenüber der Arbeiterpresse durch eine famose Rechtsprechung tatsächlich längst gestrichen worden sind. Dafür will die Regierung diesen Kautschukparagraphen durch den neuen Zusatz noch mehr verkautschuken: „Dieselbe Strafe (Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren) trifft denjenigen, welcher in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Religion, die Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigentum durch beschimpfende Äußerungen öffentlich angreift." Die wohlwollende Absicht, der arbeitenden Klasse jede Diskussion der heutigen Gesellschaftszustände unmöglich zu machen, leuchtet aus diesem lieblichen Satze mit idyllischer Harmlosigkeit hervor. Die Behauptung, mit der Voraussetzung, dass die Angriffe gegen Religion usw. in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise und durch beschimpfende Äußerungen erfolgen müssten, seien die „notwendigen Kautelen" einer „vernünftigen Pressfreiheit" geschaffen, ist hoffentlich nur für die ganz Dummen berechnet, die schließlich selbst im neuen Deutschen Reiche etwas rar geworden sind. Wer das letzte Menschenalter deutscher Rechtsprechung miterlebt hat und sich durch diese „Kautelen" täuschen lässt, der gehört einfach ins Narrenhaus.

Das gleiche gilt von der Verschönerung des Paragraphen 131. Er verhängt dieselben Strafen, wie Paragraph 130, über die, welche wissentlich erdichtete oder entstellte Tatsachen öffentlich behaupten oder verbreiten, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen. Schon in seiner jetzigen Fassung hat dieser Paragraph die wundersamsten Blüten und Früchte der Rechtsprechung gezeitigt. So ist neben unzähligen anderen Schippel ihr zum Opfer gefallen, und gleich mit neun Monaten Gefängnis, weil er den bismärckischen Staatssozialismus eine unter dem Scheine des Gegenteils betriebene Begünstigung der Großen auf Kosten der Kleinen genannt hatte. Das Aussprechen einer vollkommen unanfechtbaren und zutreffenden Wahrheit kann jetzt also schon mit schwerer Freiheitsstrafe geahndet werden, weil irgendeine Handvoll Richter nicht die Fähigkeit oder nicht die Kenntnisse oder nicht den Willen besitzt, in den jeweiligen Behauptungen der jeweiligen Regierung Schein und Sein zu unterscheiden. Aber hier glaubt der neueste Kurs dem berühmten „richterlichen Ermessen" noch ein wenig nachhelfen zu sollen. Nicht mehr bloß wer wissentlich Tatsachen erdichtet oder entstellt usw., sondern auch schon wer Tatsachen, von denen er den Umständen nach annehmen muss, dass sie erdichtet oder entstellt sind, in der angegebenen Weise verbreitet, soll unter den Paragraphen 131 fallen. Damit ist jede, auch die harmloseste und sachlichste Kritik von „Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit" totgeschlagen. Denn nicht nur sämtliche deutsche Staatsanwälte, sondern auch unzählige deutsche Richter wissen, dass alles in Reich und Staat herrlich bestellt und dass alles, was die hohe Obrigkeit tut, wohl getan ist. Wer etwas anderes behauptet, spricht „den Umständen nach" die Unwahrheit. Herr Brausewetter beispielsweise ist in der glücklichen Lage, a priori zu wissen, dass es im preußischen Reiche Lockspitzel niemals gegeben hat und niemals geben kann; in seiner amtlichen Eigenschaft als Vorsitzender einer Strafkammer hat er diese Überzeugung vor Mit- und Nachwelt verkündet. Wer das Gegenteil behauptet, verbreitet überall, wo die Brausewetter richten, erdichtete oder entstellte Tatsachen, von denen er „den Umständen nach" wissen muss, dass sie erdichtet oder entstellt sind. Was die Brausewetter und ähnliche Denker des deutschen Richterstandes mit diesem verschönerten Paragraphen 131 zum Schutze von Gesellschaft und Staat ausrichten können, ist wirklich unabsehbar und unerschöpflich.

Erfreulicherweise tut die Regierung selbst das Notwendige, um alle etwa doch noch möglichen Illusionen über die netten Bescherungen der Umsturzvorlage gründlich zu zerstören. Wir beglückwünschen sie zu der hohen politischen Einsicht, womit sie einen Vorstoß gegen die parlamentarische Immunität gerade jetzt unternimmt oder unternehmen lässt. Nichts braucht sie gegenwärtig, wo sie die Umsturzvorlage durchdrücken will, notwendiger als das Vertrauen auf ihre ehrliche Auslegung von Gesetz und Verfassung. Und da unternimmt oder duldet sie eine staatsanwaltliche Attacke auf diejenigen Paragraphen des Strafgesetzes und der Verfassung, die noch am sichersten gegen die Willkür der Staatsanwälte und Richter gepanzert worden sind. Was Bismarck erst in arger Bedrängnis als einen reaktionären Handstreich wagte, das versucht die Ära Hohenlohe spielend gleich zum Anbeginn ihrer Herrlichkeit: einen plumpen Eingriff in die parlamentarische Redefreiheit. Weil Liebknecht als Reichstagsabgeordneter sich bei einem unversehens ausgebrachten Hoch auf den Kaiser nicht mit erhoben, weil er als Volksvertreter seine Überzeugungen nicht einer höfischen Zeremonie geopfert hat, soll er wegen Majestätsbeleidigung belangt werden, und der neue Reichskanzler macht sich zum Briefträger des Staatsanwalts, indem er dessen Gesuch an den Reichstag um die Genehmigung zur strafrechtlichen Verfolgung Liebknechts getreulich übermittelt.

Es ist wirklich ein erhebendes Schauspiel. Mag es noch hingehen, dass die Junker sich mit wütendem Überschnappen ihrer Loyalität auf die sozialdemokratischen Abgeordneten stürzten: Die Junker hatten wenigstens noch einen zwar sehr schäbigen, aber doch wirklich einen Grund für ihr tobendes Gebaren. Sie wollten jetzt, wo ihnen hellerer Schein vom Throne winkt, die Frevel an der Majestät vergessen machen, die sie eben erst begangen hatten, nicht aus Überzeugung, sondern aus Profitwut. Ein solches Motiv, ruppig wie es sein mag, sticht immer noch gewissermaßen glänzend ab gegen die byzantinischen Krämpfe des gebildeten Pöbels, die sich im reinen Genuss ihres Daseins ergehen, weil jene sozialdemokratischen Abgeordneten getan haben, was ihr gutes Recht war. Und wieder auf diese Krämpfe fällt eine Art versöhnenden Lichtes, wenn der Staatsanwalt den widerrechtlichen Versuch macht, einen Reichstagsabgeordneten anzuklagen, weil er dem Hut nicht Reverenz erwiesen.

Aus der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts wüssten wir nur ein Seitenstück zu dieser Haupt- und Staatsaktion. Vaulabelle erzählt in seiner Geschichte des weißen Schreckens, dass im Jahre 1816 zu Orleans, als man dort in feierlichem Aufzuge das Bildnis Napoleons verbrannte, der Musikdirektor, der die Festlichkeit geleitet, zur Untersuchung gezogen und abgesetzt worden sei, weil er nicht nur statt eines Freudenmarsches einen Trauermarsch habe spielen lassen, „sondern auch die Klarinette mit einem Phlegma und einem Mangel an Enthusiasmus geblasen habe, in welchen sich deutlich Unzufriedenheit aussprach". So weit sind wir jetzt auch in Deutschland: Wer nicht mit demjenigen Enthusiasmus und Mangel an Phlegma, das irgendein beliebiger Staatsanwalt für notwendig hält, die Klarinette bläst, der verfällt dem Strafgesetze. Nur mit dem noch erschwerenden Umstande, dass die deutschen Reichstagsabgeordneten durch die Verfassung ausdrücklich das Recht erhalten haben, die Klarinette zu blasen, wie ihnen beliebt und nicht, wie es dem Staatsanwalt gefällt.

Ohne irgendeine unzeitige Begeisterung für den gegenwärtigen Reichstag darf man als sicher annehmen, dass er die Genehmigung zur strafrechtlichen Verfolgung Liebknechts nicht erteilen wird. Ein Parlament, das sich dazu erniedrigte, würde sich in der Geschichte des Parlamentarismus an einen Pranger schmieden, von dem es keine Macht der Welt mehr losreißen könnte. Es steht auch zu hoffen, dass der Reichstag diesen Versuch, in seine verfassungsmäßigen Rechte einzugreifen, mit demjenigen Nachdruck zurückweisen wird, der nach Lage der Dinge angezeigt ist. Es genügt nicht, dass er die Genehmigung zur strafrechtlichen Verfolgung Liebknechts versagt; er muss auch die Absicht, Liebknecht wegen Ausübung seines parlamentarischen Berufs überhaupt zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, als ein dreistes Attentat auf die Verfassung kennzeichnen. Einstweilen ist erlaubt anzunehmen, dass sich der Reichstag dieser Aufgabe gewachsen zeigen wird.

Für die Kritik der Umsturzvorlage aber konnte die Regierung gar nichts Besseres beibringen als diesen staatsanwaltlichen Versuch, an einem vollkommen klaren und unzweideutigen Paragraphen der Verfassung zu rütteln. Wer nach solchen Proben noch daran zweifelt, dass es bei der weiteren Verkautschukung der Paragraphen 130 und 131 des Strafgesetzbuches und bei der Umsturzvorlage überhaupt auf die völlige Abwürgung der Press- und Redefreiheit für die arbeitenden Klassen abgesehen ist, der kann nicht einmal mehr die Entschuldigung einer gutgläubigen Beschränktheit für sich geltend machen. Er treibt offenen Verrat an den paar dürftigen Rechten der Massen, die bisher noch gerettet worden sind.

Auf einen unglücklicheren Gedanken konnte die Ära Hohenlohe nicht wohl verfallen, als ihre hilflose Schwäche unter allerlei Kraftmeiereien zu verbergen. Aber es wäre der Gipfel der Undankbarkeit, wenn wir ihr deshalb zürnen wollten.

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