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Franz Mehring 18940704 Zur Politik des neuen Kurses

Franz Mehring: Zur Politik des neuen Kurses

4. Juli 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 74-78]

Trotz allen Geschreies, das in Deutschland namentlich die konservative und nationalliberale Presse erhebt, scheint das Geschäft der internationalen Reaktion nicht recht auf die Strümpfe kommen zu wollen. Bisher ist einzig in Italien ein praktischer Versuch zur völligen Russifizierung der europäischen Zustände unternommen worden; Crispi, der ehemalige Genosse Garibaldis und nunmehrige Freund Bismarcks, hat sich dieses Lumpenstreichs fähig erwiesen. Dagegen bestätigt der neue Kurs in Deutschland unsere vor acht Tagen geäußerte Ansicht, dass die europäischen Minister wenigstens durchweg nicht so töricht seien, wie sie sich im Interesse der heiligen Ordnung gewöhnlich anstellen müssten; die Betrachtungen, die er in der „Politischen Korrespondenz", der Wiener Allerweltsoffiziösen, an die Ermordung Carnots knüpft, zeigen ihn als nicht ganz unfähig, aus der Geschichte zu lernen.

Es lohnt sich, die wesentlichsten Sätze dieser Kundgebung kurz zusammenzufassen. Der neue Kurs betrachtet den leidenschaftlichen Ruf nach Hilfe gegen den Anarchismus als den zweiten abgeschwächten Grad jener blinden Volkswut, die sich auf die vermeintlichen Angehörigen des Verbrechers wirft wie der französische Pöbel auf die Italiener. Zahmer, aber kaum vernünftiger sei die Forderung, den Anarchismus schleunigst auszurotten. Es sei wie vor dem Bette eines Schwerkranken: Während der Arzt gespannt auf die Zeichen der Heilkraft lausche, schreie die unverständige Umgebung nach Heilmitteln, und nicht selten werde der Arzt sich genötigt sehen, zum Scheine Medizin zu verschreiben. Was sei gegen den Anarchismus zu tun? Es gebe in der Tat nur ein einziges Mittel, nämlich die Verbesserung der Polizei. Die französische Polizei habe offenbar ihre Schuldigkeit in der Überwachung der anarchistischen, ihr doch bekannten Elemente nicht getan. Die Leute, die so laut nach neuen Maßregeln riefen, wüssten entweder gar keine eigenen Vorschläge zu machen oder ganz unbrauchbare. Möge man fordern, dass England sein Asylrecht einschränke. Es werde vielleicht geschehen. Aber das Verbrechen in Lyon sei nicht einmal in England entworfen worden. Die unzweckmäßigsten Vorschläge gingen auf neue und verschärfte Maßregeln gegen die Sozialdemokratie. Als ob diese Krankheit nicht viel ungefährlicher geworden sei und ihrer Heilung, d. h. dem Erlöschen entgegen reife, seitdem ihr die öffentliche Diskussion gestattet und damit auferlegt sei. Der Reichskanzler Graf Caprivi besitze den Mut der Kaltblütigkeit, der ein anderer sei als der Mut der Leidenschaft. Die kaltblütige Vernunft durchschaue das Unnütze aller Ausnahmeregeln. Ob sie aber zur Beruhigung weiter Kreise, die durch den Schreck außer alle Fassung gesetzt worden seien, nicht genötigt werde, in Maßregeln zu willigen, die mehr schaden als nützen würden, könne man wohl im Augenblicke noch nicht sagen.

In dieser Auslassung hat man den neuen Kurs vor sich, wie er leibt und lebt, mit seinen guten und seinen schlechten Seiten. Erst wird eine Reihe ganz plausibler oder doch vom Standpunkte der deutschen Reichsregierung aus erklärlicher Ansichten entwickelt, etwa in dem Sinne: Dies wäre das Vernünftige, was wir tun oder lassen können. Und dann folgt der Schluss: Ob wir aber dies Vernünftige oder das nach unserer Ansicht Unvernünftige tun oder lassen werden, das wird die Zukunft lehren. Fast möchte man annehmen, dass mit dieser Schlusswendung eine ironische Abfertigung der reaktionären Schreier beabsichtigt sei. Aber leider lässt die bisherige Politik des neuen Kurses eine so wohlwollende Auslegung nicht zu. Er hat oft genug schon in der Theorie eine ganz verständige Ansicht vertreten, um dann in der Praxis sofort in die entgegengesetzte Ansicht umzuschlagen. Wie kann eine Regierung überhaupt als möglich zugeben, dass sie das Schädliche tun werde, um weite Kreise zu beruhigen, die durch den Schreck außer alle Fassung gesetzt worden seien? Das heißt die Unvernunft der Feigheit als obersten Staatszweck verkünden. Und wer sind denn die „weiten Kreise"? Eine Handvoll Junker und Kapitalisten, die durchaus nicht „außer alle Fassung" gesetzt sind, sondern mit der kaltblütigsten Überlegung von der Welt die anarchistischen Attentate als Vorwand benützen möchten, um erstens von neuem die Arbeiterklasse zu knebeln und willenlos ihrem ausbeuterischen Joche zu unterwerfen und zweitens dem neuen Kurse einen gründlichen Kehraus zu tanzen. Mit jenem Schlusssatze seiner offiziösen Kundgebung liefert sich das System Caprivi gewissermaßen selbst seinen Todfeinden aus, und das ist eine Politik, die man sehr höflich kritisiert, wenn man sie bloß dilettantisch nennt.

Soviel aber die praktische Schlussfolgerung in dem Berliner Briefe der „Politischen Korrespondenz" zu wünschen übrig lässt, so sehr sind seine theoretischen Sätze über den Anarchismus der albernen und schmutzigen Reaktionspolitik eines Bismarck und Crispi überlegen. Nicht als ob sie die Frage irgendwie erschöpften oder als ob sie auch nur frei von groben Unrichtigkeiten wären! Aber sie haben doch wenigstens eine Ahnung von dem wirklichen Zusammenhange der Dinge und heben sich scharf genug von dem jammervollen Gebelfer ab, womit hierzulande die konservative Junker- und die liberale Bourgeoispresse die anarchistischen Attentate auszubeuten sucht. Man mag es bedauern, dass die deutsche Regierung mit der Möglichkeit rechnet, England zur Einschränkung seines Asylrechts anzutreiben, aber die Zwecklosigkeit eines Attentats auf dies letzte Asyl der Freiheit wird doch verständlich genug angedeutet. Es ist gewiss nicht wahr, dass gegen den Anarchismus kein anderes Kraut gewachsen ist als die Verbesserung der Polizei, aber auch dieser Satz hat einen guten Sinn, wenn man erwägt, dass die europäische und ganz besonders die französische Polizei an der künstlichen Heranzüchtung des Anarchistenschreckens ein großes Teil der Schuld trägt. Die allweise „Frankfurter Zeitung" spottete dieser Tage darüber, dass die sozialdemokratische Presse die Ermordung Carnots noch nicht aufs Konto von Lockspitzeln gesetzt habe. Nun, die richtige Antwort auf diesen Börsenwitz hat inzwischen die „Weekly Dispatch" erteilt, auch ein bürgerlich-demokratisches Blatt, aber ein Blatt, das die Aufgabe der bürgerlichen Demokratie im gegenwärtigen Augenblick doch nicht darin sieht, einem typischen Vertreter der kapitalistischen Korruption und polizeilichen Repression, wie Casimir Perier ist, mit vollen Händen Weihrauch zu streuen. Der Pariser Korrespondent der „Weekly Dispatch" hat es allerdings mehr als bloß wahrscheinlich gemacht, dass die Nebenbuhler Carnots um die Präsidentschaft, teils um sich als Gesellschaftsretter vorzubereiten, den Anarchistenschrecken mittel- und unmittelbar gesteigert, teils um Carnot zum Verzicht auf seine Wiederwahl zu drängen, den Schutz für seine persönliche Sicherheit vernachlässigt haben. Mag sich also die „Frankfurter Zeitung" mit ihren eigenen Gesinnungsgenossen in London oder mit den preußischen Offiziösen in Wien auseinandersetzen, die sie durch schnöde Witzeleien über die sozialdemokratische Presse für die Unschuldsreinheit der französischen Polizei eine Lanze brechen will!

Was endlich die „Politische Korrespondenz" über neue und verschärfte Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie sagt, ist gleichfalls eine hervorragende Leistung staatsmännischer Einsicht, gemessen an dem Maßstabe, an den wir durch das diplomatische Genie des alten Kurses gewöhnt worden sind. Wir lassen dem neuen Kurse gern die Illusion, dass „diese Krankheit", nämlich die sozialdemokratische Bewegung, dem Erlöschen entgegen reife, seitdem ihr die öffentliche Diskussion gestattet sei.

Wir haben weiter kein Bedürfnis, diesen glücklichen Glauben zu stören. Jedenfalls hat das System Caprivi darin Recht, dass Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie die unzweckmäßigsten Vorschläge zur Beseitigung des Anarchismus seien. Man würde hierdurch die einzige Macht lahm legen, die überhaupt den Anarchismus ausrotten kann, gleichviel welchen Ursprung der Anarchismus hat, ob einen naturwüchsig-revolutionären oder einen künstlich-polizeilichen. Der Anarchismus in seiner praktischen Gestalt, die Propaganda der Tat, die durch Attentate, Komplotte, Putsche die kapitalistische Gesellschaft umstürzen will, ist das naturnotwendige Erzeugnis dieser Gesellschaft auf einer gewissen Stufenleiter. Wirft die kapitalistische Produktionsweise alljährlich Tausende und Zehntausende aus Arbeit und Eigentum, so werden sich unter diesen Opfern einer wahnwitzig gewordenen Gesellschaftsordnung immer zehn und Hunderte finden, die, wenn sie alles verloren haben bis aufs nackte Leben, auch dies nackte Leben hinterdrein werfen, um einen Versuch zur Rettung zu machen oder wenigstens Rache an ihren Peinigern zu nehmen. Dagegen hilft alle Polizei nichts. Und wenn sie die Augen des Argus besäße, so könnte sie nicht die Massen genügend überwachen, um eine durch den kapitalistischen Mechanismus tagtäglich neu erzeugte Disposition der Gemüter in ihrem allmählichen Aufkeimen und Wachsen unter beständiger Kontrolle zu halten. Was gegen diese Disposition allein hilft, ist die Aufklärung der Massen, ihre Einsicht, dass sie nicht oder doch nur sehr in zweiter Reihe unter dem bösen Willen einzelner Personen leiden, dass sie deshalb mit gelegentlichen Gewalttaten nichts ausrichten, sondern sich die Ketten nur noch fester an die Glieder schnüren, dass es allgemeine Zustände sind, die ihr Elend verursachen und demgemäß ihre Organisation als politische Partei erforderlich ist, um diese Zustände in einer ihren Interessen entsprechenden Weise umzuwälzen. Wo es eine starke und wachsende Arbeiterpartei gibt, da ist der Anarchismus tot oder schwindet in hoffnungslosem Siechtum dahin. Eine solche Partei ist ebenso die Todfeindin des Anarchismus, wie die kapitalistische Gesellschaft seine Erzeugerin ist; die anarchistische Propaganda der Tat ist nicht ein Hebel, sondern ein Hindernis des proletarischen Emanzipationskampfes.

Rabiate Vertreter der Gewalttheorie können daraus die Schlussfolgerung ziehen, oder haben sie, wie der frühere Minister von Puttkamer, auch gezogen: Dann sind uns die Anarchisten immer noch lieber als die Sozialisten, und hieraus erklärt sich die polizeiliche Zärtlichkeit für den Anarchismus. Man wird auch den lauten Vorsängern der „weiten Kreise", die jetzt wegen der anarchistischen Attentate nach reaktionären Gewaltmaßregeln gegen die Arbeiterklasse schreien, kein Unrecht zufügen, wenn man annimmt, dass sie recht gut wissen, was sie tun. Aber diese Medaille hat gleichfalls ihre Kehrseite, selbst für die opfermutigen Helden des Kapitalismus, die eine lebensgefährliche Steigerung des Anarchismus in den Kauf nehmen möchten um den Preis einer Schwächung des Sozialismus. Dieser Preis ist unter den heutigen Verhältnissen überhaupt nicht mehr zu haben, und so viel darf man dem neuen Kurse zugestehen, dass er aus der Geschichte des Sozialistengesetzes etwas mehr gelernt hat, als der alte Kurs daraus zu lernen vermochte.

Aber er sollte nun auch konsequent sein. Die idyllischen Tage des Kapitalismus sind für immer vorbei. Je mehr er sich entwickelt, umso rascher entfernt er sich von ihnen. Diese Lage mag ihr Peinliches haben für Regierungen, die trotz alledem die „moderne Kultur" vor den „modernen Barbaren" retten wollen. Und wenn sich der neue Kurs die verständigere Politik, zu der ihn seine verständigere Gesinnung und seine größere Einsicht treibt, dadurch versüßen will, dass er auf diese Weise die Sozialdemokratie zum „Erlöschen" zu kriegen glaubt, so wäre es unbillig, ihm diese Illusion allzu scharf vorzurücken. Aber was nicht erlaubt ist und was deshalb auch unmöglich sein sollte, ist das Bekenntnis: Wir wissen wohl, was Gerechtigkeit und Klugheit gebieten, aber wenn die – ehrliche oder auch unehrliche – Angstmeierei gewisser Leute uns das Gegenteil von Gerechtigkeit und Klugheit gebietet, sind wir bereit, auch das zu tun. Mit einer Politik nach diesem Rezepte würde der neue Kurs sich, wie gesagt, seinen Todfeinden in die Hände liefern, und er hätte nicht einmal das Recht, sich zu beklagen, wenn sie ihn unter lautem Hohngelächter begrüben.

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