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Franz Mehring 18941024 Zur Selbstkritik des Sozialismus

Franz Mehring: Zur Selbstkritik des Sozialismus

24. Oktober 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 129-132. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 79-83]

Die Selbstkritik gehört zu den schwierigsten Aufgaben, wie für den einzelnen Menschen, so für eine Partei. Zumal für eine kämpfende Partei, die Tag für Tag mit den Waffen in der Hand streitet, die von Feinden ringsum bedrängt ist und die im allgemeinen wenig Neigung haben wird, aus ihrer eigenen Mitte belehrende Vorträge darüber anzuhören, dass nicht alle ihre Waffen in tadellosem Zustande sind, dass dieser Schild längst geborsten und jenes Schwert längst verrostet ist. In heißem Kampfe kann sich überhaupt kein Mensch, geschweige denn eine Partei blank wie eine Puppe des Paradeplatzes halten; ohne Risse und Schrammen und Wunden geht es da niemals ab, auch nicht für die am besten gerüstete Partei gegenüber der am schlechtesten gerüsteten. Der Tugendbold soll auch noch erst geboren werden, dem im Kampfe nicht mal ein „Sauhieb" mit unterläuft; wie viel ist nach dieser Richtung hin beispielsweise einem Manne wie Voltaire nachgesagt oder sogar nachgewiesen worden, ohne dass damit der historischen Größe und der revolutionären Wirksamkeit des Alten von Ferney irgendwie Abbruch geschehen wäre. Und wie von Voltaire, so lässt sich von jedem großen Kämpfer, dessen Andenken uns die Geschichte überliefert hat, mit einigem guten Willen ein Zerrbild entwerfen; in der Weltgeschichte geht es nicht so gemütlich zu wie in der Gesellschaft für ethische Kultur, und es ist in der Tat das gemeinsame Los aller revolutionären Erscheinungen in der Geschichte gewesen, dass sie die Fehler und selbst die Laster der Kraft gehabt haben.

Auf der anderen Seite braucht nun aber eine revolutionäre Partei die Selbstkritik wie das liebe Brot. Kapselt sie sich in ein bestimmtes Programm, in eine bestimmte Taktik für immer ein, mag dieses Programm und diese Taktik zu einer gewissen Zeit noch so berechtigt gewesen sein, wächst und wechselt sie nicht mit ihren wachsenden und wechselnden Aufgaben, so ist sie verloren. Wie viele traurige Beispiele für diesen Satz liefert das Schicksal der bürgerlich-revolutionären Parteien von 1848! Von Anfang an unterschied sich die proletarische Revolution darin von der bürgerlichen, dass sie in hohem Maße fähig war zu lernen, Irrtümer abzustreifen, neue Wege einzuschlagen, kurzum, allemal die ausgiebigste Selbstkritik zu üben. Wie nun diese anscheinend widersprechenden Erscheinungen vereinigen, hier die nervöse Ungeduld gegen, dort die hoch gesteigerte Empfänglichkeit für die Selbstkritik? Offenbar ist der springende Punkt das Interesse der Partei. Wo dies Interesse anfängt und aufhört, da beginnt und endigt auch das Recht der Selbstkritik. Für eine larmoyante Selbstkritik, die vom idealen Standpunkt aus noch so viel mit noch so viel Recht tadeln mag, aber sonst weder Schneide noch Spitze hat, wird eine kämpfende Partei immer verzweifelt wenig Verständnis übrig haben; dagegen wird eine solche Partei stets sehr feinhörig sein für jede Selbstkritik, die ihr praktisch auf ihren Bahnen weiterhilft. Kann die Selbstkritik das Interesse der Partei fördern, indem sie ihre Waffen tadelt, um sie schärfer zu machen, so wird sie immer willkommen geheißen werden; mäkelt sie aber an den Waffen herum ohne den geringsten Versuch, sie wirklich auf den Amboss zu legen und schärfer zu schmieden, so wird sie sich über keinen Überschuss an Wohlwollen zu beklagen haben.

Jene erste Voraussetzung einer berechtigten Selbstkritik vermissen wir zu unserem Bedauern an der Broschüre „Das kommunistische Manifest und die heutige Sozialdemokratie", welche Richard Calwer, der Redakteur des Braunschweiger Parteiorgans, kürzlich veröffentlicht hat. Die Aufnahme seiner Arbeit durch die sozialdemokratischen Tagesblätter wird den Verfasser bereits überzeugt haben, dass revolutionäre Parteien nicht übermäßig für larmoyante Selbstkritik schwärmen, und das kann man insofern immerhin bedauern, als Calwer einzelne Missstände in der Partei recht gut beobachtet und geschildert hat. Wir möchten diesen Gesichtspunkt umso schärfer hervorheben, als manche Parteiblätter ein wenig das Kind mit dem Bade verschüttet haben, indem sie Calwers Schrift als eine missglückte Stilübung ohne viel Federlesens abfertigten. Unseres Erachtens enthält sie Wahres genug. Umso schlimmer versieht es der Verfasser in zwei anderen Beziehungen. Erstens schreibt er so, dass die Bourgeoispresse ganze Seiten zum höchsten Gaudium ihrer Leser abdrucken konnte und abgedruckt hat, zweitens aber beschränkt er sich auf allgemeine Beschuldigungen, mit denen weiter nichts anzufangen ist, als dass sie der Leser nach seiner Kenntnis der Dinge für richtig oder für unrichtig erklärt, womit dann jedenfalls an den Zuständen der Partei nicht das Geringste gebessert ist.

Nehmen wir beispielsweise, was Calwer über die Parteiliteratur sagt. Er schreibt: „Neben manchem trefflichen Werke – ein Wust von literarischen Erzeugnissen, welche Papier und Druckerschwärze nicht wert sind, aber mit großem Reklameapparat auf den Büchermarkt für Arbeiter geworfen werden!" Das scheint nun schon hinlänglich grob zu sein, aber Calwer räsoniert noch eine ganze Strecke ins Feld hinein: Gelegenheitsgedichte ohne jeden dauernden Wert, große Rohheit des Fühlens, Schund, Blödsinn, Reimereien elendester Art, aus bürgerlichen Büchern zusammengeschriebene Sammelsurien usw. usw., und dabei beklagt er sich noch über das „Geschimpfe" – nämlich anderer Parteimitglieder. Aber genannt wird kein einziges der von ihm in die Tiefen der Hölle verfluchten Erzeugnisse, und damit verpufft die ganze sittliche Entrüstung, wie gesagt, zum Gaudium der Gegner und ohne jeden Nutzen für die Partei, also im Endergebnis zur Schädigung der Partei. Ist die schlechte Parteiliteratur so massenhaft vorhanden, wie Calwer behauptet, so musste es ihm ein Leichtes sein, ein Dutzend oder auch ein paar Dutzend Proben herauszugreifen und ihren Urhebern ihr Handwerk gründlich zu legen, in einer Form, die der mithustenden Bourgeoispresse jeden Ausdruck ihrer Teilnahme von vornherein verleidet hätte. Dann hätte Calwer der Partei einen großen Dienst geleistet, vorausgesetzt, dass die schlechte Parteiliteratur wirklich so sehr ins Kraut geschossen ist, worüber wir uns hier kein Urteil erlauben wollen.

Mit sehr viel sanfteren Ausdrücken konnte Calwer ungleich tiefer ins etwaige faule Fleisch schneiden, wenn er klipp und klar gesagt hätte, wo dies faule Fleisch sitzt. Sein Prinzip, keine Personen zu nennen, sondern nur im Allgemeinen zu kritisieren, ist bei einer Selbstkritik der Partei durchaus nicht angebracht. Eine kämpfende Partei ist verpflichtet, alles Faule von sich zu tun, von dem ihr nachgewiesen wird, dass es ihren Kampf hindert, aber sie ist nicht einmal berechtigt, geschweige denn verpflichtet, mit allgemeinen Lamentationen über ihre eigene Schlechtigkeit ihre Zeit zu vertrödeln. Obendrein bleibt Calwer seinem Prinzip nicht einmal treu, sondern nennt Personen, wo er zu loben hat. Es ist ein etwas fatales Zusammentreffen, dass es die in der Bourgeoispresse so genannten Führer der Partei sind, bei denen er alles in schönster Ordnung findet. Gewiss mit vollem Recht, aber wenn an der Spitze der Partei alles so gut bestellt ist, überzeugt man sich schwer von der Notwendigkeit, ein so schreckliches Hallo darüber zu erheben, dass irgendein armer Teufel von Provinzredakteur mit Albertis Komplimentierbuch auf gespanntem Fuße steht und im Zweifelsfalle lieber drei Himmelkreuzdonnerwetter! vom Stapel lässt als eins.

Calwers Grundirrtum beginnt gleich beim Titel seiner Broschüre. Er verspricht, die heutige Sozialdemokratie am Kommunistischen Manifest zu messen, misst sie tatsächlich aber nur an einigen Sätzen dieses Manifests. Es geht dabei nicht ohne einige Missverständnisse ab, doch an Kleinigkeiten wollen wir uns nicht aufhalten. Wichtiger ist, dass Calwer überhaupt das Kommunistische Manifest ganz schablonenhaft auffasst. Wenn das Manifest in einem bestimmten historischen Zusammenhange von Bourgeoisideologen spricht, die sich zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung hinaufgearbeitet haben, so macht Calwer aus diesem Satze den Prüfstein, an welchem die Parteischriftsteller gemessen werden sollen. Das ist aber die reine Schablone. So wünschenswert es ist, dass alle Parteischriftsteller das theoretische Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung besitzen, so sicher ist es, dass es ein gewisser Lassalle im Sinne des Kommunistischen Manifests nicht besessen hat. Es kommt eben doch alles auf die besonderen historischen Umstände an. Hatte der spezifische Lassalleanismus vor dreißig Jahren seinen historischen Sinn, so wäre er heute ein sehr unhistorischer Unsinn; das ist ja unbestritten, und wir wollen auch keineswegs behaupten, dass in den Parteischriftstellern, die das Kommunistische Manifest nach Calwers Behauptung noch nicht geistig verdaut haben, lauter Lassalles stäken. Was wir sagen wollen, ist nur dies: Die heutige Sozialdemokratie ist das Produkt bestimmter historischer Zustände, aus denen heraus sie auf ihr Recht und ihr Unrecht geprüft werden muss; mit einer schablonenhaften Formel ist da nichts auszurichten, und so haben Marx und Engels das Kommunistische Manifest auch gar nicht gemeint.

In der Tat fürchten wir, dass Calwer, an seiner eigenen Formel gemessen, selbst sehr schlecht bestehen würde. Hätte er sich zum Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung hinaufgearbeitet, so würde er die heutige Sozialdemokratie nicht an einzelnen, aus dem Zusammenhange gerissenen Sätzen, sondern an dem Geiste des Kommunistischen Manifests gemessen haben. Er würde sie dann aufgefasst haben als die revolutionäre Arbeiterbewegung auf einer bestimmten Stufe ihrer historischen Entwicklung. Er würde das, was er für ihre Schattenseiten hält, nicht einfach als „Schund" oder „Blödsinn" verdonnert, sondern untersucht haben, aus welchen Gründen, aus welchen Zuständen sich diese Schattenseiten entwickeln, ob sie nicht vielleicht untrennbar mit Lichtseiten zusammenhängen, die der Partei zur höchsten Ehre gereichen. Damit wird keineswegs verlangt, dass die historische Erklärung solcher Schattenseiten etwa ihre politische Rechtfertigung sein sollte; alles verstehen heißt unter Umständen alles bekämpfen. Aber man weiß dann doch wo und wie, während Calwers moralisch-sentimentale Kritik im schärfsten Widerspruche mit dem Kommunistischen Manifest steht. „Das plumpe Dreinschlagen nützt in der Polemik äußerst wenig", wie Calwer selbst sagt, nämlich wo er von der Polemik der Parteipresse gegen die Bourgeoisie spricht.

Der Satz selbst ist übrigens von einer anfechtbaren Richtigkeit. Das plumpe Dreinschlagen mit Papierwischen hat freilich keinen Zweck, aber das derbe Dreinschlagen mit Keulen kann sehr notwendig und nützlich sein. Wir fühlen uns nicht zu Sittenrichtern darüber berufen, ob in der Parteipresse zu viel „geschimpft" wird, jedenfalls ist es aber notwendig, bei der ganzen „Schimpf"frage zwei sehr verschiedene Gesichtspunkte auseinander zu halten. „Schimpfen" im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. den Gebrauch grober Worte ohne triftige Gründe, wird jeder vernünftige Mensch verwerfen, aber Calwer – und er ist nicht der erste – verwirft auch den kräftigen, persönlichen Kampf der Arbeiterblätter, da ja nach der materialistischen Geschichtsauffassung die einzelnen Fabrikanten und Kapitalisten Produkte der Verhältnisse seien, sich in einer Zwangslage befänden usw. Das ist nun wieder eine durchaus schablonenhafte Auffassung. Die Zustände, welche die Arbeiterklasse bekämpft, treten ihr feindselig, gehässig, kampfbereit in den persönlichen Trägern dieser Zustände entgegen, und da soll die Sozialdemokratie den armen, unschuldigen Lämmern ja kein persönliches Leid antun, weil ihre persönliche Schlechtigkeit sich aus der Schlechtigkeit der von ihnen fanatisch verteidigten Zustände ergibt! Und wenn nur diese Biedermänner nicht noch obendrein mit dem „Schimpfen" anfingen, und zwar mit dem „Schimpfen" in der gemeinsten und verächtlichsten Form, mit der systematischen Verleumdung der Arbeiter und der Arbeiterbewegung! Das soll man ihnen am Ende noch verzeihen, weil sie die materialistische Geschichtsauffassung nicht kennen und den Personen der Arbeiter die Schuld an der Arbeiterbewegung zuschreiben! Glücklicherweise prallen solche Verlockungen zur „staatsmännischen" Leisetreterei immer an dem gesunden Verstande der Massen ab; die Arbeiter lassen niemals von dem preiswürdigen Grundsatze, auf einen Schelmen anderthalbe zu setzen, wie es beiläufig, solange die Welt steht, jede lebenskräftige und zukunftsfrohe Klasse getan hat.

Doch es würde uns zu weit führen, in alle Einzelheiten von Calwers Schriftchen näher einzugehen. Sie enthalten zweifellos manche gute und richtige Beobachtung, obwohl auch denjenigen Sätzen, die vermutlich in weiten Kreisen der Partei als zutreffend anerkannt werden, gewöhnlich dadurch die Spitze abgebrochen wird, dass Calwer den Dingen nicht auf den Grund geht, dass er – in mehr oder weniger drastischer Form – Wirkungen schildert, ohne ihre Ursachen mit der nötigen Genauigkeit zu untersuchen. Dadurch kommt auch das an sich scharf Beobachtete in eine schiefe Beleuchtung, und wir fürchten, dass Calwers gewiss redliches Bemühen ohne die gehoffte Wirkung bleiben wird. Doch wie dem immer sei – uns kam es hier vornehmlich darauf an, an dem Schriftchen eine gewisse Abart der Selbstkritik zu signalisieren, von der es nicht wünschenswert wäre, dass sie in der Partei um sich griffe.

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