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Franz Mehring 18950828 Der Essener Meineidsprozess

Franz Mehring: Der Essener Meineidsprozess

28. August 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Zweiter Band, S. 705-708. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 100-104]

Je länger je weniger kann man sich über den tiefen Eindruck täuschen, den das Urteil der Essener Geschworenen auf die bürgerliche Gesellschaft gemacht hat. Es ist der Eindruck eines blendenden Blitzstrahls, der ihr den klaffenden Abgrund zeigt, dem sie mit unheimlicher Schnelligkeit entgegeneilt. Mag sein, dass einzelne ihrer Schichten ein Gefühl geheimer Schadenfreude empfinden, aber auch diese wagen nicht offen zu triumphieren. Hoffentlich glauben die Essener Geschworenen selbst an die Richtigkeit ihres Spruchs; man muss es zu Ehren des menschlichen Geschlechts annehmen. Sonst kann man in ganz Deutschland die Leute mit der Laterne suchen, die das Urteil des Schwurgerichts nicht für objektiv falsch und ungerecht halten.

Und hieraus erklärt sich der überwältigende Eindruck, den es in der bürgerlichen Gesellschaft hervorruft und der umso schärfer hervortritt, als das Rechtsbewusstsein des deutschen Bürgertums niemals besonders fein und stark entwickelt war. Seit dreißig Jahren und noch länger ist es noch dazu systematisch abgestumpft worden, und es muss schon sehr derbe Fußtritte bekommen, ehe es sich regt. Namentlich die preußische Reaktion hat es von jeher verstanden, die Justiz zur Dirne der Gewalt zu machen; die Manteuffeleien der fünfziger und die bismärckischen Kulturtaten der siebziger und achtziger Jahre legen dafür eine Fülle der unwiderleglichsten Zeugnisse ab. In den fünfziger Jahren ballte der liberale Spießbürger wohl noch die Faust in der Tasche, denn damals musste er selbst mit daran glauben. Diese tugendhaften Regungen verloren sich aber gänzlich in der Herrlichkeit des neuen Deutschen Reichs, und ganz besonders seit dem Erlass des Sozialistengesetzes. Der brave Patriot nahm in den vielen Tausenden von Beamten-, Bismarck-, Majestäts- und sonstigen Beleidigungsprozessen die oft aller Gerechtigkeit hohnsprechenden Urteile als einen legitimen Krieg gegen die schwarzen und namentlich gegen die roten „Reichsfeinde" hin oder günstigenfalls als einen unerforschlichen Ratschluss Gottes, in den man sich wohl oder übel fügen müsse.

In die Pauke, die mit mächtigem Bumbum die leere Litanei von dem deutschen Rechtsstaat begleitete, hat nun das Essener Urteil ein gewaltiges Loch geschlagen. Der deutsche Philister ist einer kräftigen und reinen Empfindung nicht mehr fähig, und es ist durchaus kein ideales Rechtsbewusstsein, das sich in ihm gegen den Fehlspruch aufbäumte, dem Schröder und seine Genossen zum Opfer gefallen sind. Er fühlt sich gewiss auch in dem, was er für Gerechtigkeit hält, durch den starken Stoß erschüttert, aber dies gestörte Gleichgewicht würde sich nach einigem weisen Kopfschütteln am Stammtische bald wieder herstellen. Was ihn härter mitnimmt, ist einerseits die allgemeine Rechtsunsicherheit, die das Essener Urteil schafft, indem es jeden, auch den zahmsten Staatsbürger bei Strafe des Zuchthauses vogelfrei macht für die Faust oder Klinge irgendeines brutalen Gendarmen, und ist anderseits die instinktive Empfindung, dass mit diesem Urteil der Vernichtungskrieg gegen das revolutionäre Proletariat eine Schärfe angenommen hat, bei der sich die Bourgeoisie am tiefsten in die Finger schneiden muss. Keine herrschende Klasse verträgt auf die Dauer die völlige Zerstörung der Illusionen, auf denen der allgemeine Glaube an das Recht ihrer Herrschaft beruht; der Sturmvogel kündigt nicht sicherer den Sturm an als die unbeschränkte Klassenjustiz den Sturz der Klasse, welche sie ausübt. In dem Spruche der Essener Geschworenen hat die bürgerliche Justiz das letzte Feigenblatt abgestreift und unverhüllt ihren Klassencharakter offenbart. Es ist nur zu begreiflich, dass die bürgerliche Gesellschaft darüber etwas wie Todeswehen in ihren Gliedern verspürt.

Es ist deshalb nicht weniger begreiflich, ja es ist umso begreiflicher, als in dem Essener Meineidsprozess alles sozusagen mit rechten Dingen zugegangen ist. Vergleicht man ihn mit früheren Prozessen der preußischen Geschichte, in denen Mitglieder der beherrschten Klassen um ihrer den herrschenden Klassen unbequemen Gesinnungen willen in der Form Rechtens umgebracht wurden, so sieht er außerordentlich reinlich aus. Nehmen wir beispielsweise den Kommunistenprozess von 1852 und den Ladendorfschen Prozess von 18531 Jener ähnelte dem Essener Meineidsprozess darin, dass Geschworene den Fehlspruch taten, dieser darin, dass die Opfer ins Zuchthaus geschickt wurden. Worin sie sich von ihm aber gänzlich unterschieden, das war die Fülle der Infamien, welche die Polizei in den fünfziger Jahren aufbot, um auf die unschuldigen Angeklagten den Schein der Schuld zu werfen. In dem Kommunisten- wie in dem Ladendorfschen Prozess fälschte und stahl sie Dokumente, warb sie falsche Zeugen und schwor mit eigener Faust Meineide die schwere Menge; sie belud sich mit den nichtswürdigsten Verbrechen, um den Klassencharakter der Justiz, die an den Angeklagten geübt wurde, zu verbergen und ihr den Schein einer unparteiischen Gerechtigkeit zu geben.

Von solchen Verbrechen ist das Prozessverfahren gegen Schröder und Genossen ganz frei gewesen. Wenn wir wissen, dass die Angeklagten unschuldig waren, so sagen wir nicht, dass die, welche das Gegenteil ihrer Aussagen beschworen, Meineide geleistet haben müssen. Wir sagen es nicht einmal von dem Gendarmen Munter; rohe Patrone dieser Art, die auf jeden harmlosen Menschen, der ihnen begegnet, mit brutalen Schlägen und gemeinen Schimpfworten eindringen und es bei der Rechtfertigung ihrer Heldentaten mit der Wahrheit, so wenig genau nehmen wie mit ihren sonstigen Amtspflichten, brauchen deshalb doch noch keine heimtückischen Meineide zu leisten. Diejenigen bürgerlichen Blätter, die mit dem Essener Wahrspruche unzufrieden sind, haben ganz gut nachgewiesen, dass die Augenzeugen eines tumultuarischen Vorgangs, der sich in wenigen Augenblicken abspielte, in ihren Bekundungen über das, was sie gesehen oder nicht gesehen haben, sehr weit auseinander gehen konnten, ohne dass irgendeiner von ihnen deshalb fahrlässig oder wissentlich gegen die Wahrheit zu verstoßen brauchte. Es lag nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme auf der Hand, dass der wirkliche Hergang nicht mehr festzustellen war und somit die Angeklagten freigesprochen werden mussten. Der Staatsanwalt selbst wusste seinen Antrag auf schuldig nicht anders zu begründen, als dass er sich rückhaltlos zum Prinzip der Klassenjustiz bekannte und die vernommenen Zeugen in falsche und wahre Zeugen einteilte, je nachdem sie sozialdemokratischen Ansichten huldigten oder nicht. Hätte noch etwas gefehlt, um die Freisprechung der Angeklagten zur moralischen und strafrechtlichen Notwendigkeit zu machen, so füllte diese staatsanwaltliche Rede die Lücke trefflich aus. Die Geschworenen aber sprachen ihr schuldig. Das Verdikt kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und wie ein Blitz hat es in die bürgerliche Gesellschaft eingeschlagen.

Gegen die immer wieder abgeleierte Behauptung der bürgerlichen Presse, dass die Essener Geschworenen, so irrig sie geurteilt haben mögen, jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen geurteilt haben, können wir nichts einwenden. Wir sagen nur: dann umso schlimmer. Es wäre gewiss ein großes Unglück für die bürgerliche Klasse, wenn sich plötzlich Männer aus ihrer Mitte fänden, die eid- und ehrvergessen einen wissentlich falschen Wahrspruch fällten; es ist aber ein noch viel größeres Unglück für sie, wenn zwölf ihrer Mitglieder, die nach ihrer eigenen Angabe ehrenwerte und gewissenhafte Männer sind, unbewusst so sehr unter dem Einfluss ihrer beschränkten Klassenanschauungen stehen, dass sie in einer sehr einfachen und klaren Sache nicht mehr Recht von Unrecht zu unterscheiden wissen. Die bürgerliche Klasse dankt damit ab für das Richteramt, das sie über die arbeitende Klasse beansprucht; sie enthüllt selbst in einer wichtigsten Beziehung den durchaus hinfälligen Charakter ihrer Herrschaftsansprüche. Vergebens suchen einzelne bürgerliche Organe diese Sachlage dadurch in milderem Lichte erscheinen zu lassen, dass sie unterstellen, der Gerichtshof sei anscheinend mit dem Spruche der Geschworenen nicht einverstanden gewesen; wenigstens deute die Haltung des Vorsitzenden bei Leitung der Verhandlung darauf hin, dass er an der Schuld der Angeklagten gezweifelt habe. Wäre dem wirklich so, dann müsste man abermals sagen: umso schlimmer! Denn wäre der Gerichtshof einstimmig der Ansicht gewesen, dass die Geschworenen sich zum Nachteile der Angeklagten geirrt hätten, so hätte er nach der Strafprozessordnung die Sache vor ein neues Schwurgericht verweisen müssen, oder aber wäre auch nur seiner Mehrheit der Spruch der Geschworenen irgendwie bedenklich erschienen, so würde sie auf die Minimalstrafe erkannt haben, die beim wissentlichen Meineide ein Jahr Zuchthaus beträgt. Indem der Gerichtshof bis aufs Dreifache über dieses Strafmaß hinausging, bekundete er sein vollkommenes Einverständnis mit dem Spruche der Geschworenen, und es ist ein hoffnungsloses Bemühen, ihn gegen sie ausspielen und dadurch die bürgerliche Rechtspflege sozusagen rehabilitieren zu wollen.

Man betrachte den Essener Meineidsprozess von welcher Seite man wolle: Es bleibt immer dabei, dass er die bürgerliche Klassenjustiz so bloß und nackt enthüllt hat, wie keiner der unzähligen Prozesse vor ihm, die den eigentümlichen Ruhm deutscher und preußischer Rechtspflege ausmachen. Wenn wir aber anerkennen, dass auch die bürgerliche Gesellschaft diesen verhängnisvollen Fortschritt ihrer Zersetzung keineswegs freudig begrüßt, sondern sehr unbehaglich durch ihn gestimmt wird, so wäre es doch eine leichtfertige Illusion, deshalb vorauszusetzen, dass sie auf dem eingeschlagenen Wege umkehren werde oder wolle. Das wird und will sie schon deshalb nicht tun, weil sie es gar nicht tun kann. Der Wahrspruch der Essener Geschworenen kommt ihr sehr unbequem, sie brummt allerlei in den Bart über seine Haltlosigkeit, aber sie denkt nicht daran, ihn offen preiszugeben. Und wie es einzelne Blätter gibt, die ihn vor acht Tagen noch scharf tadelten und ihn heute schon ohne alle Verdauungsbeschwerden mit Haut und Haaren verspeisen, so wird er in sehr absehbarer Zeit unter das geheiligte Inventar patriotischen Ruhms aufgenommen sein. Ebenso wie es unmöglich war, dass dieser Spruch gefällt werden konnte, wenn sich die besitzenden Klassen nicht seit Jahren und Jahrzehnten in einen Hass gegen die arbeitenden Klassen hinein gewütet hätten, der ihre Sinne mehr und mehr verblendet, ebenso unmöglich ist es für sie, die Frucht zu verleugnen, die auf ihrem Acker gewachsen ist. Die Mutter, die einen Wechselbalg gebiert, mag im ersten Augenblick auch heftig erschrecken, aber schließlich liebt sie ihr eigen Fleisch und Blut, und das Scheusälchen dünkt ihr schöner als der belvederische Apoll. Denjenigen bürgerlichen Blättern, die sich nicht so schnell bekehren können, gibt die „National-Zeitung" den vernünftigen Rat, doch wenigstens über das Essener Urteil zu schweigen, und dieser Rat liegt zu sehr im Interesse der Bourgeoisie, als dass er nicht befolgt werden sollte.

Umso dringlicher ist unsere Pflicht, über den Essener Wahrspruch zu reden. Wir haben keinen Teil an ihm, und wenn wir ihn hätten hindern können, so würde es schon um seiner unglücklichen Opfer willen geschehen sein. Wir wünschen der Revision, welche die Angeklagten eingelegt haben, den besten Erfolg, und es soll uns nicht kümmern, ob uns dadurch ein so genannter Agitationsstoff entgeht oder nicht. Das versteht sich alles ganz von selbst; in solchen verteufelt ernsten Sachen frivol zu denken oder auch nur zu reden, ist niemals die Sache der Arbeiterklasse gewesen. Aber ebendeshalb nimmt sie den Essener Meineidsprozess, wenn er ihr in frivoler Weise aufgedrängt wird, auch außerordentlich ernst. Gegenüber solcher Art von Kriegführung können die noch gleichgültigen Schichten des Proletariats nicht schnell genug mobil gemacht werden, und das Essener Urteil ist eine Posaune von Jericho, um die Schlummernden zu wecken.

Die larmoyanten Klagen über die Schädigung, die dadurch dem Ansehen der bürgerlichen Justiz zugefügt wird, rühren uns natürlich keinen Augenblick. Sehe jeder, wie er's treibe, und die bürgerliche Rechtsprechung hat's darnach getrieben. Ihre Glorie erhalten zu wollen auf Kosten des unschuldigen Blutes, das in Essen verschüttet wurde, wäre eine wohlfeile Großmutskomödie, in der wir um keinen Preis der Welt mitspielen möchten.

1 1853/1854 wurde Ladendorf in Berlin wegen „Hochverrats" zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Kronzeuge war wie im Kommunistenprozess und beim Prozess Waldeck  der Polizeipräsident Hinckeldey.

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