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Franz Mehring 18951030 Der Septemberkurs

Franz Mehring: Der Septemberkurs1

30. Oktober 1895

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 161-165. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 117-122]

Vor der Strafkammer des hiesigen Landgerichts, die das Glück hat, Herrn Brausewetter als Vorsitzenden zu besitzen, wurde gestern gegen drei sozialdemokratische Redakteure verhandelt – in jenem Rattenkönig von Prozessen, der dem Septemberkurse seine eigentümliche Bedeutung gegeben hat. Nicht als ob diese Prozesse die einzigen ihrer Art wären. Vielleicht sind es nicht einmal die schlimmsten ihrer Art. Das Bild der deutschen Justiz strahlt in so wundervoll wechselnden Farben, dass es schwer ist zu sagen, in welcher Strahlenbrechung es seine intimsten Reize entfaltet. Ein und derselbe Artikel ist in Nürnberg freigesprochen und in Leipzig verurteilt worden. Die Gerichte in Hannover vermögen in einer Kritik verstorbener Hohenzollern keine Majestätsbeleidigung zu erblicken, während die Gerichte in Breslau eine Beleidigung der lebenden Majestät in der historisch unanfechtbaren Behauptung entdecken, dass verstorbene Majestäten die deutsche Krone an den meistbietenden Ausländer verschachert und bei der Einziehung der Kirchengüter lange Finger gemacht haben.

Aber ohne sonst einem dieser Prozesse des Septemberkurses die historische Bedeutung absprechen zu wollen, die er als sprechendes Symptom für den Verfall des neuen Deutschen Reiches beanspruchen kann, so dürfen wir den gestern unter dem Vorsitze des Herrn Brausewetter verhandelten Anklagen wegen Majestätsbeleidigung doch nachrühmen, dass sie gewissermaßen den Typus unter den Typen darstellen. Schon die Neuerung, dass ein kaiserlicher Adjutant im Gerichtssaal anwesend war und sich eifrig Notizen machte, gibt ihnen eine ganz sonderliche Stellung. Natürlich ist gegen die Anwesenheit solcher besternten Herren an dieser Stelle nichts einzuwenden; die Verhandlungen unserer Gerichte sind öffentlich, und kaiserliche Adjutanten können ihnen ebenso gut beiwohnen wie andere Menschenkinder. Es ist nur so um den Schein, und wenn sonst kaiserliche Adjutanten nie ein Interesse für die Entwicklung der deutschen Rechtsprechung gezeigt haben, so ist es historisch bemerkenswert, dass dies Interesse just an Prozessen erwacht, bei denen es sich um Majestätsbeleidigungen sehr zweifelhafter Art handelt. Dieser kaiserliche Adjutant ist ein Mortimer, der zu sehr gelegener Zeit erschien; besser als durch sein Erscheinen konnte dem Philister gar nicht demonstriert werden, um was es sich denn nun eigentlich handelte.

Es war bekanntlich keine Wendung durch Gottes Fügung, dass diese merkwürdigen Prozesse gerade vor dem Richterstuhle des Herrn Brausewetter zur Aburteilung kamen. Die irdische Hand des Staatsanwalts fügte es vielmehr so, dass mehrere Prozesse, die nichts miteinander zu tun hatten, zusammengeworfen und dass die ganze Prozedur mit dem Namen desjenigen Angeklagten benannt wurde, der nach dem Ratschlüsse des Alphabets vor die von Herrn Brausewetter präsidierte Strafkammer gehörte. Wir können nicht finden, dass der Staatsanwalt gestern das von ihm beliebte Verfahren sachlich zu rechtfertigen und die schlagenden Einwände des Verteidigers zu widerlegen vermocht hat, und er selbst hatte auch die ganz richtige Einsicht, dass seine Beredsamkeit nicht genügen werde, die sozialdemokratische Presse zur Preisgabe ihrer bisherigen und zweifellos sehr richtigen Meinung zu bewegen. Dagegen hat sich allerdings die Hoffnung des Staatsanwalts, dass unbefangene Urteiler ihm Recht geben würden, insoweit erfüllt, als die Schwachköpfe der freisinnigen Presse, geblendet durch die für das Maß ihres Selbstbewusstseins ehrenvolle Tatsache, dass ein Staatsanwalt sich herablässt, seine Handlungsweise vor ihrer Kritik zu rechtfertigen, alsbald wie ein Taschenmesser zusammengeklappt sind. So erklärt die Tante Voss das Verfahren des Herrn Staatsanwalts für vollkommen gerechtfertigt und geht in ihrer neu gestärkten Begeisterung für die preußische Rechtspflege sogar so weit zu sagen, dass die über die Angeklagten verhängten Strafen von sechs, neun und zwölf Monaten „nicht einmal besonders hart" seien.

In der Tat – nicht einmal besonders hart! Der Angeklagte Dierl ist zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er die zum Gedächtnis des Kaisers Wilhelm I. errichtete Kirche „Ägir-Kirche" genannt und die öffentliche Tätigkeit eines Kammerherrn mit einem sachlich zutreffenden und höchstens formell etwas derben Ausdruck gekennzeichnet hat. Um aus dem hierzulande gang und gäben Worte „Ägir-Kirche" eine Majestätsbeleidigung herauszupressen, konnte der Gerichtshof den wunderbaren Grundsatz aufstellen, es gehe nicht an, die einzelnen Sätze zu zerpflücken, sondern man müsse fragen, wer die Artikel geschrieben und welche Tendenz die Zeitungen hätten, in denen sie erschienen seien. Es ist die reine Tendenzjustiz, die hier geübt wird. Ein wohlgesinnter Mann kann von der „Ägir-Kirche" sprechen, und wirklich haben bei der allgemeinen Volkstümlichkeit dieses Ausdrucks so viele unzweifelhafte Patrioten ihn gebraucht, dass, wenn sie alle deshalb gleich dem Angeklagten Dierl angesehen werden sollten, ein paar Mal hunderttausend Männlein und Weiblein auf sechs Monate in Plötzensee eingelocht werden müssten. Der Gerichtshof sagt selbst: „Die Bezeichnung ,Ägir-Kirche' ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Kaiser den buchhändlerischen Ertrag seines Sanges an Ägir der Gedächtniskirche überwiesen hat." Der Gerichtshof sieht darin eine Verhöhnung und Verspottung, eine Ehrverletzung des Kaisers. Nun, wenn dem so sein sollte, dann stünde es allerdings verzweifelt schlecht um das Ansehen des Kaisers in der bürgerlichen Bevölkerung, in der, wie gesagt, ganz allgemein die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche den Übernamen der Ägir-Kirche führt. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, erklärt der Gerichtshof, es käme darauf an, wer von der Ägir-Kirche spräche. Was dem ruhigen Spießbürger erlaubt ist, das ist dem unruhigen Arbeiter nicht erlaubt, und ein halbes Jahr Gefängnis, das auf dem Boden dieser – versteht sich unbewussten – Klassenjustiz aufwuchert, ist nach dem klassischen Zeugnis der freisinnigen Bourgeoispresse „nicht einmal besonders hart".

Schärfer noch hat die von Herrn Brausewetter präsidierte Strafkammer die Majestätsbeleidigung angesehen, die dadurch begangen worden sein soll, dass die Angeklagten Pfund und Raudtmann die bekannte Kaiserrede vom Sedantage mit den Worten kritisiert haben: Es entspräche ihrem Geschmacke nicht, irgendeinen Teil ihrer politischen Gegner eine Rotte von Menschen zu nennen, die nicht wert sei, den Namen Deutscher zu tragen, und sie würden sich eventuell, wenn sie ähnlich handelten, eine Strafverfolgung zuziehen. Herr Brausewetter begründete die Tatsache, dass in diesen Sätzen eine „Majestätsbeleidigung" vorhanden sei, mit den denkwürdigen Worten: „Es ist zweifellos, dass bei der Unverletzlichkeit des Kaisers niemand gegen die Person des Kaisers etwas zu sagen hat, vor allen Dingen nichts Beleidigendes." Zunächst handelt es sich hierbei nicht um die Person, sondern um ein Urteil des Kaisers. Eine Unfehlbarkeit für ihre Urteile haben bisher aber nur die Päpste beansprucht, und diese auch nur, wenn sie ex cathedra2 sprachen, nicht aber für ihre Toaste. Die Behauptung der von Herrn Brausewetter präsidierten Strafkammer, dass gegen die Urteile kaiserlicher Toaste niemand etwas zu sagen habe, proklamiert eine Unfehlbarkeit weltlicher Monarchen, die bisher noch nie in der Weltgeschichte proklamiert worden ist und die allein genügen würde, Herrn Brausewetter unsterblich zu machen. So weit ging sogar nicht der Staatsanwalt, der im Gegenteile, immer nach der Theorie des Herrn Brausewetter, sich mindestens einer indirekten Majestätsbeleidigung schuldig machte, indem er sagte, jeder Deutsche müsse dem Kaiser nachfühlen, dass er so habe reden müssen, wie er am Sedantage geredet habe. Ist der Kaiser selbst in seinen Toasten unfehlbar, hat niemand etwas gegen diese Toaste zu sagen, so ist es offenbar eine unverzeihliche Anmaßung, wenn „jeder Deutsche" sich erlauben wollte, dem Kaiser nachzufühlen, ob er gerade so habe reden müssen. Dem unfehlbaren Kaiser hat vielmehr jeder Deutsche ohne weiteres zu glauben. Der Versuch, ihm nachzufühlen, ob er so habe reden müssen, also mit anderen Worten, ob er nicht auch anders habe reden können, ist schon eine indirekte Majestätsbeleidigung, weil er die Möglichkeit unterstellt, dass sich der Kaiser geirrt haben könne. Zieht nun gar der Staatsanwalt aus der Nachprüfung jedes Deutschen die Schlussfolgerung, dass die Rede des Kaisers den Sozialdemokraten bis ans Mark gegangen sei, so spricht der Herr wie der Blinde von den Farben. Er hat dem Kaiser nichts „nachzufühlen", sondern, sobald der Kaiser sagt, hat er unweigerlich die Sozialdemokratie für eine Rotte usw. zu halten, über deren Gemütsbewegungen er als allezeit getreuer Untertan und Staatsbürger dann wieder nichts „nachzufühlen" vermag.

Indirekt macht sich nun allerdings auch Herr Brausewetter der indirekten Majestätsbeleidigung schuldig. Er deutelt und dreht nämlich an der Kaiserrede vom Sedantage, indem er es für „ganz falsch" erklärt zu sagen, der Kaiser habe die Sozialdemokratische Partei beleidigen und mit der „Rotte" nicht vielmehr nur die Leiter der Partei treffen wollen. Mit Verlaub des Herrn Brausewetter ist vielmehr „ganz falsch", was er selbst behauptet; der Appell des Kaisers an das Gardekorps beweist dem Sinne wie dem Wortlaute nach, dass er die ganze Sozialdemokratische Partei gemeint hat und nicht ein paar einzelne Leute aus ihrer Mitte. Freilich wenn dem so ist, dann ist es unbegreiflich, wie Angehörige der Sozialdemokratischen Partei der Majestätsbeleidigung für schuldig erkannt werden können, weil sie, vom Kaiser als „Rotte" und des deutschen Namens für unwürdig erklärt, sich den leisen Widerspruch erlauben, ihrem Geschmacke entsprächen solche Kennzeichnungen politischer Gegner nicht und obendrein würden sie, wenn sie ähnlich handeln wollten, vom Staatsanwalt belangt werden. Sehen wir indessen ganz davon ab, dass es sich für die Angeklagten um die leichte Abwehr eines schweren Angriffs handelte, wo soll die „Beleidigung" in ihren Äußerungen stecken? Durch das Bekenntnis zu einem anderen Geschmack, als der Kaiser besitzt, sollen sie diesen „beleidigt" haben? Der Staatsanwalt behauptet, in diesem Bekenntnis liege die Behauptung, dass die Angeklagten einen besseren Geschmack zu haben glaubten als der Kaiser. Und jetzt: Wenn ich sage, ich habe einen anderen Geschmack als ein anderer, so glaube ich, einen besseren Geschmack zu haben als dieser andere, denn sonst würde ich eben keinen anderen Geschmack haben. Aber wo in aller Welt steckt darin die „Beleidigung"? Wer hat je in einer Geschmacksverschiedenheit eine „Beleidigung" gesehen? Weshalb verfolgt denn der Staatsanwalt nicht die Kritiker, welche die durch den kaiserlichen Beifall ausgezeichnete Posse „Charleys Tante"3 für einen elenden Schmarren erklärt haben?

Ähnlich steht es mit dem anderen Einwände der Angeklagten. Ähnlich oder eigentlich noch günstiger für sie. Denn wenn mit der Behauptung, einen anderen Geschmack zu haben als ein anderer, wenigstens noch der Anspruch eines besseren Geschmacks erhoben wird, so ist mit der Behauptung der Angeklagten, dass sie, wenn sie ähnlich handeln wollten, wie der Kaiser gehandelt habe, vom Staatsanwalt belangt werden würden, keineswegs gesagt, dass der Kaiser strafbar gehandelt habe. Diese Schlussfolgerung wäre erst dann gestattet, wenn die Staatsanwälte die sozialdemokratische Presse nur auf Grund strafbarer Handlungen anklagten. Dass dem nicht so ist, weiß jedes Kind und wird durch soundso viel freisprechende Urteile deutscher Gerichtshöfe bewiesen. Die Angeklagten haben einfach gesagt, und wie recht sie hatten, wird gerade durch ihre jetzige Verurteilung bestätigt: Wir würden sofort vom Staatsanwalt belangt werden, wenn wir unsere politischen Gegner in dem Tone angreifen wollten, in dem der Kaiser uns angreift. Aber angenommen, wenn auch nicht zugegeben, sie hätten wirklich sagen wollen, der Kaiser habe Ausdrücke gebraucht, die gegen das Strafgesetzbuch verstießen, wo soll denn da die „Beleidigung" stecken? Ist denn die Ehre eines Mitmenschen dadurch verletzt, dass ich unter bestimmten Umständen sage, er habe gegen das Strafgesetzbuch verstoßen? Wer hat im politischen Kampfe denn noch nie einen Ausdruck gebraucht, der im Sinne des preußischen Strafgesetzbuchs beleidigend gewesen wäre? Was immer sonst die Angeklagten Pfund und Raudtmann mit ihrer Äußerung gewollt haben mögen: Die Unterstellung, dass sie damit die Ehre des Kaisers haben verletzen wollen, richtet sich selbst, denn gerade nach sozialdemokratischer Auffassung ist es nichts weniger als eine Ehrenkränkung, vom Staatsanwalt wegen des Gebrauchs scharfer Worte belangt zu werden. Hätte Herr Brausewetter Recht, so gäbe es keine schwerere Majestätsbeleidigung als die Behauptung, dass der Kaiser die Ehrbegriffe des deutschen Offizierskorps teile, denn diese Ehrbegriffe verstoßen prinzipiell gegen das deutsche Strafgesetzbuch.

Die von Herrn Brausewetter präsidierte Strafkammer erklärt den Kaiser nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch für unfehlbar. Wie dort über den Papst, so stellt sie ihn hier über Jesus. Als der christliche Heiland seine Gegner „Schlangen- und Otterngezücht" nannte, verstieß er unzweifelhaft gegen Paragraph 185 des Strafgesetzbuchs; wer aber andeutet, dass der deutsche Kaiser einen ähnlichen Verstoß begangen haben könne, wird wegen Majestätsbeleidigung unter das „Schlangen- und Otterngezücht" geworfen. Er wird auf sechs Monate unter die Diebe und Gauner in Plötzensee gesteckt, und zwar von Rechts wegen.

Es ließe sich noch sehr viel über die gestrigen Strafprozesse sagen, doch genügen die wenigen Andeutungen, die wir gegeben haben, vollständig zur Kennzeichnung des Septemberkurses, zur Kennzeichnung des ohnmächtigen Versuchs, durch die Mittel der Strafjustiz die anschwellende Arbeiterbewegung niederhalten zu wollen. Man erreicht damit nicht mehr als den beschleunigten Ruin der Rechtspflege, deren weit vorgeschrittenen Niedergang ja selbst schon der preußische Justizminister hat anerkennen müssen. Über den gleichgültigen Lärm der liberalen Tagespresse mögen sich die Brausewetter und ihre Genossen fortsetzen, wie bisher so auch fortan: Urteile, wie sie gestern gefällt haben, sind deshalb nicht weniger Gewaltstöße, welche auf die Dauer „den stärksten Menschen" über den Haufen werfen müssen.

1 Gemeint ist die Praxis des verschärften Kampfes gegen die Sozialdemokratie durch zahlreiche und willkürliche gerichtliche Verfolgungen, insbesondere Majestätsbeleidigungsprozesse, die mit der Vorbereitung der „Umsturzvorlage" begann. Mehring spielt hier auf die reaktionären „Septembergesetze" der französischen Regierung von 1835 an, die die Tätigkeit der Geschworenengerichte beschränkten und strenge Maßnahmen gegen die Presse einführten.

2 ex cathedra (lat.) - hier direkt: vom (Heiligen) Stuhl aus, d.h., nur als Gottes Stellvertreter auf Erden; sonst übertragen gebraucht: von Amts wegen.

3 Posse von Brendon Thomas; eine von Hunderten, besonders auch der Berliner Bühnen (Lessing-Theater, Wallner-Theater), in denen „der höhere Blödsinn seine unverschämtesten Purzelbäume schlägt", wie Robert Prutz 1859 sagte, oder - nach Mehring, fünfzig Jahre später - „ein Schwank aus Blumenthal-Kadelburgs Fabrik" („Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel", Bd. 11 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 423 u. 592, Anmerkung 66).

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