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Franz Mehring 18950904 Die Rede des Kaisers

Franz Mehring: Die Rede des Kaisers

4. September 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Zweiter Band, S. 737-741. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 105-110]

Wie im Vorjahre, so eröffnet der Kaiser auch heuer die politische Winterkampagne mit einem Kriegsruf gegen die Sozialdemokratie. Es ist jedenfalls ein gutes Zeichen für die frische Unermüdlichkeit seines Naturells, dass er sich von den Spuren nicht schrecken lässt, dass die traurige Blamage, die sich die herrschenden Klassen durch die Bank in der parlamentarischen Umsturzposse des vorigen Winters zugezogen haben, ihn nicht abhält, Panier aufzuwerfen für die Sache, die ihm gerecht und gut dünkt. Wir erkennen das umso lieber an, als wir weit entfernt sind von jeder unzeitigen Empfindlichkeit über die harten Worte, in denen der Kaiser dem klassenbewussten Proletariat die Fehde ansagt.

Der Kaiser nennt die Arbeiter, die dem Sedantage nicht Reverenz erwiesen haben, eine Rotte von Menschen, die nicht wert seien, den Namen Deutscher zu tragen. Das sind Worte, die unter Umständen kränkend sein können für die, an deren Adresse sie gerichtet sind. Aber es kommt auf die Umstände an. Wenn jemand in unangreifbarer und unverantwortlicher Stellung Scheltworte gegen Dritte braucht, denen bei dem Versuche einer unumwundenen Auseinandersetzung über diese Scheltworte sofort die irdische Gerichtsbarkeit mit einigen Jahren Gefängnis den Mund stopft, so liegt es auf der Hand, dass der Angriff seine Schneide und Spitze verliert. Erst in einer offenen Diskussion, bei der Wind und Wetter gleich verteilt sind, ließe sich feststellen, ob die Scheltworte des Kaisers sachlich berechtigt sind; solange diese Diskussion nicht möglich ist, bleibt die Frage vollkommen offen, und es lohnt nicht, über Beschuldigungen, die nach Lage der Dinge nicht auf ihren wirklichen Wert zu prüfen sind, zu grübeln oder gar sich darüber zu erbosen.

Wir können also mit vollkommener Unbefangenheit des Urteils die einzelnen Beschuldigungen prüfen, die der Kaiser gegen die politisch organisierte Arbeiterklasse oder, wie er sagt, gegen die Rotte von Menschen erhebt, die nicht wert seien, den Namen Deutscher zu tragen. Es sind ihrer zwei. Der Kaiser meint, diese Rotte wage es, das deutsche Volk zu schmähen, und sie wage es ferner, die geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub zu ziehen. Die erste dieser Beschuldigungen beruht auf handgreiflich falschen Berichten, die dem Kaiser von seinen verantwortlichen Beratern erstattet worden sind. Wie käme das klassenbewusste Proletariat dazu, die Nation zu schmähen, von der es selbst ein so bedeutsamer und wichtiger Teil ist! Nirgends in der Arbeiterpresse oder in Arbeiterversammlungen ist das deutsche Volk geschmäht worden. Möglich, dass die Leute, die dem Kaiser dieses Märchen hinterbracht haben, nicht absichtlich gelogen haben. Aber dann leiden sie an der komischen Einbildung, dass sie die herrschenden Klassen, eine winzige Minderheit des Volks, für das Volk als solches erklären. Diese winzige Minderheit hielt es für gut, das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der größten Menschenschlächtereien, die unser Jahrhundert gesehen hat, mit lärmendem Gepränge zu feiern, und da hat die Arbeiterklasse nicht mitgetan. Vielmehr haben ihre Organe dieses Beginnen so kritisiert, wie es kritisiert zu werden verdient.

Soll diese Kritik „schmähen" genannt werden, nun, so streiten wir nicht um Worte. Wir sind dann glücklich, in diesem „Schmähen" eine Reihe der erlauchtesten Geister zu Genossen zu haben. So schrieb schon vor mehr als siebzig Jahren Lord Byron über das Gemetzel en gros, das man Krieg nenne, und was damit zusammenhängt: „Diesen Dingen und Leuten gegenüber muss man jetzt die Scheide wegwerfen. Ich weiß, es geht gegen eine furchtbare Übermacht, aber der Kampf muss ausgefochten werden und wird schließlich der Menschheit zum Heile gereichen, wenn auch nicht dem einzelnen, der sich preisgibt." Byron sang auch:

Das Trocknen einer Trän' ist wahrer Ehre

Näher, als das Vergießen blut'ger Meere.

Und er begründete diese Auffassung einleuchtend wie folgt:

Warum? Das Eine wird sich selbst belohnen,

Das Andre ist, trotz allem Flitterstaat,

Applaus, Portalen, Brücken, Pensionen

Der Nation, die selbst nur Schulden hat,

Trotz Orden, Titeln, herzoglichen Kronen,

Denen der Pöbel sich bewundernd naht,

Ist schließlich, abgesehn von Freiheitsschlachten,

Nur Mörder-Kinderklappern gleich zu achten.

Man vergleiche Byrons Verse mit dem mordsmäßigen Bardengebrüll, das Herr v. Wildenbruch zur Feier des Sedantages erhob, und man hat den geistigen Abstand zwischen dem klassenbewussten Proletariat, das Sedan nicht feierte, und den herrschenden Klassen, die Sedan feierten. Derselbe Abstand ergibt sich übrigens auch, wenn man Byrons erste Parlamentsrede mit den Reden preußischer Junker vergleicht, etwa der Herrn v. Koller oder v. Puttkamer. Im Jahre 1812 hatten die Weber von Nottingham die Maschinen, welche sie brotlos machten, gewaltsam zertrümmert und somit unzweifelhaft einen formellen Rechtsbruch begangen, den die Regierung mit strengsten Maßregeln strafen wollte. Da erklärte ihr Byron in seiner Jungfernrede, dass die Regierung mit einem Zehntel der Summe, die sie an Portugal an Kriegssubsidien zahle, der grenzenlosen Not abhelfen könne, die sie jetzt durch Galgen und Kerker zum Schweigen bringen wolle. Es ist wahr: Die herrschenden Klassen in England beschuldigten Byron ebenfalls, dass er das „Volk schmähe", aber es brauchten nur wenige Jahrzehnte ins Land zu gehen, um die Geschichte den entscheidenden Spruch fällen zu lassen, dass Byron die Ehre des englischen Volks glänzend gerettet habe, als eigensüchtige Junker durch tendenziöse Ausbeutung des Siegs von Waterloo die nationale Fiber der Massen aufzureizen suchte, um diese Massen zu verblenden und sie durch gesetzwidrige Lahmlegung der bürgerlichen Freiheit, Kornzölle und so weiter um so gründlicher auszuplündern.

An diesem einen historischen Beispiele mag es genug sein; wer die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts kennt, der weiß, welche Fülle ähnlicher Beispiele sich noch heranziehen ließe. Genug, wer immer dem Kaiser gesagt hat, die Arbeiterpartei „schmähe das Volk", der hat ihn absichtlich oder unabsichtlich getäuscht. Das Volk als solches hat mit dem Sedantrubel der herrschenden Klassen nichts zu schaffen gehabt. In unserem industriellen Zeitalter haben diese Klassen das Festefeiern ja zu einer Art Industrie gemacht, und es soll gar nicht bestritten werden, dass sie durch energisches Schwingen der Hungerpeitsche, durch mittelbares und unmittelbares Androhen geschäftlicher Nachteile und ähnliche Mittel ihrer famosen Regierungskunst in den großen Städten einen ganz beträchtlichen Haufen Menschen auf die Beine bringen können, ganz zu geschweigen des allezeit käuflichen Lumpenproletariats, das sich mit Hurra heiser schreit und zur Illuminierung seines patriotischen Tatendranges ein halbes Hundert Anschlagsäulen in Brand steckt. Das arbeitende und schaffende Volk war aber nicht dabei. Seine Stimme hat sich nicht in den wüsten Lärm gemischt, und wenn sie sich nicht mit lautem Proteste dagegen erhoben hat, so nur, weil die Polizei vorsichtig genug war, die Arbeiterversammlungen am Sedantage zu verhindern. Nach dieser staatsretterischen Tat können die bürgerlichen Blätter ebenso leicht wie dumm lügen, die Arbeiter hätten sich auch an der Sedanfeier beteiligt, aber sie glauben ja selbst nicht, dass ihnen irgendein vernünftiger Mensch glaubt. Die Arbeiter müssten sich ins eigene Gesicht schlagen, wenn sie den Sedantag feiern wollten; der das Signal gab zu einer ununterbrochenen Kette von Leiden und Verfolgungen, die über ihre Klasse verhängt wurden, von der Lötzener Kettenaffäre bis zum Essener Meineidsprozesse, wenn sie für ein gnädiges Lächeln ihrer Peiniger und Unterdrücker die Fahne der Humanität und Kultur, die sie bisher so stolz getragen haben, in den Staub werfen wollten. Wir begreifen wohl, dass die gegenwärtigen Berater des Kaisers, Leute wie Herr v. Koller und dergleichen mehr, hierfür kein Verständnis haben, und wir wollen ihnen nicht den guten Glauben absprechen, wenn, sie in ihrer Verlegenheit, dem Kaiser über Dinge berichten zu müssen, welche zu begreifen ihnen nicht gegeben ist, einiges über „Schmähungen des Volks" gestammelt haben, aber falsch berichtet haben sie dem Kaiser deshalb nicht weniger.

Eher ließe sich über die andere Beschuldigung reden, die der Kaiser gegen das klassenbewusste Proletariat richtet: gegen die Beschuldigung, dass die Rotte von Menschen usw. die „uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub zu ziehen wage". Der Kaiser liebt seinen Großvater schwärmerisch, und das ist ganz in der Ordnung; es wäre unnatürlich, wenn es anders wäre. Der alte Kaiser Wilhelm hat so ausschließlich für das Haus Hohenzollern gelebt und so viel dafür getan, dass alle Glieder dieses Hauses sein Andenken nicht anders als segnen können. Deshalb ist es menschlich begreiflich, ja eine menschlich schöne Empfindung, dass dem gegenwärtigen Kaiser die Person seines Großvaters „heilig" ist, dass er jede Kritik, die an der historischen Wirksamkeit des ersten Wilhelm geübt wird, als ein „in den Staub ziehen" empfindet. Indessen dieselben Gründe, welche die Stellung des Kaisers zu seinem Großvater so achtungswert und so begreiflich machen, entkleiden sie jeder objektiven Bedeutung. Über die historische Wirksamkeit Wilhelms I. hat die historische Kritik zu entscheiden, der keine Schranken gesetzt werden dürfen und vorläufig auch noch keine Schranken gesetzt sind. Wenn wir sagen, dass Kaiser Wilhelm I. zwar ein guter Hohenzoller, aber kein guter Deutscher war, dass er höchstens ein Begründer der deutschen Einheit wider Willen genannt werden darf, sintemal er die tapferen Vorkämpfer dieser Einheit in den Laufgräben von Rastatt mit rechtloser Gewalttat niederkartätschen ließ und selbst zu jener verkümmerten und verstümmelten Einheit, die schließlich im neuen Deutschen Reiche zustande kam, sehr wider seine Neigung gedrängt werden musste, dass die ununterbrochenen Kränkungen und Schädigungen der Volksmassen, die den Lauf seiner Regierung kennzeichnen, nur darin möglicherweise eine gewisse Entschuldigung finden, dass er nach seiner Begabung, Bildung und Erziehung ein sehr nachsichtiges Urteil beanspruchen darf, so haben wir zu diesem Urteil ein gutes Recht, das wir uns durch nichts und durch niemand verkümmern lassen werden. Es ist möglich, dass der gegenwärtige Kaiser seinen Großvater richtiger beurteilt als wir, denn wir sind so wenig unfehlbar, wie er es ist, aber diese Frage hat die historische Wissenschaft zu entscheiden und keineswegs der Staatsanwalt oder der Kriminalrichter oder die preußische Garde.

Wir kommen damit zu dem eigentlichen Feldzugsplan, den der Kaiser gegen das klassenbewusste Proletariat entwirft. Er sagt in dieser Beziehung: „Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen! Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie (nämlich die preußischen Garden), um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns befreit von solchen Elementen." Nicht ohne Grund ist an diesen Kaiserworten sehr viel gedreht und gedeutelt worden. Da die zwei Millionen Sozialdemokraten auch zum „gesamten Volke" gehören, so ist nicht zu ersehen, wie ein so beträchtlicher Teil des „gesamten Volks" gegen sich selbst ins Feld geführt werden soll. Oder wenn man annimmt, dass der Kaiser die Sozialdemokraten als Rotte von Menschen usw. von dem „gesamten Volke" ausgeschlossen hat, so ist wiederum nicht ersichtlich, wie dies „gesamte Volk" die „Rotte" hindern soll, ihren Abscheu vor dem Kriege zu bekunden oder die historische Wirksamkeit Wilhelms I. unter das Licht historischer Kritik zu stellen. „Zurückgewiesen" haben die Organe der herrschenden Klassen längst die „unerhörten Angriffe" der Arbeiterklasse auf den Sedantag und den Kaiser Wilhelm I., aber ohne die geringste Wirkung, und es ist ja völlig ausgeschlossen, dass sie in Zukunft die Kraft in sich finden werden, diese Wirkung zu erhöhen. Bliebe also nur übrig, dass die preußische Garde „uns von solchen Elementen befreit", d. h. zwei Millionen deutscher Arbeiter aus dem Lande jagt oder totschlägt.

Offenbar kann das der Kaiser nicht gemeint haben, und so legt die bürgerliche Presse seinen Feldzugsplan figürlich aus. Wir verstehen das vollkommen, ohne dass wir uns mit den Ergebnissen dieser Auslegekunst einverstanden erklären könnten. Nach der Meinung, die in den bürgerlichen Blättern bald mehr bald weniger klar hervortritt, soll der Kaiser gemeint haben, das „gesamte Volk" müsse ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie machen, und wenn das nicht geschehe, werde er zur Militärdiktatur schreiten. Wir können uns, wie gesagt, mit dieser Auslegung nicht befreunden. Erstens glauben wir nicht, dass der Kaiser ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie wünscht. Wir glauben es deshalb nicht, weil er unmöglich leichten Herzens auf den bisher einzigen Anspruch verzichten kann, den seine Regierung auf einen bedeutsamen Platz in den Jahrbüchern der Geschichte erheben darf: Indem er das Sozialistengesetz zerriss, zerschmetterte er das Hausmeiertum Bismarcks, und wenn er das Sozialistengesetz wiederherstellen würde, so würde die Dynastie Hohenzollern in die Hände der Dynastie Bismarck abdanken. Das halten wir für vollkommen ausgeschlossen. Für nicht minder ausgeschlossen halten wir aber auch, dass der Kaiser eine Militärdiktatur, gleichviel unter welchen Umständen, hat ankündigen wollen. Wir trauen ihm die Drohung mit einem Eid- und Verfassungsbruche ebenso wenig zu, wie wir irgendeinem unbescholtenen Menschen anders als aus zwingendstem Anlass die Drohung mit einem schmählichen Verbrechen zutrauen. Wir können also diesen Auslegungen der Kaiserrede durch die bürgerliche Presse in keiner Weise zustimmen.

Um unsere eigene Meinung über die Rede des Kaisers in aller Kürze auszusprechen, so war sie keine politische Aktion, sondern ein Ausdruck lebhaften Unwillens, den der Sprecher durch einen Schlag an das Schwert bekräftigte. Es war ja nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal sein. Indessen soll damit nicht gesagt sein, dass wir der Rede mit ihrer politischen auch ihre historische Bedeutung absprächen, als ob wir etwa meinten, die häufige Wiederholung schwäche die Wirkung ab. Ganz im Gegenteil! Je häufiger wir das Schwert des Kriegsherrn klirren hören, umso tieferen Eindruck empfangen wir davon.

Es gibt kein Land der Welt, in dem sich die moderne Arbeiterbewegung so friedlich und gesetzlich, so frei von allen Exzessen entwickelt hat und entwickelt wie Deutschland. Es gibt kein Land der Welt, in dem die Fürsten so oft verheißen, mit Gewalt der Waffen die größte Kulturbewegung der Weltgeschichte niederwerfen zu können. In dieser Signatur der deutschen Zustände werden wir siegen.

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