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Franz Mehring 18951127 Doktor Eisenbart

Franz Mehring: Doktor Eisenbart

27. November 1895

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 289-292. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 123-127]

König Stumm will den Kaiser scharf machen „zur Anwendung rückhaltloser Gewalt, zum Kampfe auf Leben und Tod"; so hat er im Kreise der Seinen prahlend verkündet, und er ist am Freitag voriger Woche, um den weltgeschichtlichen Tag festzustellen, als Jagdgenosse zu Sr. Majestät gereist, in der liebenswürdigen Absicht, seinem blutdürstigen Plane alsbald Hand und Fuß zu geben. Wären wir Monarchisten, wie wir es nicht sind, so würde es uns mit aufrichtigem Schmerz erfüllen müssen, die Monarchie zum Gespötte gemacht zu sehen durch einen hergelaufenen Profitwüterich ohne Herz und Hirn; so aber dürfen wir uns genügen lassen, die Prahlerei als ein bezeichnendes Zeichen der Zeit festzunageln. Sie würde ein solches Zeichen auch dann noch bleiben, wenn die Soldschreiber des besagten Profitwüterichs in der „Post" oder sonst wo mit einem lahmen Dementi angehinkt kämen. Bisher haben sie sich nicht dazu aufgerafft, vielleicht in der richtigen Erkenntnis nicht, dass ein solches Dementi das Pronunziamento des Königs Stumm erst recht glaubhaft machen würde.

Die Profitwut ist die feigste zugleich und die frechste Leidenschaft unter der Sonne. Was kann feiger sein, als wenn König Stumm vor der Windfahne Adolph Wagner zittert oder in dem harmlosen Prediger Naumann einen „reinen Thomas Müntzer" wittert. In solche lächerlichen Konvulsionen verfällt ein verhärteter Ausbeuter, wie König Stumm, doch nur in den bebenden Ängsten des bösen Gewissens. Aber so feige die Profitwut ist, so frech ist sie. Die Monarchie von Gottes Gnaden soll – so will es König Stumm – die Rolle des Büttels und Henkers spielen, um die profitschluckerischen Gelüste der Monarchie Stumm bis zum Übermaß zu befriedigen. König Stumm ist nicht der erste, der so denkt oder so gedacht hat; die Blätter der großen Bourgeoisie haben ja schon früher damit gedroht, ihre monarchischen Gesinnungen revidieren zu wollen, falls die Krone nicht tanzte, wie das Kapital pfiffe. Aber König Stumm ist der erste, der diesem praktischen Standpunkt die persönliche Spitze angeschliffen hat. Er will den gegenwärtigen Träger der Krone „scharf machen zur Anwendung rückhaltloser Gewalt, zum Kampf auf Leben und Tod". Der Träger der Staatsgewalt soll unbekümmert um Gesetz und Verfassung alles niederschmettern, was sich der unbeschränkten Profitwut hindernd in den Weg stellt, und dies Programm zeugt von der ausbündigsten Frechheit ebenso, wie es von der ausbündigsten Feigheit erzeugt worden ist.

Welchen Erfolg die agitatorischen Bemühungen des Königs Stumm für sein Programm haben oder nicht haben werden, das ist für uns ohne jedes tatsächliche Interesse. Die Siegesbahn des klassenbewussten Proletariats kann durch keinen König gesperrt werden, weder durch einen König von Gottes Gnaden, noch durch einen König von Gnaden der Profitwut. Nur für das Tempo, in dem diese Bahn durchmessen wird, mag es von Bedeutung sein zu wissen, ob König Stumm mit der praktischen Durchführung seines Programms Glück hat oder nicht. Indessen das Tempo unseres Fortschritts interessiert uns nur so weit, als es uns selbst angeht, als wir unter allen Umständen die äußerste Kraft daran setzen, vorwärts zu kommen. Ob aber unsere Gegner dies Tempo beschleunigen wollen oder nicht, indem sie die Methode des Königs Stumm befolgen oder nicht, das ist allein ihre Sache. Wir hindern niemanden, vernünftig zu handeln, wenn vom kapitalistischen Standpunkte noch vernünftig gehandelt werden kann, wir hindern auch niemanden, in sein Verderben zu rennen, wenn er sich durchaus den Kopf an einer Mauer einrennen will, die vom dicksten Schädel nicht umgerannt werden kann. Sehe jeder, wie er's treibe, und wer steht, dass er nicht falle!

Es würde uns um so weniger anstehen, uns die Köpfe unserer Gegner zu zerbrechen, als die neue Periode der Verfolgung, die über die Sozialdemokratische Partei hereingebrochen ist, uns in der alten trostreichen Erfahrung bestärkt, dass unsere Gegner von selbst schon wissen, was uns gut tut. Die massenhaften Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigungen und die massenhaften Haussuchungen, die vor einigen Tagen bei hiesigen Parteigenossen stattgefunden haben, sind vortreffliche Mittel, das Tempo auf der Siegesbahn des klassenbewussten Proletariats zu beschleunigen. Nicht allein dadurch, dass die Opfer, die den einzelnen auferlegt werden – und es sind teilweise schwere Opfer –, den Kampfeifer der Gesamtheit kräftigen und stählen, sondern dadurch fast noch mehr, dass sie die schon sehr trümmerhaften Grundlagen der herrschenden Gesellschafts- und Staatsordnung erfolgreicher untergraben, als sie die erfolgreichste Agitation zu untergraben vermöchte. Die gerichtlichen Urteile, die in den letzten Monaten gefällt worden sind, ballen nicht nur die Faust des Proletariats, sondern öffnen sogar dem gedankenleersten Philister die Augen über die Rechtspflege im heutigen Staat. Damit sinkt aber eine sehr starke Stütze ebendieses Staats dahin. Es ist ein teuer erkaufter, jedoch nicht ein zu teuer erkaufter Erfolg. Für das Mitleiden des Philisters stehen unsere Verurteilten zu hoch, aber die bürgerliche Rechtspflege steht nicht so hoch, dass sie die Bewunderung des Philisters entbehren könnte. Somit beschleunigen die Urteile der Gerichte, denen so viele brave Parteigenossen verfallen sind, in außerordentlichem Masse das Tempo auf der Siegesbahn der Sozialdemokratie.

Einen nicht minder großen Erfolg scheinen die massenhaften Haussuchungen vorbereiten zu sollen, die vor einigen Tagen hier stattgefunden haben. Leute, welche die deutsche Geschichte des letzten Menschenalters kennen, werden diese Haupt- und Staatsaktion des Herrn v. Koller mit dem melancholischen Stoßseufzer begrüßt haben: Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet! Wir wissen im Augenblicke nicht, wie oft in den sechziger Jahren der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein wegen derselben angeblichen Verstöße gegen das preußische Vereinsgesetz, wegen deren jetzt die Haussuchungen stattgefunden haben, gerichtlich aufgelöst worden ist, aber es war sehr oft. Und was damals niemals gelungen ist, nämlich durch die Sprengung der äußeren Organisation die Partei aufzulösen, das soll jetzt gelingen, wo die Sozialdemokratie noch viel mehr Hunderttausende von Anhängern zählt, als sie damals Tausende zählte. Wir können uns diese grrroße Tat der Kollerei nicht erklären ohne sehr beleidigende Unterstellungen für die Einsicht ihrer Urheber, und deshalb müssen wir uns bescheiden, sie völlig unerklärlich zu finden. Der selige Tessendorf, von dem wir annahmen, dass er als Ehrenbürger der guten Seestadt Leipzig für immer in den Katakomben der deutschen Reaktionsgeschichte beigesetzt sei, soll noch einmal den Umsturz zu Paaren treiben. Wir möchten Herrn v. Koller raten, sich demnächst für diesen erhabenen Zweck die Mumie des Sesostris aus den ägyptischen Pyramiden zu holen; sein „Erfolg" würde nicht geringer sein, als er jetzt sein wird, und es käme doch ein wenig Abwechslung in die langweilige Litanei.

Diese Sorte Sozialistenvernichtung ist so genial, dass den halbwegs unterrichteten Mitgliedern der bürgerlichen Parteien dabei angst und bange wird. Sie jammern und wehklagen: So geht es nicht, beileibe nicht, aber wie es denn anders gehen soll, das wissen sie freilich auch nicht zu sagen oder bringen im besten Falle so krause und wirre Heilmittel herangeschleppt, dass Herr v. Koller schließlich nicht ohne eine gewisse innere Befriedigung auf die in ihrer Art wenigstens konsequente Borniertheit seines Polizeiknüppels blicken darf. Der Reichstag, der in acht Tagen zusammentritt, findet die bürgerliche Gesellschaft noch in derselben heillosen Konfusion vor, in der sie sich befand, als er im Frühjahre auseinander ging. Und er selbst ist freilich nur ein getreues Abbild dieser Konfusion. Nach einer Offenbarung der „Kreuz-Zeitung" soll die Regierung beabsichtigen, gestützt auf die Konservative Partei und flankiert hier von den Nationalliberalen, dort von den Ultramontanen, den Drachen des Umsturzes zu erlegen, indessen können wir nicht glauben, dass der Zickzackkurs Hohenlohe-Koller so wenig Verstand haben sollte, um eine Taktik zu wiederholen, die ihnen in der Umsturzkampagne eine so groteske Niederlage eingetragen hat. Übrigens aber wenn er sich noch einmal auf das Eis begeben wollte, um ein Bein zu brechen, so würden ihn unsere herzlichsten Glückwünsche begleiten.

Einer in heller Hilflosigkeit sich auflösenden Gesellschaft einen Kampf auf Leben und Tod zuzumuten, zeugt von einer sehr lebhaften Phantasie des Königs Stumm. Ließe er sich von einer nüchternen Erkenntnis der Tatsachen leiten, statt von den Phantasiegebilden, die ihm seine erhitzte Profitwut vorgaukelt, so würde er sehen, dass sich die bürgerliche Gesellschaft längst in einem Kampfe um Leben und Tod befindet. Die Frage, weshalb sie der Sozialdemokratie nicht an den Kragen kommt, ist einfach gleichbedeutend mit der Frage, weshalb sie der Arbeiterklasse kein menschenwürdiges Dasein sichern kann. Weil sie ihrem inneren Wesen nach dieses nicht kann, deshalb kann sie auch jenes nicht. Weil sich die Arbeiterklasse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stets in Zuständen befinden muss und wird, die auf die Dauer von Menschen nicht ertragen werden können, deshalb wird sie stets in revolutionärer Auflehnung gegen diese Gesellschaft sein, bis sie ihr Ziel erreicht und die kapitalistische in die sozialistische Produktionsweise umgewälzt hat. Die Hilf- und Ratlosigkeit der bürgerlichen Parteien gegenüber der sozialdemokratischen Bewegung erklärt sich daraus, dass alle ihre Hilfsmittel und Ratschläge, von den bösartigsten bis zu den gutherzigsten, das Fortbestehen der bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung haben, dass sie einem Übel abhelfen wollen unter der Bedingung, dass die Ursache des Übels nicht angetastet werden darf. Es sind Ärzte, welche einen Schwindsüchtigen heilen möchten, vorausgesetzt, dass die Tuberkeln in seiner Lunge bleiben.

Wie lächerlich also, an eine Gesellschaft, die mitten in einem so hoffnungslosen Kampfe um ihr Leben oder ihren Tod steht, die heroische Aufforderung zu einem Kampfe auf Leben und Tod zu richten. Hat sich was mit einer so schwindsüchtigen Dame. Von den Ärzten, die um ihr Lager stehen und alle darin einig sind, die Tuberkeln in ihrer Lunge zu erhalten, wollen die einen, die „wohlmeinenden" Sozialreformer, ihr einige stärkende Brühen einflößen, um ihren dünnen Lebensfaden noch ein Endchen weiterzuspinnen, während die anderen, die „staatserhaltenden" Polizeihelden, ihr die Ohren abreißen und die Augen auskratzen und die Zunge absägen möchten, damit sie von ihren Leiden nichts hört und nichts sieht und nichts spricht. König Stumm aber fordert sie auf, sich krampfhaft aufzubäumen, ein Versuch, den sie in ihrer letzten Agonie noch einmal machen kann, aber der unter allen Umständen ihre letzte Agonie sein wird.

König Stumm ist der Doktor Eisenbart, der die Leute auf seine Art kuriert. Eine komische Person, die unter Umständen ein Ritter von der traurigen Gestalt werden kann. Einstweilen ist der Helm des Mambrin1, den er so stolz auf seinem hohlen Kopfe trägt, noch ein Barbierbecken, und darin schlägt er den Schaum der großen Worte, womit er andere Leute einseifen möchte.

1 Mambrin - sagenhafter Sarazenenkönig, dessen Helm unverwundbar machte.

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