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Franz Mehring 18951204 Eines Umstürzlers Umsturz

Franz Mehring: Eines Umstürzlers Umsturz

4. Dezember 1895

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 321-325. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 128-133]

Die Toten reiten schnell und heutzutage schneller als jemals früher. Seitdem wir vor acht Tagen über die drohende Sprengung der sozialdemokratischen Organisation schrieben, ist die rettende Tat nicht nur erfolgt, sondern auch schon ihr Urheber ins Grab gesunken. Kaum drei Tage, nachdem elf hiesige angebliche oder wirkliche Vereine der Sozialdemokratischen Partei aufgelöst worden waren, hat Herr v. Koller aufgehört, preußischer Minister des Innern zu sein. Der Umstürzler von oben ist selber umgestürzt.

Es ist möglich, dass zu seinem Sturze auch noch andere Gründe mitgewirkt haben als sein tragikomischer Feldzug gegen die Sozialdemokratie. Es mag selbst sein, dass er nicht wegen dieses Feldzuges, sondern trotz seiner gefallen ist. Aus dem Wirrwarr von Nachrichten, die über die Ursachen seines Falles verbreitet werden, ist einstweilen schwer klug zu werden. Trotzdem ist es ganz richtig zu sagen, dass Herr v. Koller bei seinen plumpen Schlägen gegen die Sozialdemokratie sich überschlagen hat, ganz ähnlich wie Bismarck im letzten Grunde an seiner borniert-eigensüchtigen Sozialpolitik gescheitert ist, mag er selbst und was ihm anhängt sich auch einbilden, dass er sich nur in Fangeisen gefangen hat, die ihm von heimlichen Feinden angeblich oder wirklich gelegt worden sind. Bei der eigentümlichen Natur des preußisch-deutschen Staatswesens vollziehen sich seine Haupt- und Staatsaktionen in einem wüsten Gewirr von bürokratischen und höfischen Intrigen, aber was sich in diesem Gewirr durchsetzt, sind doch nur die Gesetze der historischen Entwicklung.

Herr v. Koller ist ein unmöglicher Mann geworden, weil er den Zickzackkurs bis auf den toten Punkt gefahren hat. Die Auflösung der sozialdemokratischen Organisation ist nicht bloß ein klatschender Schlag ins Wasser. Wäre sie nur das, so brauchte sie Herrn v. Koller noch kein Haar zu krümmen. Solche Schläge ins Wasser haben auch manche seiner Vorgänger geführt, ohne dass sie deshalb gezwungen gewesen wären, sich auf ihre „väterlichen Ochsen" zurückzuziehen. Nicht erst von Tessendorf, sondern auch schon vorher, in den sechziger Jahren, ist der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein aufgelöst worden ohne einen anderen Erfolg, als dass die Sozialdemokratische Partei gefördert und gestärkt wurde. Man würde der preußischen Staatsweisheit ein unverdientes Kompliment machen, wenn man sagen wollte, dass sie zweckwidrige Maßregeln ihrer Würdenträger sofort mit deren Sturze rächte. Worin es Herr v. Koller versehen hat, das ist der Unterschied der Zeiten. Was vor zwanzig oder dreißig Jahren nur ein klatschender Schlag ins Wasser war, das ist heute auch ein klatschender Schlag ins Gesicht der bürgerlichen Gesellschaft. Und dieser Frevel ist Herrn v. Koller zum Verhängnis geworden.

Sein „Hauptschlag" ist erfolgt wegen angeblicher Verletzung des preußischen Vereinsgesetzes, und zwar derjenigen seiner Bestimmungen, welche den politischen Vereinen verbietet, mit anderen Vereinen gleicher Art für gemeinsame Zwecke in Verbindung zu treten. Diese Bestimmung trägt ganz den Charakter der feigen Manteuffelei, welche sie geschaffen hat, jener nichtsnutzigen Reaktion, die, noch ganz in vormärzlichen Vorstellungen befangen, ihres Lebens nicht froh werden konnte aus zitternder Angst vor heimlichen Verschwörungen der von ihr gepeinigten Volksmassen. Sie fiel von selbst dahin mit dem parlamentarischen und sei es auch nur scheinparlamentarischen Leben, mit der Bildung moderner politischer Parteien, die ihrem Wesen nach über das ganze Gebiet des Staates hin in steter Verbindung bleiben müssen. Das lag so auf der Hand, dass sogar das Ministerium Manteuffel die Wahlvereine ausdrücklich von jener einschränkenden Bestimmung ausnehmen musste; es hätte nicht einmal seine Landratskammern zusammenbringen können, wenn es diese Ausnahme nicht gemacht hätte. Je mehr sich dann das politische Leben entwickelte, umso ungenierter wurde gerade von den bürgerlichen Parteien das Verbot aus den Augen gesetzt, wonach politische Vereine nicht für gemeinsame Zwecke miteinander in Verbindung treten sollen. Und das war ganz selbstverständlich, denn mit solchen juristischen Zwirnsfäden lässt sich die politische Entwicklung nicht fesseln. Ein Verbot, das mit seiner Lokalisierung des politischen Lebens ganz aus feudal-mittelalterlichem Geiste geboren war, konnte nicht praktisch durchgeführt werden in einem modernen Staate, der unter dem Zeichen der großen Industrie stand.

Erst als sich eben unter diesem Zeichen eine selbständige Arbeiterbewegung entwickelt hatte, entsann sich die preußische Polizei wieder der in ihrer Rumpelkammer längst verrosteten Waffe. Sie beeiferte sich, damit die Sozialdemokratische Partei totzuschlagen, ohne die politischen Vereine der herrschenden Klassen im Geringsten zu behelligen. Das war wie gesagt schon vor dreißig und zwanzig Jahren ein klatschender Schlag ins Wasser! Aber es war noch nicht ein klatschender Schlag ins Gesicht der bürgerlichen Gesellschaft – aus zwei Gründen nicht, die innerlich zusammenhängen und insofern einen einzigen Grund bilden. Die deutsche Sozialdemokratie war damals erst eine verhältnismäßig kleine Partei und hatte die Massen erst sporadisch ergriffen. Im Zusammenhange damit kümmerten sich die bürgerlichen Parteien noch wenig um die Massen und bildeten mehr abgeschlossene Konventikel, die ihr gewohnheitsmäßiges Übertreten des preußischen Vereinsgesetzes einigermaßen vertuschen konnten. Die schreiende Ungerechtigkeit, die darin lag, dass die politischen Organisationen der arbeitenden Klassen mit dem Paragraph 8 dieses Gesetzes schikaniert wurden, die politischen Organisationen der besitzenden Klassen aber nicht, trat damals nicht mit so schreiender Offenheit hervor wie heute.

Diesen Unterschied der Zeiten nicht erkannt zu haben, ist das Verbrechen des Herrn v. Koller in den Augen derer, für die er kämpft. Die Wurzeln der Sozialdemokratie haften viel zu fest und tief in den Massen, als dass ihr viel auf die äußere Organisation anzukommen brauchte; geht es auf diesem Wege nicht, so geht es eben auf einem anderen Wege. Dagegen wird den bürgerlichen Parteien der Weg in die Massen versperrt, wenn der Paragraph 8 des Vereinsgesetzes nicht ein rudimentäres Organ mittelalterlicher Gesetzgebung, sondern ein lebendiges Glied am Leibe des herrlichen Gegenwartsstaats sein soll. Es ist leicht gesagt: Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter; die Polizei und die Staatsanwaltschaft wird auf Grund von Paragraph 8 des Vereinsgesetzes eben nur gegen die Sozialdemokratie vorgehen, nicht aber gegen die bürgerlichen Parteien. Dieser Trost ist erstens einmal sehr kümmerlich, denn wenigstens jeder oppositionellen Partei kann morgen billig sein, was heute der Sozialdemokratie recht sein soll, zweitens aber wäre in diesem Falle ein doppeltes Recht für die arbeitende und die besitzende Klasse geschaffen, was gerade der richtige Weg wäre, das Proletariat mit dem Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte zu versöhnen. Deshalb hat Herr v. Koller dem Kalbe ins Auge geschlagen, und deshalb verkünden sogar schon in der offiziösen Presse einzelne Stimmen, er habe seinen „Hauptschlag" auf eigene Faust ausgeführt, ohne sich darüber mit seinen Kollegen vorher zu verständigen, und wenn die Sache vor den Gerichten schief gehen sollte, so falle die alleinige Verantwortlichkeit dafür auf Herrn v. Koller.

Ob die Sache vor den Gerichten schief gehen wird, ob die polizeiliche Auflösung der sozialdemokratischen Organisation bestätigt werden wird oder nicht, das ist schwer vorherzusagen, da die staatliche Rechtspflege seit lange auf Wegen wandelt, die das allgemeine Rechtsbewusstsein nicht zu erkennen und zu betreten vermag. Die Sozialdemokratische Partei, die schon so manches fertig gebracht hat, weiß allen Manteuffeleien ein Schnippchen zu schlagen, wenn es ihr sonst darauf ankommt, und sie hat sich mit dem preußischen Vereinsgesetze besser einzurichten gewusst als irgendeine bürgerliche Partei. Herr v. Koller konnte seinen „Hauptschlag" nur dadurch ausführen, dass er einerseits den Parteivorstand, die Agitationskommission, die Presskommission, ja sogar die Vertrauensmänner der hiesigen Wahlkreise als ebenso viele Vereine einschätzte, andererseits die hiesigen Wahlvereine unter den Paragraph 8 des Vereinsgesetzes stellte, obgleich Paragraph 21 desselben Gesetzes ausdrücklich bestimmt, dass Wahlvereine nicht darunter stehen sollen. Es ist also sehr fraglich, ob es überhaupt nur eine formaljuridische Möglichkeit gibt, die polizeiliche Heldentat gerichtlich zu bestätigen. Indessen scheint uns diese Frage nicht in erster Reihe zu stehen; die Fähigkeit unserer Gerichte zu juristischen Konstruktionen, die der beschränkte Untertanenverstand vorher nicht zu ahnen und nachher nicht zu verstehen vermag, ist so unerschöpflich, dass sie möglicherweise auch eine Handhabe finden wird, die vorläufig geschlossenen Organisationen endgültig zu schließen. Dann aber ist nur eins von beiden möglich: Entweder müssen dann auch alle politischen Organisationen der besitzenden Klassen geschlossen werden, oder aber die Regierung gesteht offen ein, dass sie das geltende Recht verschieden handhabt, je nachdem es sich um die besitzenden oder aber um die arbeitenden Klassen handelt. In jedem der beiden Fälle ist der Profit für die sozialdemokratische Agitation sehr klar.

Der ganze Zwischenfall ist überhaupt ein erfreuliches Zeichen dafür, dass wir in einem Menschenalter doch tüchtig vorwärts gekommen sind. Für uns ist Herr v. Koller weit mehr eine komische als eine tragische Person, und es liegt uns sehr fern, diesem fröhlichen Naturburschen bei seinem Scheiden aus der hohen Politik einen Fluch mit auf den Weg zu geben. Die „sittliche" Entrüstung über sein „reaktionäres Treiben" überlassen wir gern den liberalen Biedermännern. Im Gegenteil möchten wir ihm den Trost widmen, dass die Streiche, die er in dem ersten und einzigen Jahre seiner Ministerschaft gemacht hat, auch nicht dümmer waren als die Streiche des Herrn Bismarck in dem ersten und leider nicht einzigen Jahre seiner Ministerschaft. Es ist eben ein erquickender Unterschied der Zeiten, dass Bismarck sich mit seinen Streichen noch bis zum „Heros des Jahrhunderts" fortwursteln konnte, während Koller mit seinen Streichen nach einem Jahre völlig abgewirtschaftet hat. Jener hatte freilich mit dem deutschen Philister, dieser mit dem deutschen Proletariat zu tun, aber das ist ja eben der ungeheure Fortschritt von den sechziger zu den neunziger Jahren des Jahrhunderts. Wer mit der deutschen Sozialdemokratie Kirschen essen will, bekommt allemal die Steine, und den noch unbekannten Nachfolger des Herrn v. Koller begrüßen wir mit dem aufrichtigen Willkomm: pereat sequens1!

In der liberalen Presse erweckt der schnelle Fall der bisher so selbstbewussten Kollerei natürlich wieder Frühlingswehen und Knospendurchbruch. Überflüssig zu sagen, dass wir für diese kindischen Illusionen erst recht nichts übrig haben. In wohltuendem Gegensatze zu der freisinnigen Salbaderei steht die Ehrlichkeit, womit der Kaiser bei einer Tischrede in Breslau erklärt hat, je mehr man sich hinter die Schlagworte und Parteirücksichten zurückziehe, desto bestimmter hoffe er, dass die Armee, sei es nach außen oder nach innen, seinem Winke und Wunsche gewärtig sei. Da Herr Brausewetter verfügt hat, dass niemand etwas gegen die Toaste des Kaisers einzuwenden habe, so werden wir uns hüten, etwas gegen diesen Toast des Kaisers einzuwenden. Wir denken nur mit wehmütiger Teilnahme an die Bemühungen unseres alten Schulmeisters, der im Schweiße seines Angesichts uns das preußische Nationallied eingepaukt hat, wonach die Liebe des freien Mannes, und nicht Ross und Reisige die steile Höh' sichern, wo Fürsten stehen. Das war also vergebene Mühe. Der Kaiser verlässt sich auf das Heer als auf die Stütze der Monarchie, und wenn wir da loben dürfen, wo wir nicht tadeln sollen, so halten wir diese Auffassung für richtig.

Von großem Interesse war eine historische Erinnerung, die der Kaiser in dieselbe Tischrede verflocht, indem er sagte, sein Großvater habe, als er 1848 nach schwerer Zeit in Koblenz ans Land gestiegen sei, auf das ihn empfangende Offizierskorps mit den Worten hingewiesen: „Das sind die Herren, auf die ich mich verlasse." Die Tatsache war bisher nicht bekannt, wenigstens nicht in der weiteren Öffentlichkeit, und es ist sehr erfreulich, dass der Kaiser ihr die weiteste Öffentlichkeit gegeben hat. Sie wirft neues Licht auf das große und unvergessliche Jahr 1848. Nach der Revolution vom 18. März hatte der damalige Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I., bekanntlich aus Berlin nach England flüchten müssen, vertrieben von dem sehr berechtigten Hasse der Massen und unter Abenteuern, die alles andere waren, nur nicht heldenhaft. Es kostete dem Ministerium Camphausen schwere Mühe, seine Rückkehr nach Berlin zu ermöglichen, und der Prinz, der irgendwo von den preußischen Hinterwäldlern in die Berliner Nationalversammlung gewählt worden war, musste in dieser erscheinen und das Bekenntnis ablegen, dass er von seinen absolutistisch-militaristischen Neigungen gründlich kuriert worden sei. Er tat es und sagte u. a.: „Die konstitutionelle Monarchie ist die Regierungsform, welche unser König uns zu geben vorgezeichnet hat. Ich werde ihr mit der Treue und Gewissenhaftigkeit meine Kräfte weihen, wie das Vaterland sie von meinem, ihm offen vorliegenden Charakter zu erwarten berechtigt ist." Ein großer Teil der Versammlung nahm dieses Bekenntnis mit Zischen auf, und wie sich nunmehr zeigt: mit vollem Rechte. Denn zwischen dem, was der Prinz von Preußen den Offizieren in Koblenz und was er den Volksvertretern in Berlin sagte, besteht eine so eigentümliche Verschiedenheit, dass er jedenfalls in einer wunderlichen Selbsttäuschung befangen gewesen ist, wenn er meinte, dass „dem Vaterlande sein Charakter offen vorliege".

Doch genug davon, und nur noch ein kurzes Wort über die allerletzte Tat, die Herr v. Koller nach seinem „Hauptschlage" ausgeführt hat. Er hatte bekanntlich gegen den Professor Delbrück, den Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher", einen Strafantrag wegen Beleidigung der Polizei gestellt, verkündete aber am Morgen seines Sturzes in seinem offiziösen Blättchen, „nach gegenseitiger Aussprache" mit dem Patrioten und Professor habe er den Antrag zurückgenommen. Hatten wir nicht Recht, vor drei Wochen an dieser Stelle zu sagen, dass die Krakeele zwischen Bürokratie und Universität von beiden Seiten „mit einem Maximum an Blamage und einem Minimum an Heroismus" ausgefochten zu werden pflegen? Den rechten Kitt zu dieser Versöhnung zweier schönen Seelen liefert Herr Delbrück übrigens in einem infamen Pasquill auf Engels und Marx, - das er als Leitaufsatz in dem Dezemberhefte seiner Zeitschrift veröffentlicht. Wir behalten uns vor, darauf zurückzukommen.

1 pereat sequens (lat.) - (auch) der Nachfolger wird scheitern.

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