Franz Mehring‎ > ‎1895‎ > ‎

Franz Mehring 18951002 Mumien

Franz Mehring: Mumien

2. Oktober 1895

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 111-116]

Die Wogen der patriotischen Empörung haben sich geglättet. Die bürgerlichen Blätter aller möglichen Richtungen sind darin einig, dass dem Reichstage weder ein neues Sozialistengesetz noch eine neue Umsturzvorlage zugehen wird. Mit seinem Fehderufe an die vaterlandslose Rotte hat der Kaiser nur das Volk zum geistigen und sittlichen Kampfe gegen die Sozialdemokratie erwecken wollen. Nichts also von Gewalt, nichts vom hauenden Säbel und der schießenden Flinte, nichts von Polizei und Staatsanwalt! Zwar stimmt die neue Mär noch nicht recht zu der polizeilichen und staatsanwaltlichen Praxis, zu den Anklagen wegen Majestätsbeleidigung, und nicht allein wegen Beleidigung lebender, sondern auch verstorbener Majestäten, zu den Untersuchungshaften, die auf Grund dieser hinfälligen Anklagen und auf Grund ebenso hinfälligen Fluchtverdachts über so viele Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen verhängt worden sind. Indessen das ist vielleicht nur ein Rest der alten, schlechten Praxis, die mit „Jämmerlichkeiten", wie Professor Delbrück sich ausdrückt, die gewaltigste Kulturbewegung des Jahrhunderts knebeln wollte. Die Herolde der bürgerlichen Klassen rufen von dem „falschen Kartell" zu dem „wahren Kartell"; die Mumien rüsten sich zum Kampfe gegen die Männer.

Die Mumien, sagen wir, denn wenn wir von dem bürgerlichen Geisteskampfe gegen die Sozialdemokratie hören, weht es uns immer an wie Grabesduft. Überblicken wir alles, was seit fünf Jahren, seit dem Erlöschen des Sozialistengesetzes, an geistigen und sittlichen Waffen gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung geschwungen worden ist, so glauben wir ohne Übertreibung sagen zu dürfen, dass sich auch nicht ein Schrotkügelchen darunter befindet, was nicht schon vor fünfzig Jahren erfolglos verpufft worden wäre. Alle die Redensarten, womit die Sozialdemokratie heute „geistig" überwunden wird, waren damals schon im Schwange, oft selbst wörtlich und immer nach ihrem Sinne, soweit sie überhaupt beanspruchen können, einen Sinn zu haben. Wir wollen nicht untersuchen, wieweit sie damals wenigstens neu und nicht auch schon Import aus der Fremde waren; es kostet uns keine Überwindung, den bürgerlichen Klassen den Ruhm zu lassen, wenigstens einmal diese seltsamen Krüppel von Geisteskindern selbständig in die Welt gesetzt zu haben. Was aber erstaunlich ist und in aller Geistesgeschichte nicht leicht seinesgleichen hat, das ist die mumienhafte Erstarrung, womit die herrschenden Klassen in Deutschland trotz aller ungeheuren Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre genau dieselben Schlagworte gegen die klassenbewussten Arbeiter ins Feld führen wie Anno dazumal.

Bleiben wir zunächst bei den kleinen Geschossen dieses Geisteskampfs, wie sie etwa Mumie Eugen Richter aus Kugelspritzen abfeuert: bei der Stiefelwichsfrage, dem Vorwurfe des „Teilens", der wehmütigen Klage über den Mangel eines ausgearbeiteten Planes, nach dem der Zukunftsstaat einzurichten sei. Im „Deutschen Bürgerbuche" für 1846 schrieb Moses Hess: „Mit welchen Gegnern sind wir doch zu kämpfen verdammt! Neulich noch, als bei Gelegenheit der schlesischen Arbeiteraufstände von der Gleichheit der Menschen die Rede war, erhob sich ein Commis-voyageur von seinem Sitze an der table d'hôte1 und warf mir siegesgewiss die Frage entgegen : Wer soll denn meine Stiefel wichsen, wenn alle Menschen gleiches Glück haben? Ich sagte ihm: Wenn Sie Ihre Stiefel durchaus gewichst haben wollen und es findet sich niemand, der es Ihnen vor tun mag, dann müssen Sie es selber tun; das Unglück wäre nicht so groß, wie manches andere." Dieser ungeduldige Moses Hess! Er fühlt sich schon „verdammt", wenn im Jahre des Heils 1846 ein Handlungsbeflissener ihm an der Wirtshaustafel die Stiefelwichsfrage als durchschlagenden Einwand gegen den Sozialismus vorhält; als was müssen wir uns aber erst fühlen, wenn wir dieselbe Frage mit den gewichtigsten Häuptern des Freisinns diskutieren müssen! Hess musste sich auch schon mit dem Vorwurfe des „Teilens" herumschlagen; er schrieb in einer Abhandlung aus dem Jahre 1844: „Beruhigt euch, ihr schmutzigen Seelen, die ihr unfähig seid, euch zur großen Idee des Sozialismus zu erheben! Wir wollen nicht teilen, wir wollen vereinigen. Die wesentliche Einheit der menschlichen Interessen kann am wenigsten durch eine neue ‚Verteilung der Güter' ins Leben gerufen werden, die der alten Lüge nur neue Nahrung geben würde." Und die Forderung, einen bis auf die letzten Schindeln des Daches ausgebildeten Zukunftsstaats-Plan vorzulegen, beleuchtete Marx schon 1842 in der „Rheinischen Zeitung" mit den Worten: „… wirft sie – die ,Augsburger Allgemeine Zeitung' – uns vor, dass wir nicht sofort ein probates Rezept verschrieben und einen sonnenklaren Bericht über die unmaßgebliche Lösung des Problems dem überraschten Leser in die Tasche spielten? Wir besitzen nicht die Kunst, mit einer Phrase Probleme zu bändigen, an deren Bezwingung zwei Völker arbeiten." Marx war damals noch orthodoxer Hegelianer und nahm eine sehr kritische Stellung zum Kommunismus ein. Aber er gebrauchte seine fünf Sinne zu dem Zwecke, zu dem sie ihm von der Natur verliehen waren, und so konnte er schon die Taktik, welche die Mumien Bachem, Richter usw. fünfzig Jahre später in der Zukunftsstaats-Debatte befolgen sollten, an dem Beispiele der Augsburgerin vorahnend schildern: „Die Augsburgerin ist impertinent im Fliehen. Sie reißt aus vor verfänglichen Zeiterscheinungen und glaubt, der Staub, den sie beim Ausreißen hinter sich aufwirbelt, sowie die ängstlichen Schmähworte, welche sie auf der Flucht zwischen den Zähnen hinmurmelt, blendeten und verwirrten die unbequeme Zeiterscheinung wie den bequemen Leser."2

Gehen wir zu anderem über. Die ganze offizielle „Sozialreform" ist eine Mumie aus den vierziger Jahren. Nach den schlesischen Weberaufständen konstituierten sich die herrschenden Klassen unter schmetternden Posaunenstößen der Reklame als Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen: Kranken- und Sterbeladen, Unterstützungs- und Pensionskassen, Schulen für die Kinder der Arbeiter, Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse durch Schriften und mündlichen Vortrag, Arbeitsnachweis, Organisation der Arbeit; alles das und wie viel anderes schwirrte hoffnungsvoll durcheinander. Was daraus geworden ist, zeigt der Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, der heute noch wie ein Veilchen im verborgenen blüht und seine Tätigkeit darin erschöpft, dem Klassenkampfe des Proletariats in allerlei Blättchen und Traktätchen zwar nicht Steine, aber doch Strohhalme in den Weg zu werfen. Was Mumie Windthorst gegen die Beteiligung der Arbeiter bei der Verwaltung der Versicherungsgesetze sagte, das hat der Berliner Bürgermeister Naunyn schon in den vierziger Jahren gegen die Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung des Zentralvereins gesagt, indem er ausführte, der Verein würde dadurch zu einem Jakobinerklub und zum Tummelplatz kommunistischer Debatten werden. Was Mumie Berlepsch im vorigen Winter über die Notwendigkeit, die „Sozialreform" zu sistieren, ausführte, das hat in den vierziger Jahren schon der Oberpräsident der Mark Brandenburg ausgeführt, indem er den Zentralverein beschwor, doch nur hübsch eine Spielerei der „gebildeten Klassen" zu bleiben, denn er dürfe nicht die Gefahr verkennen, welche aus einem zu starken Hinzutreten der „ungebildeten Klasse" erwachse, wodurch überspannte und maßlose Hoffnungen erregt würden. Was Mumie Stumm über sein patriarchalisches Unternehmertum darzustellen beliebt, das hat schon in den vierziger Jahren Ludolf Camphausen dargelegt, indem er schrieb, man dürfe das Elend der arbeitenden Klassen nur so weit einschränken, dass diese Klassen nicht zu neuen Ansprüchen angeregt, zu neuen Bedürfnissen erweckt, mit ihrem Zustande unzufriedener, zur Arbeit unwilliger gemacht würden. Und so mit Grazie ins Endlose. Man stöbere in den Reden und Schriften der Garde umher, welche die kapitalistische Gesellschaftsordnung verteidigt, und man wird auch nicht ein armseliges Schlagwörtchen finden, das in den vierziger Jahren nicht bereits ebenso – oder höchstens ehrlicher und kürzer und offener – bis zur Bewusstlosigkeit abgedroschen worden wäre.

In der Tat ehrlicher und kürzer und offener! Nehmen wir beispielsweise einen einzigen Satz aus dem „Rheinischen Beobachter", einem offiziösen Organ, das in Köln erschien und besonders zur Nasführung der rheinischen Arbeiter bestimmt war, so springen daraus gleich zwei so dicke Mumien, wie Bismarck und Stoecker, hervor. Wir lesen da in Nummer 206 vom 25. Juli 1847: „Der Kommunismus ist gar nicht von den Kommunisten erfunden worden, sondern schon im Allgemeinen Landrechte ausgesprochen, er hat schon die Weihe des Christentums für sich." Ein Menschenalter später plapperte Bismarck von dem Rechte auf Arbeit, das im Landrecht enthalten sei, und Stoecker zog mit seinem christlichen Sozialismus als funkelnagelneuer Entdeckung auf den Markt. Aus dem kleinen Schwindel des vormärzlichen Offiziösen kochten sie breite, breite Bettelsuppen, die richtigen Mumien, die richtigen Gespenster.

Der vormärzliche Offiziöse war gewiss kein besonders geistreicher Kopf; er schwatzte im Grunde auch nur nach, was er von dem Jungen England3 und einem Teile der französischen Legitimisten4 gelernt hatte, aber er mochte sich immerhin einbilden, für die noch sehr unerfahrenen Fischlein des deutschen Proletariats einen sehr blinkenden Köder an seinen Angelhaken gesteckt zu haben. Jedoch ihm fast auf dem Fuße folgte das Kommunistische Manifest. Darin hieß es von den Junkern:

Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihrem Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter", und von den Pfaffen:

Wie der Pfaffe immer Hand in Hand ging mit den Feudalen, so der pfäffische Sozialismus mit dem feudalistischen… Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet."5

Das war den deutschen Arbeitern seitdem in Fleisch und Blut übergegangen, und es gehörte die Kopflosigkeit von Gespenstern dazu, nun doch noch mit dem absolutistisch-feudalen Landrechte, das nicht einmal den ordinärsten Liberalismus kennt, als einem Evangelium sozialistischen Heils angezogen zu kommen oder mit den faden Traktätchen der Inneren Mission die hellen Köpfe der Arbeiter verdunkeln zu wollen. Es wäre wider die menschliche Natur gegangen, wenn Bismarck oder Stoecker unter den Arbeitern auch nur einen Proselyten gemacht hätten.

Im schroffen Gegensatze zu dieser mumienhaften Verwesung der herrschenden Klassen steht der ungeheure Fortschritt, den die arbeitenden Klassen in den letzten fünfzig Jahren gemacht haben. Um diesen Fortschritt zu erkennen, braucht man nur die armen schlesischen Weber, die ihren schändlichen Ausbeutern entweder die Häuser zertrümmerten oder aber ihnen gegen ein Viergroschenstück nebst einer Scheibe Speck ein Lebehoch ausbrachten, mit der heutigen Sozialdemokratie zu vergleichen. Auch diesem gewaltigen und unaufhaltsamen Aufschwunge einer gemisshandelten und unterdrückten Klasse mag man wenig in der Geschichte zur Seite stellen können. Aber dafür haben die herrschenden Klassen kein Auge, eben weil sie Mumien geworden sind und kraftstrotzendes Werden nicht mehr erkennen, geschweige denn verstehen können. Im günstigsten Falle sehen sie eine Krankheit, wo neues Leben in vollen Pulsen schlägt.

Der Kriegsruf des Kaisers, der das Volk aufbietet gegen die vaterlandslose Rotte, wird deshalb keine Erfolge haben, die sich in irgendwelchem Betrachte des Wortes sehen lassen können. Höchstens wird das alte Heer der invaliden Schlagworte noch einmal aufmarschieren und dann auseinander fließen, wie flüchtiger Schaum an einem Felsen zerstiebt. Irgendeinen neuen Gedanken, der gegen die geistige Wehr des Sozialismus ins Feld geführt werden könnte, produziert die bürgerliche Welt in allen ihren Schattierungen nicht mehr, und kann sie auch nicht mehr produzieren. Sie kann nicht mehr zu einer Möglichkeit oder gar Wirklichkeit machen, was sich seit fünfzig Jahren für sie als eine Unmöglichkeit erwiesen hat. Weshalb gerade in Deutschland, das sich einst des theoretischen Sinnes seiner bürgerlichen Klassen mit so großem Stolz rühmte und in gewissem Sinn auch mit Recht rühmen durfte, die geistige Impotenz dieser Klassen einen so hohen Grad erreicht hat, das ist eine Frage, deren richtige Beantwortung eine weitläufigere Untersuchung erheischt, als hier angestellt werden kann. Die Tatsache selbst aber steht fest, und kein Kaiser kann aus dem Boden stampfen, was nicht darinnen ist. Wo nichts ist, hat nach einem alten guten Wort auch der Kaiser sein Recht verloren.

Wie mit dem geistigen Kampfe gegen die Sozialdemokratie, so auch mit dem sittlichen. Moralpredigten haben im Klassenkampfe nichts zu suchen, und zudem ist die bürgerliche Moral nicht die proletarische, und die proletarische Moral nicht die bürgerliche. Aber selbst wenn die bürgerliche Moral die alleinige Moral wäre, so zeigt die ununterbrochene Kette von Skandalen, die sich seit langen Jahren durch die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft schlingt, dass diese Moral auch zur Mumie geworden ist, woran die Würmer nagen.

1 commis-voyageur (franz.) - reisender Handlungsgehilfe; table d'hôte (franz.) - Wirtshaustisch.

3 Junges England (Young England) - ein um 1842 gegründeter Zirkel englischer Aristokraten, Politiker und Literaten, die sich der Konservativen Partei (Tories) anschlossen. Namhafte Vertreter des Jungen Englands waren Benjamin Disraeli (1804-1881) und Thomas Carlyle (1795-1881). Die Vertreter des Jungen Englands, die die Unzufriedenheit der Grundbesitzeraristokratie mit der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Macht der Bourgeoisie zum Ausdruck brachten, nahmen zu demagogischen Mitteln Zuflucht, um die Arbeiterklasse unter ihren Einfluss zu bekommen und sie für ihren Kampf gegen die Bourgeoisie auszunützen. Im „Manifest der Kommunistischen Partei" charakterisieren Marx und Engels deren Ansichten als „feudalen Sozialismus".

4 Legitimisten - Anhänger der 1830 gestürzten Dynastie der Bourbonen; sie vertraten die Interessen des erblichen Großgrundbesitzes. Im Kampf gegen die von 1830-1848 herrschende Dynastie der Orleans, die sich auf Finanzaristokratie und Großbourgeoisie stützte, griff ein Teil der Legitimisten nicht selten zur sozialen Demagogie und gebärdete sich als Beschützer der Werktätigen vor der Ausbeutung durch die Bourgeoisie.

Kommentare