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Franz Mehring 18960701 Bürgerlich-Proletarisches

Franz Mehring: Bürgerlich-Proletarisches

1. Juli 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 139-143]

Der Reichstag ist heute mit der dritten Lesung des Bürgerlichen Gesetzbuchs fertig geworden. Die Durchpeitscher haben also den Willen der Regierung erfüllt, und das „große Werk" wird die Ära Hohenlohe verherrlichen. Ob die bürgerlichen Parteien mit besonderer Befriedigung auf die Hetzjagd der letzten Wochen zurückblicken, wissen wir nicht; täten sie es, so könnte ihnen wenigstens in diesem Falle die Tugend der Bescheidenheit nicht abgesprochen werden.

Mit Recht durfte Stadthagen in der dritten Lesung sagen, dass keine Partei an dem Bürgerlichen Gesetzbuch mit solchem Eifer gearbeitet habe wie die Sozialdemokratische, aber dass auch keine so vielen Grund habe wie sie, sich über den Gang der Verhandlung zu beschweren. Nicht alle ihre Arbeit ist umsonst aufgewandt worden; sie hat manchen Fortschritt im Interesse der arbeitenden Klassen zu erringen gewusst, und selbst – wider unser vor acht Tagen ausgesprochenes Erwarten – in der zweiten Lesung dies oder jenes durchsetzen können, so die Herabsetzung der Ehemündigkeit von 25 auf 21 Jahre, eine Verbesserung, die sie in der dritten Lesung dann noch mit Erfolg gegen den Angriff des mächtigen Herrn Stumm verteidigt hat. Was ihr aber bei allem Eifer und Geschick nicht gelungen ist, das ist diejenige Berücksichtigung der proletarischen Interessen im bürgerlichen Rechte, die auch unter den Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft schon möglich und deshalb notwendig wäre. Trotz aller prunkenden Redereien über die endlich errungene Rechtseinheit lässt das Bürgerliche Gesetzbuch überlebte Sondervorrechte der besitzenden Klassen und partikularrechtliche Ausnahmerechte gegen breite Schichten der arbeitenden Klassen, gegen die Bergarbeiter, gegen einen Teil der ländlichen Arbeiter und gegen das häusliche Gesinde bestehen. Diese Tatsache allein zwang schon die sozialdemokratische Fraktion, in der entscheidenden Schlussabstimmung gegen die neue Kodifikation des bürgerlichen Rechtes zu stimmen.

Deshalb hat sie nie verkannt und verkennt auch jetzt nicht, dass in dem Bürgerlichen Gesetzbuch neue, direkt gegen die Arbeiterklasse gerichtete Bestimmungen nicht enthalten sind, wohl aber viele Bestimmungen, die einen Fortschritt auch für die Arbeiterklasse bedeuten. Es liegt im Wesen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, dass, je höher sie sich entwickelt, umso breiterer Raum für den Emanzipationskampf des Proletariats gewonnen wird. Sie erzeugt selbst die Waffen, welche sie vernichten werden; und die Kämpfer, welche diese Waffen zu gebrauchen wissen. Dieser Antagonismus macht ihr inneres Wesen aus und kann nur mit ihr selbst untergehen. Je höher sich der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat schon entwickelt hat, um so ängstlicher schielt die bürgerliche Gesellschaft bei allen Reformen, welche in ihrem eigenen Interesse liegen, darauf hin, wie diese Reformen für die Bourgeoisie verwirklicht und für das Proletariat illusorisch gemacht werden können. Dies ist auch der Grund, weshalb England und Frankreich auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes so viel weiter gekommen sind als Deutschland. Die englische und französische Bourgeoisie hat einen Zeitraum der Blüte gehabt, wo sie sich über die Konsequenzen der kapitalistischen Wirtschaft täuschen, die Ansprüche des Proletariats, die erst in unbeholfen stammelnden Lauten kundgegeben wurden, in gutem Glauben als gleichgültige Zwischenfälle übersehen konnte. Der deutschen Bourgeoisie ist es so gut nicht geworden; sobald sie ihre historischen Ansprüche anmeldete, meldete auch ihr Erbe seine historischen Ansprüche an. Mögen ihre Soldschreiber sich die Finger lahm schreiben über die proletarischen „Utopien", sie selbst weiß es viel besser, und bei all ihren Fortschritten ängstigt sie sich vor dem gesunden Jungen, der mit seinen derben Schuhen in ihre trippelnden Fußstapfen tritt. Es geht ihr mit den bürgerlichen Reformen wie der Echternacher Springprozession: Auf zwei Schritte vorwärts macht sie immer einen Schritt zurück.

So ist es auch mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch gegangen. Die Bourgeoisie braucht die Rechtseinheit wie das liebe Brot, und sie weiß, dass die Rechtseinheit dem kämpfenden Proletariat das Terrain ebnet. Ihr Bestreben ging also dahin, die Rechtseinheit für sich zu einem Wesen und für die Arbeiterklasse zu einem Scheine zu machen. Das heißt aber, bis zu einem gewissen Grade die Quadratur des Kreises suchen. Die Bourgeoisie konnte kein Bürgerliches Gesetzbuch, das auch nur einigermaßen ihren eigenen Interessen entsprach, fertig stellen, ohne dass dabei mancherlei für die Interessen des Proletariats abfiel. Jedoch soweit sie die Rechtseinheit ganz oder vorwiegend auf Kosten der Arbeiterklasse verkümmern konnte, hat sie es getan. Im einzelnen war die Grenzscheide nicht immer leicht und sicher zu ziehen, und auf dieser Grenzscheide hat die umsichtige Politik der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion die Vertreter der Bourgeoisie an verschiedenen Stellen weiter zu drängen gewusst, als in der Absicht dieser Herren lag; in einer Reihe von Fällen hat sie die Echternacher Springer zu hindern gewusst, auf zwei Schritte vorwärts gleich wieder einen Schritt rückwärts zu tun. Aber wo die Bourgeoisie unzweideutig erkannte, dass die Rechtseinheit ganz oder überwiegend dem Proletariat zugute kommen würde, da war sie, fest eingerammt in ihren Klasseninteressen und Klassenvorurteilen, wie sie ist, natürlich nicht zu werfen.

Hieraus ergab sich die sozialdemokratische Taktik von selbst. Es lohnte sich, mit allem Eifer mitzuarbeiten an einem Gesetzbuch, das einen historischen Fortschritt im Allgemeinen darstellt, und es lohnte sich, seine Bestimmungen nach Kräften zu einem historischen Fortschritt für die arbeitende Klasse im Besonderen umzugestalten. Aber die sozialdemokratische Fraktion konnte nicht ihr Siegel unter eine Urkunde drücken, die in wichtigen Punkten dem Proletariat noch diejenigen Rechte vorenthält, welche ihm schon nach den Bedingungen der modernen bürgerlichen Gesellschaft zustehen. Diese Politik ist ebenso klar wie selbstverständlich, und von allen Fraktionen des Reichstags ist die sozialdemokratische die einzige, die mit voller Befriedigung auf die Verhandlungen über das Bürgerliche Gesetzbuch zurückblicken darf. Sie allein wusste immer und unter allen Umständen genau, was sie wollte, und das Missverhältnis, in dem ihre Erfolge zu ihren Anstrengungen zu stehen scheinen, ist eben ein Schein, der diejenigen trügen wird, die sich auf ihn verlassen. Parlamentsmajoritäten können nicht Vernunft in Unsinn verwandeln, und eine herrschende Klasse, die in dumpfem Eigennutz die Konsequenzen ihrer eigenen Weltanschauung verleugnet, nur weil diese Konsequenzen von der beherrschten Klasse gezogen werden, soll sich doch nicht einbilden, überhaupt noch festen Boden unter den Füßen zu haben.

Freilich sucht sie es sich umso krampfhafter einzubilden, je mehr sie fühlt, dass ihre Herrlichkeit sehr wacklig geworden ist. Ein eigentümlicher Zufall fügt, dass gleichzeitig mit der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Minister v. Berlepsch aus dem Amte scheidet, in das er vor sechs Jahren als „Minister der Sozialreform" eintrat. Er wackelte auch schon seit lange, und sein Sturz ist nichts weniger als tragisch. Hätte er gehen wollen, als die letzten Hoffnungen auf jenes „soziale Königtum" schwanden, das er zu vertreten berufen war, so würde er schon seit langen Jahren im verdienten Ruhestande leben. Wer denkt heute noch an die Februarerlasse1, die im Sturm des proletarischen Klassenkampfs längst verweht sind wie ein paar dürre Herbstblätter? Herr v. Berlepsch selbst gestand vor Jahr und Tag im Reichstage, die Regierung wage nicht, auf dem Wege vorzugehen, den diese Erlasse hätten einschlagen wollen, aus Angst, durch soziale Reformen die Sozialdemokratie zu stärken. Er kennzeichnete die Erlasse dadurch richtig als eine politische Spekulation auf die Kurzsichtigkeit des Proletariats, als eine Spekulation, die obendrein noch unendlich viel kurzsichtiger war, als das Proletariat hätte sein müssen, wenn es auf sie eingehen sollte. Trotzdem blieb Herr v. Berlepsch ruhig in seinem Amte, und wenn er jetzt fällt, so fällt kein Held, der bis zum eigenen Untergang um eine große, sei es auch verlorene Sache gekämpft hat.

Herr v. Berlepsch war einer jener einsichtigen und wohlwollenden Verwaltungsbeamten, an denen es der preußischen Bürokratie seit den Tagen Altensteins und Schöns und auch schon früher nie völlig gefehlt hat. Die Bürokratie ist eine Klasse mit eigenen Interessen, die als solche nicht immer nach der Pfeife des Junkertums oder der Bourgeoisie tanzt. Gerade ihre begabteren und kräftigeren Mitglieder wollen etwas für sich sein und spielen das Staatsinteresse je nachdem gegen die herrschenden Klassen aus, die sich um die staatlichen Machtmittel raufen. Als es sich um die so genannte Bauernbefreiung in Preußen handelte, trat der Kriegsrat Scharnweber mit großem Nachdruck gegen die Prellereien auf, womit die Junker von vornherein die Bauern über den Löffel zu barbieren suchten. Mit großem Nachdruck, aber ohne dass er die furchtbare Begaunerung der Bauern durch die Junker im Wesentlichen hindern konnte. Solche weiße Raben hat es in der preußischen Bürokratie immer gegeben; sie bildeten sich ein, unparteiisch über den Klassenkämpfen stehen und die Interessen der Unterdrückten mit den Interessen der Unterdrücker versöhnen zu können. Dabei blieben sie aber immer Bürokraten, und die Geschichte meldet von keinem dieser trefflichen Männer, dass er an gebrochenem Herzen über das unausbleibliche Scheitern seiner Illusionen gestorben sei.

Auch Herr v. Berlepsch zieht fröhlich und wohlgemut von dannen, und er selbst wird nicht erwarten, dass in der Arbeiterklasse irgendwo eine Träne um sein Scheiden rinnt. Aber wenn er nicht für seine Ideale gestorben ist, so kann man doch mit dem schwedischen Hauptmann im „Wallenstein" von ihm sagen: Man sagt, er wollte sterben. Die ungewöhnliche Festigkeit, womit er hinter dem bisschen Bäckerschutz stand, lässt die wohlwollende Annahme zu, dass er, da er als „Minister der Sozialreform" nicht leben konnte, so doch als „Minister der Sozialreform" sterben wollte. Und dieser gute Abgang mag ihm auch gegönnt werden, sintemalen an dem Bäckerschutz sich so herrlich offenbart hat, dass hinter der „Sozialreform von oben" wirklich auch rein gar nichts steckt. Das einzige, was sie auszeichnet, ist eine wahrhaft rührende Großmut; sie beeifert sich, die unheimlichsten Prophezeiungen von ihrer Nichtigkeit noch immer als rosenrote Illusionen aufzudecken. Hätte zur Zeit der Februarerlasse irgend jemand vorhergesagt, der eben berufene „Minister der Sozialreform" würde purzeln, weil er nach sechsjähriger Untätigkeit die ärgsten und schmutzigsten Menschenschindereien im Bäckereigewerbe ein wenig einzuschränken versucht habe: Der verhärtetste Sozialdemokrat hätte in dieser Prophezeiung eine ruchlose Verleumdung des „sozialen Königtums" erblickt. So niedrig, wie sie sich selbst einschätzt, haben ihre abgesagtesten Gegner die „Sozialreform von oben" nie einzuschätzen gewagt.

Der Sturz des Herrn v. Berlepsch reiht sich als ein Erfolg mehr an die wachsenden Erfolge des Königs Stumm. Sollte wirklich ein Kurs Stumm über das neue Deutsche Reich heraufziehen? Es wäre verwegen, bestreiten zu wollen, dass in einem Reiche, in dem sich jede mögliche Sozialreform als unmöglich erwiesen hat, eine soziale Reaktion, die unmöglich sein sollte, sich dennoch als möglich erweisen könnte. König Stumm hat ein viel zu starkes Selbstgefühl, als dass er besonders ermuntert zu werden brauchte, auf ein Glatteis zu gehen, von dem er nicht mit heilen Gliedmaßen zurückkehren würde. Mit Furcht und Zittern würden wir den strengen Mann aber nicht auf sein Abenteuer ausziehen sehen, sondern mit dem Troste des wohlwollenden Menschenfreundes: Nur Mut, es wird schon schief gehen.

1 Gemeint sind die kaiserlichen Erlasse, die ohne Gegenzeichnung am 4. Februar 1890 im „Reichs- und Staatsanzeiger" veröffentlicht wurden, betreffend: 1. Anweisung an den Reichskanzler, eine internationale Einigung mit den Regierungen der Hauptkonkurrenzmächte Frankreich, England, Belgien und Schweiz in die Wege zu leiten, um die Lage der Arbeiter bessern zu können; 2. Anweisung an die Minister für öffentliche Arbeiten und für Handel und Gewerbe, eine Sitzung des Staatsrates zur Prüfung der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und ihren Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung einzuberufen, wenn eine internationale Konferenz zur Herbeiführung gleichmäßiger internationaler Regelungen erreicht werden kann. Vom 15. bis 29. März 1890 fand die selbstverständlich erfolglose so genannte „internationale Arbeiterschutzkonferenz" in Berlin statt. Das Ergebnis der Februarerlasse war das am 6. Mai 1890 vom Reichstag verabschiedete „Arbeiterschutzgesetz", das die Bildung von Gewerbegerichten bestimmte.

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