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Franz Mehring 18961216 Das Gegenbild

Franz Mehring: Das Gegenbild

16. Dezember 1896

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 149-153]

Der Prozess Leckert-Lützow, das war die alte, vergehende Welt. Der Riesenstreik an der Wasserkante, das ist die neue, entstehende Welt. Dort Modergeruch, Schmutz, Verfall und scheues Zurückweichen in die Heimlichkeit, die noch mit mitleidigem Schleier die scheußlichen Krämpfe des Todeskampfes verdeckt; hier frische Morgenluft und ein Heldenkampf, ehrlich, kräftig, offen geführt um das menschenwürdige Dasein von vielen Tausenden, ein Kampf, der ebenso eine Ehre, wie jener Prozess eine Schande des Jahrhunderts ist.

Diesen Kampf mitzukämpfen, ihn in seinem Auf- und Niederwogen anfeuernd und unterstützend zu begleiten, das ist der beneidenswerte Vorzug der Tagespresse. Ein Wochenblatt muss sich bescheiden, ihn in seinem Zusammenhange mit dem gesamten Emanzipationskampf des Proletariats zu würdigen. Es ist unsinnig zu sagen, die Sozialdemokratie habe den Streik der Hamburger Hafenarbeiter gemacht. Sie hat ihn sowenig gemacht, wie sie die Schwalben im Frühjahr machte. Die Schwalben kommen nicht regelmäßiger im Frühjahr, als in jeder Periode industriellen Aufschwungs die Streiks kommen, gleichviel ob es eine Sozialdemokratie gibt oder nicht, und wenn es eine gibt: gleichviel ob zu ihrer Freude oder zu ihrem Verdruss. Aber wenn die Sozialdemokratie nicht die Streiks macht, so haben die Streiks allerdings Folgen, welche die Sozialdemokratie sehr viel angehen.

Wirklich tun die erbittertsten Gegner der Sozialdemokratie – und die Hamburger Reeder wie der Minister v. Boetticher rechnen es sich ja zur Ehre an, zu diesen Gegnern zu gehören – alles mögliche, um die gesamte Arbeiterklasse ins Lager der Sozialdemokratie zu treiben. Die Hamburger Reeder tun es, indem sie den Streik der Hafenarbeiter zu einer Machtfrage machen, und der Minister v. Boetticher tut es, indem er sich auf die Seite der Hamburger Reeder stellt. Nicht die sozialistische, sondern die bürgerliche Ökonomie lehrt, dass die beste der Welten hergestellt sei, wenn jede Ware zu dem Preise losgeschlagen werde, den sie nach dem Stande des Marktes verlangen könne. Jeder bürgerliche Kaufmann handelt tagtäglich so; er mag sich verrechnen und mehr beanspruchen, als die jeweiligen Konjunkturen gestatten, wie es gleichfalls tagtäglich vorkommt, aber dann trägt er den Schaden, ohne dass ein Hahn darnach kräht. Welches Geschrei würde sich wohl in der bürgerlichen Welt erheben, wenn die Konsumenten einer Ware ihren Besitzern nicht etwa nur erklärten, wie es ihr bürgerliches Recht ist: Die Preise, die ihr fordert, sind zu hoch nach dem Stande des Marktes, sondern vielmehr: Gleichviel ob die von euch geforderten Preise zu hoch sind oder nicht, so werden wir sie nicht zahlen, weil wir euch die Pistole auf die Brust zu setzen beabsichtigen. Und welch' ein Spektakel vollends, wenn ein Minister diese angenehme Auffassung für „berechtigt" erklärte!

Dies aber tun die Hamburger Reeder und der sie unterstützende Minister v. Boetticher. Der Streik ist eine Erscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, in deren Boden er begrifflich und geschichtlich wurzelt. Von einem „Streikunsinn" zu sprechen haben nur die Sozialisten das Recht, welche die bürgerliche Gesellschaft für einen „Unsinn" halten, wie beispielsweise Rodbertus jenes Wort mit Vorliebe gebrauchte. Die bürgerlichen Ökonomen haben dies Recht nicht, und soweit sie nicht dienstwillige Kulis des Kapitals sind, die gegen Geld und gute Worte ihrer eigenen Überzeugung ins Gesicht schlagen, beanspruchen sie es auch nicht. In dem Streik vollziehen die Besitzer der Ware Arbeitskraft dieselbe Operation, welche die Besitzer anderer Waren unausgesetzt vollziehen: Sie suchen ihre Ware so teuer zu verkaufen, wie es der Stand des Marktes gestattet. So viel Gerechtigkeit und Vernunft herrscht in der bürgerlichen Gesellschaft immerhin noch, dass sie theoretisch der Ware Arbeitskraft nicht unbillig sein lässt, was nach ihren Grundsätzen der Ware Kaffee oder der Ware Zucker recht ist. Deshalb erscheinen die Streiks bei günstigen Konjunkturen des Marktes so sicher wie die Schwalben im Frühjahr. Aber diese Erscheinung spielt sich vollständig auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft ab, aus deren historischen und logischen Voraussetzungen sie sich als einfache Schlussfolgerung ableitet. Die Sozialdemokratie als das politisch organisierte Proletariat hat damit nicht mehr zu tun als mit der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; sie sieht darauf, dass dem Proletariat wenigstens das Maß von Recht wird, das ihm sogar der bürgerliche Markt einräumt, ohne übrigens zu verhehlen, dass den Arbeitern nach den Gesetzen dieses Marktes niemals zu einem menschenwürdigen Dasein verholfen werden kann.

Die wirklichen Hetzer, Unruhestifter und Unterwühler der bürgerlichen Gesellschaft sind also diejenigen, die eine in der bürgerlichen Gesellschaft so vollkommen legitime Erscheinung, wie der Streik ist, für „unberechtigt" erklären, was er selbst dann nicht sein würde, wenn er auch einmal auf einer irrigen Kalkulation beruhen sollte, oder welche die heiligen Gesetze von Angebot und Nachfrage über den Haufen rennen, indem sie die „Machtfrage" dazwischen schieben. Die Hamburger Hafenarbeiter, und mit ihnen die sie unterstützende Sozialdemokratie, vertreten gerade das bisschen Gerechtigkeit und Vernunft, das noch in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht oder angeblich herrschen soll. Sie haben den Reedern wiederholt erklärt: Wir ziehen unsere Ware Arbeitskraft vom Markte zurück, um dadurch ihren Preis so weit zu steigern, wie den Konjunkturen und euren steigenden Profiten entspricht. Wenn ihr behauptet, dass wir einen höheren Preis fordern, als dem Stande des Marktes angemessen ist, nun gut, irren ist menschlich, und wir sind keine unbillig denkenden Leute. Wir wollen mit euch darüber verhandeln, und bei gegenseitigem gutem Willen einigen wir uns vielleicht über einen Preis, der euch ansteht und uns auch. So haben die Hafenarbeiter in Hamburg wiederholt gesprochen, aber stets von den Reedern zur Antwort erhalten: Erst nehmt den Preis für eure Ware, den wir euch diktieren, und dann wollen wir sehen, ob wir diesen Preis erhöhen können. Gesetzt den Fall, ein Kaufmann böte ein Pfund Zucker zu 30 Pfennig an und ein Konsument sagte ihm: Das mag schon der marktgängige Preis sein, aber um dir meine Macht zu zeigen, will ich dir nur 20 Pfennig zahlen, und wenn du dich damit zufrieden erklärt hast, will ich sehen, ob ich dir noch 10 oder 5 oder 1 Pfennig oder auch nichts darauf lege, so würde die bürgerliche Gesellschaft den Kaufmann, der sich freiwillig auf dies Geschäft einließe, für verrückt erklären, und von ihrem Standpunkte aus auch mit vollem Rechte. Aber was an dem Besitzer der Ware Zucker die reine Verrücktheit sein würde, das soll an dem Besitzer der Ware Arbeitskraft patriotische Pflicht sein, nämlich wenn die Hamburger Reeder und der Minister v. Boetticher Recht haben.

Diese weisen Männer werden nun zwar erklären, die Ware Arbeitskraft sei nicht dieselbe Ware wie die Ware Kaffee oder die Ware Zucker. Und freilich ist sie eine ganz besondere Ware, wie Blut ein ganz besonderer Saft ist. Die Arbeitskraft ist die einzige Ware, deren Gebrauchswert die eigentümliche Beschaffenheit besitzt, Quelle von Wert zu sein, deren Verbrauch alle Schätze in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Stehen die Hamburger Reeder und der Minister v. Boetticher auf diesem Standpunkt, nun wohl, der Sozialdemokratie kann es nur umso willkommener sein. Welcher Grund läge dann aber vor, dieser kostbarsten Ware das in der bürgerlichen Gesellschaft unveräußerliche Warenrecht zu nehmen, dessen an der unscheinbarsten Ware versuchte Antastung sofort die bürgerlichen Denker rebellisch macht oder machen würde. Auf dem Boden der heutigen Gesellschaft drehe und wende man sich, wie man will: Man kann den Streik nicht aus ihr entfernen, ohne ihr Lebensprinzip zu vernichten, und deshalb führen die Hamburger Reeder wie der Minister v. Boetticher einen Todesstoß nach dem Herzen dieser Gesellschaft durch die Stellung, welche sie zum Streik der Hafenarbeiter eingenommen haben.

Was sie zu diesem selbstmörderischen Beginnen treibt, ist freilich nicht unerklärlich. Es ist jene besondere Eigenschaft der Ware Arbeitskraft. Weil ihr Verbrauch immer neue Schätze für die besitzenden Klassen schafft, so verlangen diese Klassen, dass sie sich widerstandslos ausquetschen lassen soll wie eine Zitrone. Wenn dieser Ware ihr Warenrecht gewährt wird, wer mag wissen, ob nicht der Mensch, der in ihr steckt, auf die, mit Meister Ure zu sprechen, „rappelköpfige Laune" verfällt, auch sein Menschenrecht zu verlangen? Und wir sind weit entfernt, diese Besorgnis für unbegründet zu erklären. So sehr der Streik auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft bleibt, eine so legitime Einrichtung dieser Gesellschaft er ist, so ist er gewiss auch die Erscheinung, an der ihre unheilbaren Widersprüche zuerst aufbrechen. Die Streiks sind die ersten Versuche des Proletariats, die Konkurrenz in seinen eigenen Reihen aufzuheben; sie versetzen dem Lohnsystem einen harten Stoß und berühren die bürgerliche Gesellschaft, wo sie am empfindlichsten ist, mit rauer Faust; sie können freilich weder das Lohnsystem zertrümmern noch die Wurzeln der bürgerlichen Gesellschaft zerstören, aber gerade weil ihre Wirksamkeit immer beschränkt bleiben muss, treiben sie über sich selbst heraus. Insoweit war es ein ganz ahnungsvoller Engel, der vor zehn Jahren einem junkerlichen Polizeikopfe die Offenbarung zuflüsterte, dass hinter jedem Streik die Hydra der Revolution laure.

Die unheilbaren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft sind eben unheilbar. Worum es sich für sie allein noch handeln kann, das ist die Frage, wie lange sie es noch treiben will. Und unter diesem Gesichtspunkte ist der Mordversuch, den die Hamburger Reeder und der Minister v. Boetticher an ihr begehen, einfach unbegreiflich. Gibt es überhaupt noch ein Mittel, den Menschen, der in der Ware Arbeitskraft steckt, darüber hinwegzutäuschen, dass er ein Menschenrecht besitzt, so besteht dies Mittel darin, der Ware Arbeitskraft ihr Warenrecht zu lassen. Billiger ist eine etwaige Aussicht auf eine nennenswerte Fortdauer der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu haben. Denn dass moderne Arbeiter jemals auf den Kulturzustand antiker Sklaven zurückgedrängt werden können, das bilden sich die Hamburger Reeder und der Minister Boetticher doch hoffentlich selbst nicht ein. Durch ihre glorreiche Politik machen sie moderne Proletarier nicht zu antiken Sklaven, sondern – zu revolutionären Sozialdemokraten.

Eben jetzt läuft durch die Bourgeoispresse eine, von einem Tintenkuli der „National-Zeitung" ausgeheckte Berechnung, wonach die deutschen Arbeiter in allen bedeutenden Lohnkämpfen des Jahres 1896 unterlegen sein sollen. Es wird da gesagt, dass nicht ein einziger von dreißig großen Streiks von den Arbeitern gewonnen worden sei, und daraus wird gefolgert, dass einer festen und geschlossenen Koalition der „Arbeitgeber" gegenüber die „Arbeitnehmer" machtlos seien. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen dieses Triumphgeschreis richtig sind, aber gesetzt, sie wären richtig, so fällt der bürgerliche Zeilenreißer ein vernichtenderes Urteil über die bürgerliche Gesellschaft, als ein sozialistischer Denker je über sie gefällt hat. Alle Sozialisten sind bisher darin einig gewesen, dass die arbeitenden Klassen auch auf dem Boden und mit den Mitteln der bürgerlichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade ihre Klassenlage fördern und verbessern können; die Behauptung, dass auch nicht einmal dies möglich sei, dass die arbeitende Klasse in der bürgerlichen Gesellschaft zu völliger Machtlosigkeit verurteilt, dass sie auf die Stellung antiker Sklaven reduziert sei, wird zuerst von der deutschen Bourgeoispresse aufgestellt. Diesen traurigen Ruhm gönnen wir ihr gern und ebenso die Illusion, als endgültiges Siegesgeschrei auszuposaunen, was, wenn es wahr sein sollte, das unwiderrufliche Todesurteil der bürgerlichen Gesellschaft sein würde.

So oder so – in ihrem heldenhaften Kampfe führen die Hamburger Hafenarbeiter die große Sache freier Menschheit rüstig vorwärts. Mögen sie siegen, wie wir hoffen und wünschen, mögen sie unterliegen, wie die Unkenstimmen der Bourgeoisiepresse krächzen, in jedem Falle haben sie sich unvergängliche Verdienste um den Emanzipationskampf des Proletariats erworben. Wie ein großer historischer Kampf, hoffnungs- und trostreich für jeden Kopf, der noch denken, für jedes Herz, das noch fühlen kann, hebt sich ihr Streik ab von jenem ekelhaften und schmutzigen Prozess, der die herrschenden Klassen zeigte, wie sie sind: verseucht und zerrüttet bis ins innerste Mark.

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