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Franz Mehring 18971201 Der Tanz mit Moloch

Franz Mehring: Der Tanz mit Moloch

1. Dezember 1897

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 190-194]

Die Thronrede, mit welcher gestern die letzte Tagung des im Jahre 1893 gewählten Reichstags eingeleitet wurde, hat nach allgemeinem Urteil keine Überraschungen geboten. Es sei denn, dass man die persönlichen Worte, die der Kaiser der Verlesung des offiziellen Aktenstücks hinzufügte, als eine Überraschung nehmen will. Diese Worte selbst waren ein lebhafter Zuruf an die patriotische Begeisterung der Reichstagsabgeordneten, fanden aber unter den anwesenden Volksvertretern keinen Widerhall, obgleich sich die Versammlung im Weißen Saale so gut wie ausschließlich aus den Parteien des abgestempelten Patriotismus rekrutierte. Die Hurrastimmung ist im Volke gründlich ausgestorben, und auch die Parteien, die dem Leben der Massen am fernsten stehen, haben doch noch ein viel feineres Gefühl für das nationale Empfinden, als es vorhanden sein mag – um ein patriotisches Lied zu zitieren – auf der steilen Höh', wo Fürsten stehn.

Freilich muss man sich hüten, aus dem kalten Schweigen, womit der persönliche Aufruf des Kaisers von den anwesenden Reichstagsabgeordneten beantwortet wurde, zu weittragende Folgerungen zu ziehen. Wer keine Freude daran hat, sich selbst Illusionen vorzugaukeln, der wird sich je länger je weniger dem Eindruck verschließen können, dass es mit dem „Zuge nach links" nicht weit her ist, soweit es auf die bürgerlichen Kreise ankommt. Zutreffend genug bezeichnen diese Kreise selbst ihre augenblickliche Stimmung als Reichsverdrossenheit. Gewiss ist diese Verdrossenheit sehr groß, und sie erstreckt sich sehr weit, aber mit Verdrossenheit und Verdrießlichkeit ist in politischen Dingen sehr wenig getan. Sie ist nur erst das Bewusstsein, in den Sumpf geraten zu sein, wo er am tiefsten ist, aber sie ist noch lange nicht der Entschluss, aus dem Sumpfe herauszukommen, es koste, was es wolle. Um eine politische Initiative ergreifen zu können, muss man Entschlossenheit, Feuer, Tatkraft besitzen, mit einem Worte bis auf den letzten Hauch jene Reichsverdrossenheit abgeschüttelt haben, in welcher die bürgerliche Welt nach ihrem eigenen Zeugnis noch mittendrin steckt.

Der Reichsregierung kann man wenigstens das eine Zeugnis nicht versagen, dass sie in der Thronrede die Frage der nächsten Zukunft mit dankenswerter Deutlichkeit gestellt hat. Sie fordert das Marineseptennat1, das dem Volke neue ungeheure Lasten auferlegt, die kümmerlichen Rechte der Volksvertretung noch um ein verhältnismäßig starkes Stück beschneidet und die auswärtige Politik des Deutschen Reiches auf abenteuerliche, den Volksinteressen abgewandte Bahnen zu führen berufen ist, und sie bietet dafür eine so genannte Reform des Militärstrafverfahrens, die mit „modernen Rechtsanschauungen" höchstens in einen satirischen Zusammenhang gebracht werden kann.

Die Logik lässt sich dem Moloch des Militarismus weder im Geben noch im Nehmen abstreiten. Von seinem eigenen Standpunkt aus hat sich das preußische Militärstrafverfahren, so wie es heute besteht, längst überlebt; gerade einsichtige Militärs haben seine Reform seit Jahren und seit Jahrzehnten verlangt, nicht im Sinne eines Zugeständnisses an bürgerliche Rechtsanschauungen, sondern im Sinne des historischen Fortschritts, den die modernen Massenheere über die Söldnerheere Gustav Adolfs oder des alten Fritz hinaus gemacht haben. Es ist ein analoges Verhältnis, wie es vor neunzig Jahren bestand, als einsichtige Junker die Modernisierung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses, oder vor dreißig Jahren, als einsichtige Junker die Modernisierung der feudalen Kreisverfassung verlangten. Die „Reform" bestand in allen diesen Fällen einfach darin, dass die klügsten Köpfe einer bisher privilegierten Klasse einsahen, das alte Unwesen lasse sich nur in neuen Formen erhalten.

So steht es um den Gesetzentwurf über die Militärgerichtsbarkeit, den die Regierung dem Reichstag vorgelegt hat. Die bürgerliche Klasse sieht das auch recht gut ein, und man kann den Entwurf nicht treffender kritisieren, als es die „Vossische Zeitung", das Leiborgan der hiesigen Philister, mit den Worten tut, er werde auf den größten Teil des deutschen Volkes wirken wie ein kalter Wasserstrahl, er sei den einseitigsten militärischen Anschauungen entsprungen, er gewährleiste wenig nennenswerte Verbesserungen, in mancher Hinsicht bewirke er noch eine Verschlechterung des bisherigen Zustandes. Das ist sehr richtig; höchstens mag die Behauptung, dass die Vorlage „auf den größten Teil des deutschen Volkes" wie „ein kalter Wasserstrahl" wirken werde, insofern anfechtbar sein, als die Arbeiterklasse durchaus nicht von dieser Bescherung überrascht worden ist. Ihre Organe haben sich niemals eingebildet, dass der Militarismus sich aus freien Stücken zu „modernen Rechtsanschauungen" bekehren werde; so etwas ist noch keinem Volke unter dem Weihnachtsbaum aufgebaut worden. Die unangenehme Überraschung, die der Entwurf der Regierung dem deutschen Bürgertum bereitet, hat diese Klasse sich selbst zuzuschreiben; sie hat so lange vor dem Moloch geduckmäusert, dass dieser ihr alles bieten zu können glaubt. Der erste Schritt zur Besserung wäre, dass die bürgerliche Mehrheit des Reichstags dieses gesetzgeberische Produkt des Zickzackkurses seinen Urhebern vor die Füße würfe und sich nicht erst, wie die „Vossische Zeitung" fordert, auf eine „durchgreifende Umgestaltung" einließe. Denn so wie die Dinge liegen, würde diese „durchgreifende Umgestaltung" entweder auf ein kümmerliches Flick- und Stückwerk hinauslaufen, das die Vorlage noch ein wenig mehr verheuchelte, aber keineswegs verbesserte, oder sie würde der Regierung den willkommenen Anlass bieten, die Schuld an dem Fortbestehen des gegenwärtigen unerträglichen Zustandes auf die Schultern des Reichstags zu schieben, der durch seine übertriebenen Forderungen die von der Regierung angebotene und insoweit auch von der Volksvertretung angenommene „Reform" vereitelt habe. Die Erfahrung eines Menschenalters zeigt genugsam, was bei dem ewigen Kompromisseln und Schachern herauskommt; es ist nicht nur der prinzipiell richtigere, sondern auch der praktisch nützlichere Standpunkt, von vornherein zu erklären, dass dies Angebot der Regierung überhaupt gar keine „Reform" sei, sondern eine bloße Übertünchung mittelalterlichen Moders und nur ein Versuch, in modern zugestutzten Formen für das „Volk in Waffen" dieselbe Gerichtsbarkeit beizubehalten, die für verlotterte Söldnerheere gut genug sein mochte.

Freilich müsste diesem ersten Schritte gleich der zweite Schritt den gehörigen Nachdruck geben. Was Moloch nicht freiwillig gibt und seinem Wesen nach niemals freiwillig geben kann, das muss ihm abgekämpft werden, und der zweite Schritt wäre eben, ihm praktisch zu zeigen, dass seine Macht ihre Grenze hat. Nach allen verpassten Gelegenheiten der Vergangenheit bietet dazu die Marinevorlage den günstigsten Ausgangspunkt. Was in dieser Beziehung zu sagen wäre, das ist im vergangenen Frühjahr, als die „uferlosen Flottenpläne" zuerst praktische Gestalt annahmen, zur Genüge gesagt worden; jetzt ist der Reichstag vor die endgültige Entscheidung gestellt, und es muss sich zeigen, ob er die Kraft und den Mut haben wird, sein: bis hierher und nicht weiter! auszusprechen.

Es ist nicht zu verkennen, dass Herr Tirpitz seine Sache etwas schlauer angefangen hat, als man sonst von den Trägern des Zickzackkurses gewöhnt ist. Seine Behauptung, dass die Umwälzungen der Technik ihren Abschluss erreicht hätten, und seine Versicherung, dass mit der Durchführung seines Flottenplans jede weitere Vergrößerung der Kriegsmarine ausgeschlossen sei, wird natürlich kein verständiger Mensch für bare Münze nehmen; derartige Verheißungen Molochs sind so abgeleiert, dass er selbst sie wohl nur noch ehren- oder schandenhalber herbetet. Aber es ist ein nicht übler Schachzug des „Marine-Roons", dass er seine Forderungen mit dem Septennat bepackt und damit den liberalen Walfischen eine Tonne zum Spielen hingeworfen hat. Und nicht nur den liberalen Walfischen. Auch in der ultramontanen Presse ist schon sehr deutlich die Melodie zu hören: Nur nicht solch Attentat auf die konstitutionellen Rechte des Reichstags; über die Forderungen der Regierung selbst ließe sich dann schon eher reden.

Gegen dieses Ausweichen der bürgerlichen Oppositionsparteien kann nicht früh genug protestiert werden. Man zäumt das Pferd am Schwanz auf, wenn man das Septennat als den eigentlichen Zankapfel in den Vordergrund schiebt. Gewiss liegt die dringendste Notwendigkeit vor, das bisschen Macht zu wahren, das der Reichstag noch besitzt, aber die ganze Frage des Septennats kommt ja gar nicht erst ins Spiel, wenn der Reichstag überhaupt den Flottenplan des Herrn Tirpitz kurzerhand verwirft. Wir sprechen hier nicht von den Parteien, die von vornherein gewillt sind, sich auf die Marineforderungen einzulassen; für sie mag die Forderung des Septennats einen Unterschied bedeuten. Aber für diejenigen bürgerlichen Parteien, die bisher entschlossen waren, die „abenteuerliche Weltpolitik" und die „uferlosen Flottenpläne" von der Schwelle zu weisen, ist die Frage des Septennats vollständig gleichgültig, es sei denn, dass sie daran die Unersättlichkeit Molochs theoretisch demonstrieren wollen. Was würde man von einem Käufer denken, der einen von ihm geforderten Preis nicht zahlen will, aber sobald der Verkäufer den Preis verdoppelt, sich nun sofort zum Zahlen bereit erklärt, wenn nur auf die Verdoppelung des Preises verzichtet wird.

Eine Politik dieser Art ist so verkehrt, dass sie schließlich alles gewähren muss, weil sie nicht den Mut hat, alles zu verweigern. Es mag vorläufig dahingestellt bleiben, ob die Regierung das Septennat nur als Vorschlagspreis meint oder ob sie es wirklich haben will: In jenem Falle würde sich ja der Reichstag, wenn er die Forderungen der Regierung für dieses Jahr bewilligt hätte, in dem Scheine sonnen dürfen, als könne er sie im nächsten Jahre verweigern; in diesem Falle würde er aber auch auf den Schein verzichten müssen, wenn er einmal das Wesen geopfert hätte. Es sei nur an die Faschingswahlen von 1887 erinnert, wo die Freisinnige Partei mit ihrer Parole „Jeden Mann und jeden Groschen!" die furchtbarsten Prügel bekam, während die Sozialdemokratische Partei mit ihrer Parole „Keinen Mann und keinen Groschen!" vortrefflich abschnitt. Das ist auch sehr leicht erklärlich. Die sozialdemokratische Parole wahrte mit den Interessen des Volkes zugleich die konstitutionellen Rechte der Volksvertretung, während die freisinnige Parole die Interessen des Volkes preisgab, um die konstitutionellen Rechte des Reichstags für die Zukunft zu sichern. Es war wirklich zu viel verlangt von den Wählern, dass sie sich in der Gegenwart abschlachten lassen sollten, auf die erfreuliche Aussicht hin, in Zukunft, wenn sonst nichts dazwischenkam, einmal nicht abgeschlachtet zu werden.

Vielleicht hat sich Herr Tirpitz der Faschingswahlen erinnert, als er die Marineforderungen mit dem Septennat bepackte. Möglich, dass er mit diesem Specke die Mäuse der bürgerlichen Opposition fängt. Aber den Profit davon hätten weder die Mäuse noch der Mäusefänger, sondern ganz andere Leute, die nicht erst seit heute oder gestern wissen, dass der Tanz mit Moloch ernsthaft getanzt werden muss oder sonst lieber gar nicht.

1 Septennat - Bewilligung der Kosten für die Friedensstärke des deutschen Heeres auf je 7 Jahre durch den Reichstag.

Der im November 1897 veröffentlichte Tirpitzsche Gesetzentwurf über die Vergrößerung der deutschen Flotte sah deren Verstärkung auf 17 Linienschiffe, 8 Panzerkreuzer, 9 große und 26 kleine Kreuzer vor. Diese Schiffe sollten bis Ende 1904 gebaut werden.

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