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Franz Mehring 18971215 Der Umfall des Zentrums

Franz Mehring: Der Umfall des Zentrums

15. Dezember 1897

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 193-199]

In den vierzehn Tagen, seitdem der Reichstag wieder seine Arbeit aufgenommen hat, ist manche gute und manche schlechte Rede gehalten worden, aber keine von ihnen hat das öffentliche Interesse in dem Masse zu gewinnen vermocht wie die Tatsache, dass die Zentrumspartei in der Flottenfrage umzufallen gedenkt. Umzufallen gedenkt oder richtiger schon umgefallen ist. Denn das Gerede und Getue der Zentrumsblätter, als ob die Sache auch noch anders kommen könne, ist bloß ein Gerede und Getue. Herr Lieber, der parlamentarische Wortführer des Zentrums, hat die Karten allzu früh und allzu ungeschickt aufgedeckt. Aus dem Bemühen, diesen groben Schnitzer wieder gutzumachen, erklärt sich das Gebaren der Zentrumspresse, womit durchaus nicht bestritten sein soll, dass manchem ultramontanen Blatte bei der Politik seiner parlamentarischen Fraktion angst und bange werden mag.

Eine Möglichkeit gäbe es noch, das Zentrum festzumachen, und diese Möglichkeit haben seine Wähler in der Hand. Legen sie einmütig und entschlossen ihr Veto ein, so würden die Lieber und Genossen schwerlich wagen, den beabsichtigten Sprung über den Stock auszuführen. Ob sich eine Protestbewegung unter den ultramontanen Wählern entwickeln und ob sie stark genug sein wird, um die ultramontane Fraktion zu Paaren zu treiben, das wird sich ja in den nächsten Wochen zeigen. Wäre es der Zentrumspresse Ernst mit ihrem Widerstand gegen die Flottenpläne, so würde sie eine solche Protestbewegung anzuregen suchen, statt dass sie mit ihrer Fiktion, als habe Herr Lieber nicht bereits die Opposition in die Tasche gesteckt, abwiegelnd wirkt. Irgendeine nennenswerte Hoffnung auf eine neue Wendung der Dinge kann allerdings nicht mehr gehegt werden. Das Zentrum wird seine Karten etwas vorsichtiger ausspielen, etwas mehr Redensarten und Weitläufigkeiten machen und im allergünstigsten Falle das Septennat abhandeln, aber seine Schiffe hat Herr Tirpitz so gut wie sicher im parlamentarischen Hafen.

Man braucht die „Staatsmänner" des Zentrums nicht zu überschätzen und wird doch anerkennen müssen, dass ihr Umfall ein wohlerwogener Entschluss ist. Die Sache kam bei Lieber sehr tapsig heraus, aber das war nur ein formelles Ungeschick dieses unerfreulichen Breit- und Schönredners. Das Zentrum oder doch seine leitenden Köpfe wissen ganz genau, was sie wollen. Die Parteiverhältnisse im Reichstag machen die ultramontane Fraktion zum ausschlaggebenden Faktor, und mit den Panzerschiffen erkauft sie sich einen Anteil an der Regierung, an den Früchten der Macht, nach denen ihr seit lange gelüstet. Es handelt sich nicht oder nicht bloß um die Rückberufung der Jesuiten und dergleichen kleine Geschenke; dies Spiel würde die Kerze nicht lohnen. Vielmehr haben die Junker und Pfaffen und Bourgeois des Zentrums es satt, im Schatten der Opposition zu sitzen, es hungert sie nach den Fleischtöpfen Ägyptens. In gewissen Kreisen geht nicht erst seit heute oder gestern die Rede, im Reiche müsse mit dem Zentrum regiert werden; es scheint, dass dies Anklopfen jetzt beim Zentrum erhört worden ist und dass die deutsche Nation in den Jahrbüchern ihres neuen Reiches noch die ägyptische Plage einer ultramontanen Episode zu verzeichnen haben wird.

Einer ultramontanen Episode, ganz im Stile der nationalliberalen Episode, die bekanntlich auch damit anfing, dass die Fleischtöpfe Ägyptens mit dem Umfall in der Militärvorlage erkauft wurden. Die Rede des Herrn Lieber war weiter nichts als ein plumper Abklatsch der Reden, mit denen die Bennigsen und Lasker und Forckenbeck im Jahre 1867 das dreijährige Pauschquantum, im Jahre 1871 abermals das dreimalige Pauschquantum und im Jahre 1874 das Septennat bewilligten. Bloß dass sie zu Lande manövrierten, während Herr Lieber zu Wasser manövriert, was am Wesen der Sache nichts ändert. Eher könnte man sich wundern, dass die ultramontane Fraktion so unverdrossen auf den nationalliberalen Fußstapfen in die Höhle des Löwen marschiert, während sie doch vergebens nach den Fußstapfen suchen wird, in denen die nationalliberale Fraktion aus dieser Höhle zurückgekehrt ist. Aber der Turm des Zentrums wankt längst in seinen Grundfesten, die soziale Zersetzung steckt dem Zentrum seit Jahren im Leibe, der Abfall seiner kleinbäuerlichen, kleinbürgerlichen und proletarischen Elemente ist nur eine Frage der Zeit, und die Ausbeutersippe, die auch in dieser Partei das große Wort führt, will wenigstens die Neige des Bechers leeren, ehe er ganz verschäumt.

Es ist eine Politik der Verzweiflung, mit wie ruhmredigen Redensarten sie verbrämt werden mag. Das Zentrum ist dadurch zu einer Macht geworden, dass es die einzige bürgerliche Partei war, die der Regierung eine ernsthafte Opposition zu machen und ihre Schanzen mit ihren Toten zu bedecken wusste. Das war in den jungen Tagen des Deutschen Reiches, als Bismarck seine Gendarmenpolitik gegen die katholische Kirche trieb, unter dem jauchzenden Beifall des Liberalismus aller Schattierungen, der den traurigen Spektakel durch den Mund des Herrn Virchow mit dem ehrwürdigen Namen eines Kulturkampfs taufte. Durch den tapferen und rücksichtslosen Widerstand, den das Zentrum damals zu leisten wusste, hat es sich ein politisches Kapital erworben, von dessen Zinsen es lange leben konnte. Aber seit manchem Jahre hat es schon das Kapital angreifen müssen, und mit seinem Umfall in der Flottenfrage setzt es den letzten Rest dieses Kapitals aufs Spiel. Das Zentrum glaubt die Regierung zu haben, während umgekehrt die Regierung das Zentrum hat.

Die Kraft des bürgerlichen Parlamentarismus schwindet in dem Maße zusammen, in dem er vor Militärfragen kapituliert. Alle konstitutionelle Theorie läuft auf die praktische Frage hinaus, wer die Hand auf den organisierten Machtmitteln des Landes hat: die Regierung oder das Parlament. Und zu neun Zehnteln sind die organisierten Machtmittel des Landes Heer und Flotte. Gibt der bürgerliche Parlamentarismus hierin nach, so hat er mit dem Nachgeben auch das Nachsehen. Er spielt dann höchstens noch den Schakal, der die Nachlese hält auf dem Pfade, worauf der Löwe seine Beute gejagt hat. Die Ultramontane Partei wird darin noch traurigere Erfahrungen machen als ihrer Zeit die Nationalliberale Partei. Denn wie man immer darüber denken mag, dass die liberale Bourgeoisie ihre politischen Ideale an die Befriedigung ihrer materiellen Interessen verkaufte, so lag die Befriedigung dieser materiellen Interessen doch im Zuge der historischen Entwicklung, und die wirtschaftliche Gesetzgebung am Ende der sechziger und im Anfang der siebziger Jahre war schließlich ein Preis, um den es sich für einen ehrlichen Bürgersmann, der sich redlich nähren wollte, schon lohnen mochte, seine Seele zu verschachern. Um welchen Sündensold aber gibt sich das Zentrum politisch preis? An der wirtschaftlich reaktionären Gesetzgebung hat es schon jetzt seinen reichlichen Anteil gehabt, und was es sonst auf seinem schwarzen Herzen trägt, kann ihm am Ende des neunzehnten Jahrhunderts keine Regierung gewähren, selbst wenn sie wollte. Soviel sollte das Zentrum doch noch aus den Tagen der Umsturzvorlage wissen. Es wird sich mit Trinkgeldern begnügen müssen, mit Trinkgeldern im schäbigsten Sinne des Wortes, während die Nationalliberale Partei für ihre Überläuferei sozusagen auf historisch anständigem Zahlbrett abgelohnt wurde.

Doch damit mögen sich die Lieber und Genossen abfinden, wie sie können und mögen. Uns interessiert in erster Reihe der Umschlag in der ganzen politischen Situation, der durch den Umfall des Zentrums hervorgerufen wird. Zunächst muss sich zeigen, ob die ultramontanen Wähler die Kraft und den Willen haben, ihr Veto gegen die „staatsmännischen" Absichten ihrer parlamentarischen Führer einzulegen, ob sich wenigstens bei dieser bürgerlichen Opposition der „Zug nach links" bewährt, der sich bei der freisinnigen Opposition nach allen praktischen Erfahrungen der letzten Monate gänzlich verkrümelt hat. So gering die Aussicht ist, so ist sie doch eine Aussicht, die abgewartet werden muss. Gelingt aber dem parlamentarischen Zentrum der Umfall, so darf man sich über die Konsequenzen nicht täuschen. Die ultramontane Episode wird eine Periode der Reaktion werden, gegen welche die nationalliberale Episode sich verkriechen kann. Und die arbeitende Klasse wird in erster Reihe die Kosten dieser Reaktion zu zahlen haben, sowohl was die Ausbeutung als auch was die Unterdrückung anbetrifft. Die Jahre verhältnismäßiger Windstille sind dann für sie vorbei.

Ausnahmegesetze gegen die arbeitenden Klassen sind für den Ultramontanismus niemals eine Frage des Prinzips, sondern stets eine Frage der Zweckmäßigkeit. Das Zentrum hat seinerzeit gegen das Sozialistengesetz gestimmt, weil es selbst unter Ausnahmegesetzen stand, die es nicht durch seine Abstimmung für das Sozialistengesetz sanktionieren durfte. Zudem war die Annahme des Sozialistengesetzes auch ohne die ultramontanen Stimmen gesichert, sonst wäre, wie es später bei jeder Verlängerung des Sozialistengesetzes geschah, schon bei seiner erstmaligen Beratung so viel Mannschaft von der schwarzen Brigade abkommandiert worden, um seine Annahme durchzusetzen. Die eifrige Mitarbeit des Zentrums an der Umsturzvorlage ist noch in allgemeiner Erinnerung; es stellte damals so ausschweifend reaktionäre Forderungen, dass selbst der Zickzackkurs sie nicht zu bewilligen vermochte; es wollte nicht nur dem klassenbewussten Proletariat, sondern allem, was sich noch mit Recht bürgerliche Kultur nennen mag, den Hals umdrehen. Jedoch wenn es so weit kommt, dass mit dem Zentrum im Deutschen Reiche regiert wird, so werden sich „Staatsmänner" vom Schlage des Herrn Lieber gern mit den Abschlagszahlungen begnügen, die ihnen die weltliche Reaktion leisten kann; die erste Vorbedingung, ultramontane Herrschaftspläne zu verwirklichen, besteht unter allen Umständen darin, das klassenbewusste Proletariat zu knebeln.

Die Sozialdemokratie ist in der glücklichen Lage, gegenüber jeder Veränderung der politischen Lage sagen zu können: Es geht auch so. Sie ist unbesiegbar und kann sich deshalb mit allem abfinden, was ihr drohen mag. Kommt sie auf diesem Wege nicht vorwärts, so doch auf einem anderen Wege, und der schwierigere Weg ist oft der kürzere Weg. Sie braucht deshalb vor dem Umfall des Zentrums und seinen Folgen nicht zu erschrecken. Aber ebendeshalb kann sie ihn mit aller Ruhe rechtzeitig ins Auge fassen. Sie war bereit, Schulter an Schulter mit der bürgerlichen Opposition zu kämpfen, wenn diese Opposition kampffähig und kampfwillig gegenüber dem Absolutismus und Feudalismus war; ist sie weder das eine noch das andere, so geht die Sozialdemokratische Partei ihren eigenen Weg, auf dem sie bisher auch noch immer am schnellsten vorwärts gekommen ist. Vor einer allzu gemütlichen Auffassung des Klassenkampfs hat der Zickzackkurs sie ohnehin zu bewahren gewusst; wollen die bürgerlichen Oppositionsparteien in dieser Beziehung auch noch das Ihre tun, um so besser!

Reif sein ist alles, sagt das Dichterwort. Und die deutsche Arbeiterklasse wird das neue Jahr nicht als ein Unglücksjahr begrüßen, weil es unter den drohenden Anzeichen des Sturmes heraufzieht.

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