Franz Mehring‎ > ‎1897‎ > ‎

Franz Mehring 18970512 Die Hetze gegen den Kathedersozialismus

Franz Mehring: Die Hetze gegen den Kathedersozialismus

12. Mai 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S. 225-228. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 176-180]

In dem preußischen Abgeordnetenhause ist bei Beratung des Unterrichtsetats auch über den Kathedersozialismus debattiert worden, gegen den König Stumm schon lange seine Myrmidonen hetzt. Das geistige Niveau dieser Debatte war so niedrig, wie man es von einer Geldsacksvertretung erwarten konnte und musste. Der Kathedersozialismus ist keine überragende Geisteserscheinung, aber den Erwählten des Dreiklassensystems fehlte doch das Zeug, ihn richtig zu würdigen; nationalliberale Redner, die geborenen Vertreter von „Besitz und Bildung", wussten ihn nur zu schmähen, und es kennzeichnete dies angenehme Parlament, dass Herr Stoecker noch das verhältnismäßig vernünftigste Sprüchlein herzusagen wusste. Auch der Kultusminister machte ihm diesen frugalen Ruhm nicht streitig; er suchte die Kathedersozialisten als Kathedernichtsozialisten zu entschuldigen, erklärte übrigens aber, der Standpunkt der Unternehmer müsse an den Universitäten stärker vertreten werden, was die königlich preußische Auffassung von Höhe und Würde der Wissenschaft vortrefflich kennzeichnet.

Verhehlen darf man dabei nicht, dass der Standpunkt der Bosse und Stumm einen beträchtlichen Vorzug besitzt vor dem Standpunkt ihrer bürgerlichen Gegner, wie er namentlich in der freisinnigen Presse vertreten wird, nämlich den Vorzug der Ehrlichkeit. Das Gesalbader von der „Freiheit der Wissenschaft", womit König Stumm und seine Helfershelfer bekämpft werden, kann einem übel machen. Alle bürgerlichen Gevattern, mögen sie rechts oder links oder in der Mitte sitzen, sind darüber einig, dass jeder Vertreter des wissenschaftlichen Kommunismus, mag er sonst der ruhigste und sachlichste Forscher sein, um seiner wissenschaftlichen Überzeugung willen von den Lehrstätten der deutschen Hochschulen ferngehalten werden muss. Dass der moderne Kommunismus, wie ihn in erster Reihe Marx in seinem großen Werke über das Kapital begründet hat, eine streng wissenschaftliche Richtung ist, kann nicht bestritten werden und wird tatsächlich auch von keinem zurechnungsfähigen Menschen, sondern höchstens von Pindters sei. Nachfolgern bestritten. Ihn dennoch von den deutschen Hochschulen ausschließen, heißt die „Freiheit der Wissenschaft" an deutschen Hochschulen vernichten. Hier gilt es einfach, der Wahrheit die Ehre zu geben, und der Kultusminister Bosse hat vor seinen bürgerlichen Gegnern entschieden die Tugend der Ehrlichkeit voraus, wenn er sich mit dem verlogenen Gerede von der „Freiheit der Wissenschaft" nicht lange aufhält und kurzweg erklärt, den jungen Leuten, die sich an den Brüsten der königlich preußischen Wissenschaft nähren wollen, müsse die Heiligkeit der Profitinteressen besser eingepaukt werden, als es gegenwärtig geschehe.

Die freisinnigen und sonstigen Heuchler, die von „Freiheit der Wissenschaft" schwatzen, wenden freilich ein, an den Lehranstalten des Staates brauche keine Richtung geduldet zu werden, möge sie nun wissenschaftlich sein oder nicht, welche die Grundlagen dieses Staates umzustürzen oder zu untergraben beabsichtige. Indessen liegt die Lächerlichkeit dieser Finte auf der Hand. Mit demselben Rechte konnte seinerzeit der christlich-feudale Staat die Vorkämpfer des bürgerlich-liberalen Staates von der Hochschule fernhalten. Hätte jene Finte auch nur eine Spur von Vernunft hinter sich, so hatte der Kultusminister Eichhorn in den vierziger Jahren das unanfechtbare Recht, die preußischen Hochschulen mit dem Polizeiknüppel von allen Vertretern der bürgerlich-liberalen Weltanschauung zu reinigen. Wenn trotzdem die damaligen Liberalen gegen Eichhorn mit der „Freiheit der Wissenschaft" zu Felde zogen und die liberalen Historiker noch heute denselben Eichhorn schwarz in schwarz malen, weil er die „Freiheit der Wissenschaft" vernichtet habe, so verstehen sie diese Forderung in dem einzig möglichen und einzig richtigen Sinne, dass nämlich die Wissenschaft und ihre Lehre frei sein soll, gleichviel ob ihre Ergebnisse den augenblicklich herrschenden Gesellschafts- und Staatsinteressen widersprechen oder nicht. Es ist das plumpste Quidproquo, wenn der heutige Freisinn seinen schmählichen Verrat an der „Freiheit der Wissenschaft" dadurch zu decken versucht, dass er mit Redensarten um sich wirft, welche sich die christlich-feudalen Ketzerrichter schon vor Jahrhunderten an den Schuhen abgelaufen hatten.

Mit dieser Klarstellung soll natürlich nicht gesagt sein, dass die Zulassung von Vertretern des wissenschaftlichen Kommunismus an deutschen Hochschulen ein erstrebenswerter Zustand sei. Davon ist gar keine Rede. Die deutschen Hochschulen brauchen höchstens den wissenschaftlichen Kommunismus, um nicht gänzlich zu versauern, aber er braucht sie nicht, um frisch und lebenskräftig zu bleiben. Wenn wir hier den mit der „Freiheit der Wissenschaft" getriebenen Unfug gekennzeichnet haben, so geschah es neben dem allgemeinen Wunsche, der Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen, nur zu dem besonderen Zwecke, die Hetze gegen den Kathedersozialismus ins richtige Licht zu stellen.

Dieser Krieg ist nämlich das verächtlichste Armutszeugnis, das sich die herrschenden Klassen in Deutschland ausstellen können. Schon die einfache Tatsache, dass die Kathedersozialisten an deutschen Hochschulen lehren, beweist zur Genüge, dass sie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen, dass sie die Grundlagen dieser Gesellschaft rechtfertigen und verteidigen. Und diese Tatsache wird durch jedes Wort und jede Zeile in der kathedersozialistischen Literatur bestätigt. Mit welchem Grade von aufrichtiger Begeisterung oder kritischem Zweifel, das ist bei den einzelnen gewiss sehr verschieden, aber keiner von ihnen will das Verhältnis von Kapital und Arbeit an der Wurzel aufheben, keiner will die kapitalistische in die kommunistische Produktionsweise umwälzen, und insofern hatte Herr Bosse ganz recht, wenn er sagte, sie seien nicht sowohl Kathedersozialisten, als Kathedernichtsozialisten. Wenn der wissenschaftliche Kommunismus das Verhältnis von Kapital und Arbeit als ein historisch überlebtes Verhältnis nachweist, so will der Kathedersozialismus dies Verhältnis nur von seinen Auswüchsen befreien und es gerade dadurch verewigen.

Der Name Kathedersozialismus war ursprünglich auch nicht in ernsthaftem Sinne gemeint. Es war ein Übername, den ein Feuilletonist der „National-Zeitung" einigen Professoren anhing, die sich im Anfang der siebziger Jahre von der deutschen Manchesterei lossagten. Nicht in irgendeiner revolutionären Absicht, sondern etwa im Sinne des Goetheschen Wortes:

Wahrlich, sie treiben's toll,

Ich fürcht', es breche;

Nicht jeden Wochenschluss

Macht Gott die Zeche.

Liest man heute die damalige freihändlerische Literatur, so erkennt man auf den ersten Blick, dass die „Glückspilze des neuen Deutschen Reichs", wie Marx sie nannte, wirklich am Überschnappen waren. Die schmutzigsten Profitinteressen des Kapitals wurden als die heiligsten Errungenschaften der Menschheit ausposaunt, und das gemeinste Sykophantengewäsch, das in der ökonomischen Literatur Englands und Frankreichs kaum noch mit einem verächtlichen Achselzucken beehrt wurde, spreizte sich als „die nationalökonomische Wissenschaft" auf Markt und Gassen. Hiergegen erhoben sich einige Professoren, die sich in der ausländischen Literatur umgesehen hatten, und sagten der deutschen Bourgeoisie: Eure Soldschreiber narren euch; ihr geratet auf eine abschüssige Bahn, wenn ihr der wilden Ausbeutungssucht nachgebt, welche sie euch anraten; wollt ihr die trauten Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit aufrechterhalten, so müsst ihr eurer Herrschaft über das Proletariat gewisse Schranken auferlegen, die übrigens schließlich auch zur Steigerung eurer Profite ausschlagen werden. So oder so ähnlich sprachen jene Professoren, die dann von der braven, im tiefsten Sumpfe der kapitalistischen Korruption watenden „National-Zeitung" als Kathedersozialisten halb beschimpft und halb denunziert wurden.

Sie waren aber in der Tat Gegner des Sozialismus, der die Arbeiterklasse von der Herrschaft des Kapitals befreien will. Ihre Absicht ging umgekehrt dahin, die Herrschaft des Kapitals auf halbwegs vernünftigen Bedingungen zu etablieren und ihr dadurch eine größere Sicherheit zu geben. Die Kathedersozialisten waren so wenig Freunde des Sozialismus, dass sie vielmehr ungleich gefährlichere Gegner des Sozialismus waren als die ganze Manchesterei. Ungleich gefährlichere Gegner wenigstens ihrem Prinzip nach. Wären die Ratschläge befolgt worden, welche die Kathedersozialisten im Anfang der siebziger Jahre der Staatsgewalt und der Bourgeoisie erteilten, dann hätte die Entwicklung des klassenbewussten Proletariats ungleich schwierigere Hindernisse zu überwinden gehabt, als sämtliche seit einem Vierteljahrhundert gedruckten Manchestertraktätchen und sämtliche seit einem Vierteljahrhundert geschwungenen Polizeiknüppel ihr zu schaffen vermocht haben. Die Ratschläge des Kathedersozialismus, die teilweise auf großer Sachkenntnis fußten, liefen eben darauf hinaus, die Lohnsklaverei durch gewisse Reformen so zu erleichtern, dass für eine Aristokratie der Arbeiterklasse ein erträglicher Zustand geschaffen wurde. Gewiss wäre durch diese Palliativmittel die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht auf die Dauer gehemmt, aber doch auf Jahre und vielleicht Jahrzehnte verzögert worden, und mehr kann ein Helfer und Heiland der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nicht leisten.

Glücklicherweise fanden die Kathedersozialisten taube Ohren, ob sie nun bei der Bourgeoisie oder bei der Staatsgewalt anklopften. Der „Heros des Jahrhunderts" und das „Volk der Dichter und Denker" waren der Ansicht, dass die Geschicke sich möglichst schnell vollenden müssten, und die Arbeiterklasse konnte sich diese Sorte „Genialität" gut und gern gefallen lassen. Die praktische Wirksamkeit des Kathedersozialismus ist gleich Null gewesen. Aber seine einzelnen Vertreter wurden nicht für ihre gute Absicht gestraft, der bürgerlichen Gesellschaft noch einmal auf die Beine helfen zu wollen; die herrschenden Klassen ließen sie ihren, wie Rodbertus zu sagen pflegte, Kamillentee ruhig weiter kochen; als Fachgelehrte arbeiteten die Kathedersozialisten ungestört in ihrem Fache und leisteten Besseres oder Schlechteres, je nachdem dem einzelnen beschieden war.

So ist die Hetze, die sich seit Jahr und Tag gegen den Kathedersozialismus erhoben hat, ein auffallender Beweis dafür, wie tief der Kapitalismus schon in den Delirien seines Todeskampfes steckt. Er schlägt wie ein Rasender auf die vernünftigsten Freunde ein, die er je gehabt hat, auf die nicht ungeschickten Ärzte, die ihm vor zwanzig Jahren seinen lebensgefährlichen Kropf amputieren und ihm dadurch eine zeitweise Erleichterung verschaffen wollten. Vielleicht ist er wütend, dass es damit nun auch schon zu spät ist, oder vielleicht will er zeigen, dass im neuen Deutschen Reiche das rücksichtsloseste Weißbluten des Proletariats durch das Kapital Trumpf ist. In jedem Fall ist die Hetze gegen den Kathedersozialismus ein merkwürdiges Zeichen der kapitalistischen Agonie.

Kommentare