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Franz Mehring 18971221 Die Kieler Reden

Franz Mehring: Die Kieler Reden1

21. Dezember 1897

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 200-204]

Es hat einen logischen Zusammenhang, dass ungefähr zur selben Zeit, wo der neue Reichssprechminister, Graf Posadowsky, im Reichstag das Koalitionsrecht als überflüssig für die Arbeiterklasse erklärte, der Kaiser und sein Bruder, der Prinz Heinrich, in Kiel die überseeische Politik in großem Stile als neuestes Reichsprogramm verkündeten. Der Versuch, innere Schwierigkeiten dadurch zu überwinden, dass äußere Erfolge erzielt werden, ist nicht neu; er ist sogar schon oft dagewesen, seitdem die moderne Arbeiterbewegung große Dimensionen angenommen hat. Aber glücklich geendet hat er noch niemals, selbst dann nicht, wenn er verheißungsvoller begann als neulich in Kiel.

In der Kritik dieser Reden ist uns die Tagespresse längst zuvorgekommen; wer überhaupt fähig ist, sich ein Urteil zu bilden, hat es sich auch schon gebildet. Mit seinem Großoheim, dem vierten Friedrich Wilhelm, teilt der gegenwärtige Kaiser die Freude am Sprechen, aber er besitzt doch wohl nicht die geniale Gabe der Rede wie jener König, der so glänzend begann und so unglücklich endete. Der vierte Friedrich Wilhelm riss auch den widerstrebenden Hörer mit sich fort, während der gegenwärtige Kaiser selbst in dem willigsten Hörer die Lust zur Kritik zu wecken pflegt. Das mag mehr gegen den Hörer als gegen den Redner sprechen; über diese Seite der Sache brauchen wir uns nicht auszulassen und könnten es auch gar nicht einmal, da wir den Kaiser nie haben sprechen hören. Aber die Tatsache selbst, dass seine Reden bei allem Feuer und Schwung oft mehr erkälten als erwärmen, ist hinlänglich bekannt und hat sich ganz besonders auch an seiner neuesten Rede bewährt. Das ist aber ein übles Vorzeichen für das hochgemute Programm: Reichsgewalt bedeutet Seegewalt.

Ein ganz besonderes Kennzeichen der kaiserlichen Reden sind die historischen Irrtümer, die in ihnen häufig unterlaufen.

Ein Kaiser kann unmöglich ein großer Historiker sein, sondern muss sich auf das verlassen, was ihm seine Lehrer über Historie vorgetragen haben, und der Unterschied zwischen dem gegenwärtigen Kaiser und seinem Großoheim erklärt sich leicht genug daraus, dass der vierte Friedrich Wilhelm Leute wie Niebuhr und Wilhelm Humboldt zu Geschichtslehrern hatte, der gegenwärtige Kaiser aber die sehr viel kleineren Lichter Treitschke oder Sybel oder Delbrück. So ist der Kaiser ganz ohne Schuld an den historischen Irrtümern, die in seinen Reden auffallen, aber solange bei der Krone eine so große Macht steht wie im preußisch-deutschen Reiche, ist es freilich ein rechtes Kreuz, dass politische Entschlüsse, von denen Wohl und Wehe der Nation immer noch in hohem Maße abhängen; so stark von historischen Erinnerungen beeinflusst werden, die eben nicht mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung übereinstimmen. Alles, was der Kaiser in Kiel über die Hansa gesprochen hat, schwebt historisch vollständig in der Luft, wie in der Tagespresse, und nicht bloß in der sozialistischen, schon reichlich dargelegt worden ist, und wenn darauf die neue überseeische Politik in großem Stile gegründet werden soll, so wird sogar mancher loyale Patriot seine loyalen Gedanken haben, wenn auch vermutlich nicht äußern.

Eine Erklärung, zwar nicht für historische Ereignisse der Vergangenheit, aber für manche eigentümliche Erscheinungen der Zeitgeschichte, bietet dagegen die Rede, die der Prinz Heinrich in Kiel gehalten hat. Wir haben sie mit vielem Interesse gelesen, obgleich wir nicht sagen können, dass wir mit irgendeinem ihrer Sätze übereinstimmen. Wenn der Prinz Heinrich von der Kaiserkrone mit Dornen spricht, so müssen wir bekennen, dass es uns schwer sein würde, in der Geschichte eine Krone aufzufinden, die so frei von Dornen ist wie die Krone, die der gegenwärtige Kaiser trägt. Die ersten neun Jahre seiner Regierung sind eine ununterbrochene Kette von nationalen Festen gewesen, bei denen dem Kaiser die reichsten Huldigungen von patriotischen Männern und Frauen gespendet worden sind, gewiss aus ehrlichem Herzen und ohne dass sich in der Fülle dieser Rosen je Dornen verborgen hätten. Auch verstehen wir so wenig wie sonst jemand, was der Prinz Heinrich mit der Versicherung meinte, ihn locke nicht Ruhm, ihn locke nicht Lorbeer, ihn ziehe nur eins, das Evangelium Seiner Majestät geheiligter Person dem Auslande zu verkünden und zu predigen jedem, der es hören wolle, und auch denen, die es nicht hören wollten. So viel ist freilich klar, dass Prinz Heinrich damit auf den christlichen Kultus anspielte, und insofern erklärt es sich, dass orthodox-protestantische und römisch-katholische Blätter über seinen Vergleich verdrossen sind. Aber selbst wenn man den Zimmermannssohn von Nazareth als rein weltliche Persönlichkeit auffasst – vorausgesetzt, dass er überhaupt gelebt hat, was auch noch zu beweisen wäre – und wenn man annimmt, dass er so gewesen ist, wie ihn die Evangelien rein menschlich schildern, so ist immer noch nicht abzusehen, wo die Ähnlichkeit zwischen diesem armen Wanderprediger und dem mächtigen Kaiser stecken soll. Ist dies aber der Ton, in welchem die Umgebung des Kaisers zu ihm spricht, so begreift sich vieles, was sonst nicht zu begreifen ist.

Es gehört keine besonders üppige Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie die ausländische Presse, die durch keine Rücksichten gebunden ist, über die Kieler Reden urteilt. Wir wollen gar nicht einmal von den bösen Franzosen sprechen, diesem leichtfertigen Volke, dem die Tiefe germanischen Gemütes für immer verschlossen sein soll, aber es scheint, dass auch unsere germanischen Vettern jenseits des Kanals den Gedankenaustausch zwischen dem Kaiser und dem Prinzen Heinrich nicht so beurteilen, wie es unseren monarchischen Patrioten genehm sein würde. Wenigstens möchten wir darauf schließen aus dem sehr zornigen Tone, in welchem die „National-Zeitung" die Engländer auffordert, doch vor ihrer eigenen Tür zu kehren, und in welchem sie ihnen allerlei Verstöße gegen den modernen Geschmack vorhält. Vor der Königin von England soll der Kniefall geboten sein, der Sprecher des Unterhauses soll bei offiziellen Gelegenheiten in einem Aufzuge erscheinen, in dem sich bei uns höchstens Zirkusclowns zeigen und so weiter. Was alles die „National-Zeitung" darüber vorbringt, mag noch so richtig und von noch so anfechtbarem Geschmacke sein, aber das nationalliberale Blatt trifft sehr daneben, wenn es sich mit diesem Spott revanchieren zu können glaubt für die ihm unliebsame Kritik, welche die englische Presse an den Kieler Reden geübt hat.

Die „National-Zeitung" verwechselt zwei Dinge, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben: Politik und Hofzeremoniell. Wären die Kieler Reden am Hofe und innerhalb der höfischen Schranken ausgetauscht worden, so würde sich gewiss kein Mensch darüber den Kopf zerbrechen, er sei denn selbst Höfling oder wolle Höfling werden. Und auf der anderen Seite – wollte die Königin von England etwa mit dem Prinzen Wales eine Wechselrede führen, wie sie in Kiel geführt worden ist, selbst nur mit der Absicht, geschweige denn mit der Wirkung, der englischen Politik eine entscheidende Wendung zu geben, ohne Vorwissen und Billigung des englischen Parlaments, so könnte sie dabei auf alles altfränkische Zeremoniell verzichten und würde doch Erfahrungen machen, die ihr nicht angenehm sein würden. Es will uns scheinen, als ob die „National-Zeitung" den springenden Punkt in der Kritik der ausländischen Presse gar nicht erkennt. Wäre der Präsident des deutschen Reichstags dasselbe wie der Sprecher des englischen Unterhauses, so möchte er bei offiziellen Gelegenheiten in der Tracht eines Zirkusclowns erscheinen, und so möchten sich der Kaiser und sein Bruder unterhalten, in welchem Stile immer: Wer würde sich darüber graue Haare wachsen lassen. Aber dass eine große Nation aus Reden, wie sie in Kiel gewechselt worden sind, enträtseln soll, ob sie in einen Weltkrieg treibt oder nicht, das scheint uns zu pharisäischer Überhebung gegenüber den Franzosen und Engländern auch nicht den entferntesten Grund zu bieten.

Heute schwankt die öffentliche Meinung in Deutschland hin und her, ob es sich bei der Entsendung des Prinzen Heinrich nach China um eine Sühne für die Ermordung einiger Missionare oder um die Aufteilung Chinas, also um einen nebensächlichen Zwischenfall oder um ein weltgeschichtliches Ereignis handelt. Das eine oder das andere oder auch ein drittes mag der Fall sein: Die deutsche Nation weiß nichts davon und muss sich aus den Äußerungen der ausländischen Presse daraus eine Konjekturalpolitik zurechtmachen, die gestern so aussah, heute so aussieht und morgen vielleicht wieder anders aussehen wird. Einige bürgerliche Blätter gehen in ihrer patriotischen Selbstentsagung so weit, mit großer Genugtuung daran zu erinnern, dass gerade vor hundertundfünfundzwanzig Jahren Preußen, in Gemeinschaft mit Russland, Polen aufzuteilen begann. Die Sache stimmt allerdings auffallend. Preußen musste anfangen und das Odium auf sich nehmen, während Russland die fettesten Bissen für sich nahm, und die damaligen Preußen hatten bei der polnischen Expedition so wenig mitzureden wie die heutigen Deutschen bei der chinesischen Expedition. Die angenehme Wahrnehmung, dass der selbständige Wille der Nation seit hundertundfünfundzwanzig Jahren noch nicht um eine Muskel stärker geworden ist, muss natürlich alle patriotischen Philister mit hoher Begeisterung erfüllen.

In der Arbeiterklasse wird der chauvinistisch-patriotische Taumel, der in der bürgerlichen Presse schon zu grassieren beginnt, keinen Widerhall finden. Über derartige Lockungen ist sie längst hinaus. Sie weiß, dass sie in jedem Falle die Zeche zahlen muss. Geht die Sache gut, so wächst die Macht des Kapitalismus, der sie niederdrückt; geht die Sache schlecht, so muss sie in letzter Reihe mit ihren Knochen für die Folgen einer Politik haften, die über ihrem Kopf weg gemacht worden ist. Ihr können diese Vorgänge nur ein Sporn sein, um so nachdrücklicher ihre Ziele zu verfolgen. Sie will das Evangelium nicht hören, das in Kiel gepredigt worden ist, und es gibt keine „gepanzerte Faust", die es ihr aufzwingen kann. Je kaltblütiger sie sich allen Möglichkeiten widersetzt, durch geräuschvolle Verwicklungen der auswärtigen Politik die erlahmende Kraft der inneren Reaktion zu stärken, um so eher werden solche Möglichkeiten zu Unmöglichkeiten werden.

Mag der deutsche Michel seinen mit dem Reichsadler geschmückten Schild fest auf den Boden stellen: Der deutsche Arbeiter hat mit diesem Michel nichts zu tun. Ihm zeigen die Kieler Reden nur, wie fernab sein großer Befreiungskampf ihn allen Idealen der herrschenden Klassen geführt hat und wie völlig aller romantische Schimmer schon verblichen ist vor dem immer heller strahlenden Ziele seiner weltgeschichtlichen Bahn.

1 Kiel war stark befestigter Reichskriegshafen und Marinestation der Ostsee In Kiel hielt Wilhelm II. anlässlich der alljährlichen Flottenparaden eine Reihe seiner aggressiven innen- und außenpolitischen Reden, die als „Kieler Reden" berüchtigt wurden.

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