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Franz Mehring 18970421 Herr im eigenen Hause

Franz Mehring: Herr im eigenen Hause

1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S. 129-132. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 176-180]

In einer Betrachtung über den Weltfeiertag des Proletariats orakelt das offiziöse Hauptblatt in Berlin: „Was Not tut, ist einzig und allein der feste und einmütig durchgeführte Entschluss des Unternehmerstandes, Herr im eigenen Hause zu bleiben. Das Recht des Arbeitgebers, innerhalb der durch Gesetz und Christentum bestimmten Schranken an allen regelmäßigen Werktagen über die Kraft seiner kontraktlich gebundenen Arbeiter zu verfügen, bildet einen integrierenden Bestandteil des allgemeinen Hausrechts der produktiven Stände. Seine Preisgabe bedeutet nichts Geringeres als eine Lockerung der individualistischen Wirtschaftsordnung überhaupt." So die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", die damit beweist, dass ein blindes Huhn auch wohl einmal ein Korn finden kann.

Unseren Beifall hat diese offiziöse Kundgebung umso mehr, als wir in unserer vorjährigen Begrüßung des Maifestes denselben Gedanken mit etwas anderen Worten ausgedrückt haben. Wir führten damals aus, es sei nicht sowohl die Sorge um den geschmälerten Profit, welche die Besitzer des Kapitals so hartnäckig gegen die Arbeitsruhe am ersten Mai mache, oder sie sei es doch nicht in erster Reihe; könnten sie damit den modernen Proletarier in die hoffnungslose Unterwürfigkeit des antiken Sklaven zurückbannen, so würden sie ihm vielleicht gern drei- oder vier- oder fünftägige Saturnalien gewähren. „Aber die Arbeiterklasse darf und soll nicht entscheiden, wann sie von der Arbeit ruhen will; der freie Arbeitsvertrag, diese Blüte moderner Zivilisation, darf und soll nicht den Charakter eines Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisses verlieren. Darin sind alle Schichten der besitzenden Klassen einig: vom König Stumm bis zum kleinen Meister, der sich redlich vom Schweiße seiner paar Gesellen und Lehrlinge nährt. Sogar die vorgeschrittensten Organe der bürgerlichen Presse, die dem Arbeiter das gleiche Wahlrecht und mancherlei politische Freiheit lassen wollen, sind in diesem Punkte unerbittlich. Und es ist auch nicht zu bestreiten, dass sie damit von ihrem Standpunkt aus streng logisch verfahren. In der kapitalistischen Gesellschaft ist der freie Arbeitsvertrag wirklich ein Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis. Sie darf daran nicht rütteln lassen, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will." Ebendies sagt jetzt das offiziöse Hauptblatt mit ein bisschen anderen Worten, aber dem Sinne nach vollkommen ebenso. Deshalb klagen wir es aber nicht des Plagiats an, sondern sind im Gegenteil froh, so gelehrige Schüler zu finden.

Herr im eigenen Hause – in der Tat! Der antike Sklavenbesitzer wollte Herr im eigenen Hause sein, der mittelalterliche Feudalherr wollte Herr im eigenen Hause sein, der moderne Kapitalist will Herr im eigenen Hause sein. Diese Zurückführung des kapitalistischen Arbeitsverhältnisses auf seine dürrste und nackteste Formel ist die großartigste Bankrotterklärung der „besten aller Welten". Vor zwanzig Jahren schrieben sich die Sophisten der herrschenden Klassen die Finger wund – siehe beispielsweise die Pamphlete Treitschkes gegen den Sozialismus –, um nachzuweisen, dass der moderne Arbeiter durch den „freien Arbeitsvertrag" ein „freier Mann" geworden sei. Heute erklären die offiziösen Soldschreiber der preußischen Regierung: Hat sich was mit dem „freien Manne"! Der Arbeiter hat zu parieren, und wenn er nun an einem Tage des Jahres frei über sich selbst verfügen will, so fliegt er aufs Pflaster, des Hungertodes gewärtig – und zwar von Rechts wegen! Das ist ein Fortschritt, der sich in zwanzig Jahren vollzogen hat, ein Fortschritt der sozialen Revolution. Fühlte die Kapitalistenklasse noch einigermaßen festen Boden unter ihren Füssen, sie würde sich hüten, in die Welt hinauszuposaunen, dass sie Herr im eigenen Hause sein wolle. Sie würde dann, wie vor zwanzig Jahren, munter fabulieren von dem „freien Arbeitsvertrag" und der „wundervollen Harmonie der Interessen von Kapital und Arbeit". Sie sieht ein, dass die schönen Tage für immer vorbei sind, wo sie mit solcher Heuchelei noch auf den Arbeiterfang ausgehen konnte; jetzt pocht sie mit dem Trotze der Verzweiflung darauf, dass sie Herr sein wolle im eigenen Hause. Dieselben Leute, die eben Tausende von Arbeitern gezwungen haben, ein moderiges Fest der herrschenden Klassen hungernd zu feiern, drohen mit der Hungerpeitsche den Arbeitern, die ein leuchtendes Fest der Arbeiterklasse feiern wollen.

Machten sie nicht einen so ausgiebigen Gebrauch von ihrem Privileg, aus der Geschichte nicht zu lernen, so würden sie wissen, dass verzweifelte Mittel allemal auch verlorene Mittel sind. Der Arbeiter, der ungebärdig geworden ist durch den Stachel in seinem Fleische, wird dadurch nicht willfähriger, dass dieser Stachel noch tiefer hineingedrückt wird. Herrschende Klassen, welche die brutale Gewalt proklamieren, sind stets am Ende ihres Lateins. Sie haben den Glauben an ihre Sache verloren, und das ist immer nur erst möglich, wenn sie die Sache selbst schon verloren haben.

Merkwürdigerweise haben sich die Blätter, die am rohesten verkünden, dass die Kapitalisten die Herren im eigenen Hause sein sollen und sein wollen, in den letzten Wochen damit getröstet, dass es einer Minderzahl von Arbeitern in der modernen bürgerlichen Gesellschaft so leidlich gehe, nämlich was der satte Bourgeois so leidlich nennt, wenn es sich nicht um seinen Magen, sondern um den Magen eines anderen handelt. Aber so begreift doch, ihr werten Gewalten, dass ihr in dieser obersten Schicht des Proletariats gerade eure gefährlichsten und unversöhnlichsten Feinde besitzt.1 Aber so begreift doch, wie sehr ihr eure staatsmännische Würde gefährdet durch die komische Einbildung, dass ein Arbeiter, dem gerade nicht jeder Tag der Hunger an die Tür klopft, deshalb schon eine Stütze eurer faulen Gesellschaftsordnung sein soll. Jene Minderzahl der Arbeiterklasse, die in etwas besseren Verhältnissen lebt, verdankt diese Verhältnisse dem proletarischen Klassenkampfe in der einen oder der anderen Form; was sie erreicht hat, das schuldet sie nicht der kapitalistischen Gesellschaft, sondern dem Widerstande gegen diese Gesellschaft, und es ist ein Beweis mehr für die geistige Versimpelung der Kapitalistenklasse, dass sie in den entschlossensten und klarsten Vorkämpfern des Proletariats eine freundliche Bundestruppe begrüßen zu können hofft. Es ist so, als redete sie einem Gegner, der in Jahrzehnten voll heißer Kämpfe sich eine leidliche Position geschaffen hat, gemütlich zu, er möge doch die Waffen ablegen und sich wieder waffenlos vom Kapitalismus ins tiefste Elend herabdrücken lassen.

Solche Zumutung richtet sich selbst. Gerade jene Minderheit der Arbeiterklasse, auf welche der Kapitalismus spekuliert, kennt am genauesten das Terrain, auf dem sie kämpft, und weiß am besten, dass ihr Heil nur im fortschreitenden Siege liegt, dass eine dauernde Rettung des Proletariats nur möglich ist durch die gänzliche Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise. Und sie empfindet deshalb auch am schärfsten den infamen Hohn, der darin enthalten ist, dass der Kapitalismus Herr im eigenen Hause bleiben, dass er das moderne Arbeitsverhältnis in alle Ewigkeit aufrechterhalten will als ein Verhältnis zwischen Herren und Sklaven. Es ist ein sehr unvorsichtiges Wort, dies geflügelte Wort von dem Herrn im eigenen Hause. In seinem protzenhaften Übermute wirft es die Frage auf, wem die Herrschaft im Hause gebührt, dem Kapital oder der Arbeit, und die mit dieser Redensart herum prunken, haben allen Anlass, vor der richtigen Antwort auf die Frage zu zittern, welche sie stellen.

Aber derartige Herausforderungen des Schicksals gehören nach einer uralten historischen Erfahrung zu den Verzweiflungsstreichen untergehender Klassen. Es ist das sprichwörtliche Tanzen auf dem Vulkan. Karl I. von England und Ludwig XVI. von Frankreich wollten auch die Herren im eigenen Hause sein, als ihnen schon der Kopf auf den Schultern wackelte, und Friedrich Wilhelm IV. wollte auch kein Titelchen von seiner Selbstherrlichkeit preisgeben, bis er auf den Befehl des Proletariats die Mütze ziehen musste vor den Leichen der Proletarier, die er hatte niederkartätschen lassen. Es ist ein sehr unheimliches Wort, das geflügelte Wort von dem Herrn im eigenen Hause, und wären die kapitalistischen Soldschreiber, die es gebrauchen, nicht gar zu abgeschmackte Gesellen, so möchte man sie fast im Verdachte haben, als probierten sie die Rolle des Mephisto an ihrem Brotherrn, dem Kapitalismus.

Inzwischen ist der proletarische Weltfeiertag ein Fest des Friedens, das nur dem Kriege den Krieg ansagt, dem Kriege in all seinen scheußlichen Gestalten, mag er zwischen Klassen oder Völkern geführt werden. Den Bleichröder und den Krupp und den Stumm braucht nicht der Kopf auf den Schultern zu wackeln, es sei denn, dass er in seiner angeborenen Hohlheit wackeln muss. Hoffentlich werden sie alle noch einmal nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, wenn sie aufgehört haben, Herren im eigenen Hause zu sein, wenn sie aufgehört haben, als Drohnen zu leben, die vom Fleiße der Bienen zehren. Denn nichts anderes bedeutet die Redensart vom Herrn im eigenen Hause als die Rechtfertigung des Drohnentums, des schlemmenden und schwelgerischen Müßiggangs, des geistigen Todes, in dem höchstens noch gespensterhaft die Ränke und Schwanke des kapitalistischen Konkurrenzkampfs umher rumoren. Findet ihr dies schnöde Dasein so schön, dass ihr es mit aller Gewalt aufrechterhalten wollt, nun wohl, so wird diese Gewalt gebrochen werden. Mögt ihr sie heute auch noch krampfhaft behaupten, eure angstverzerrten Gesichter sind die besten Zeugen dafür, dass ihr sie morgen nicht mehr behaupten könnt.

Im Hause der Menschheit gibt es nur einen Herrn, und das ist die Menschheit selbst. Es hat manches Jahrtausend gewährt, bis sie soweit erzogen war, um ihre eigene Herrin zu sein, aber nun ist sie es endlich geworden, und sie mag keine Sekunde mehr vertrödeln um der greisenhaften Protzen willen, die sich als Herren im eigenen Hause auf dem Platze rekeln, der ihr gebührt. Es ist ein sehr unbedachtes Wort, das geflügelte Wort vom Herrn im eigenen Hause; es spornt die unterdrückte Menschheit an, ihr Haus je eher je lieber zu reinigen von allem Spuk und ihre Rechte zu sichern, die sie heute nicht mehr von den Sternen zu holen braucht, die sie aus der unversieglichen Kraft ihrer Arbeit wie aus einem ewig quellenden Jungbrunnen schöpft.

Der achte Weltfeiertag des internationalen Proletariats ist einen Schritt weiter auf der Bahn des Sieges. Millionen auf dem weiten Erdenrund werden ihn feiern, sicher ihres Entschlusses und sicher ihrer Kraft, die Welt zu erobern, und die ihm ferngehalten werden durch die Hungerpeitsche des Kapitals, die zählen doppelt an Entschluss und Kraft, endlich einmal aufzuräumen mit den Herren im eigenen Hause.

1 Das war ein Irrtum Mehrings. In diesen Jahren war die Wirkung der imperialistischen Entwicklung auf die Arbeiterbewegung noch schwer erkennbar; später wurde jedoch immer deutlicher, dass mit dem Übergang zum Imperialismus eine kleine Spitzenschicht in der Arbeiterklasse, die Arbeiteraristokratie und -bürokratie, eine soziale Stütze für den Opportunismus bildete. (Siehe auch W. I. Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale. In: Werke, Bd. 21, S. 446-460. - W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus. In: Ebenda, Bd. 23, S. 102-118.)

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