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Franz Mehring 18970210 Nach dem Hamburger Ausstande

Franz Mehring: Nach dem Hamburger Ausstande

10. Februar 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 641-644. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 159-164]

Nach elfwöchentlicher Dauer hat der große Lohnkampf der Hamburger Hafenarbeiter mit ihrer Niederlage geendet. Das Unternehmerkapital kann sich rühmen, den „Machtstreit", den es aus diesem großen Streik gemacht hatte, siegreich beendet zu haben. Es kann nunmehr seinen Triumphgesang anstimmen, vorausgesetzt, dass er ihm nicht in der Kehle stecken bleibt.

Und bis jetzt gewinnt es fast den Anschein, als ob er ihm in der Kehle stecken bleiben wollte. Die Jubelrufe der kapitalistischen Presse ertönen lange nicht so laut, wie man nach ihrem bisherigen Gebaren hätte erwarten sollen. Selbst die Hamburger Reeder wälzen sich etwas unbehaglich auf ihren Lorbeeren. Nach den bisherigen Nachrichten geben sie nunmehr ihren „guten Willen" kund, das abzustellen, was sie „unzweifelhafte Übelstände" nennen. Ohne diese Redensarten höher zu taxieren, als sie wert sind, kann man doch voraussetzen, dass die gebrannten Kinder das Feuer scheuen und es so leicht nicht auf einen zweiten Streik solcher Art ankommen lassen werden. Die alte Erfahrung, dass selbst ein verlorener Streik, wenn er anders mit Kraft und Zähigkeit durchgeführt wurde, mittelbar günstige Folgen für die Arbeiter zu haben pflegt, wird sich wiederum bestätigen.

Aber diese allgemeine Erfahrung erschöpft nicht die besonderen Lehren des Hamburger Streiks. Mit dem nunmehr geführten oder wenigstens scheinbar geführten Beweise, dass die Kämpfe der Arbeiter um günstigere Arbeitsbedingungen unter allen Umständen niedergezwungen werden können, selbst wenn ihre Forderungen auf die Beseitigung „unzweifelhafter Übelstände" abzielen, ist viel mehr bewiesen worden, als dem schwachen Leibe der kapitalistischen Gesellschaft frommt. Namentlich in einer Zeit, wo alle bürgerlichen Parteien, um überhaupt noch existieren zu können, das heuchlerische Getue mit „sozialen Reformen" an die Spitze ihrer Programme stellen müssen. Es heißt schon im Kommunistischen Manifest, die moderne Bourgeoisie sei unfähig zu herrschen, weil sie ihrem Sklaven nicht einmal innerhalb seiner Sklaverei eine erträgliche Existenz gewähren könne.1 Nun legt die deutsche Bourgeoisie zur fünfzigjährigen Jubelfeier des Manifests hohen Wert darauf zu zeigen, dass sie dem deutschen Proletariat eine erträgliche Existenz innerhalb seiner Arbeitssklaverei nicht einmal gewähren wolle, dass sie ihren historischen Beruf darin sehe, jeden Versuch der Arbeiter, sich auf dem Boden und mit den Mitteln der kapitalistischen Gesellschaft eine erträgliche Existenz zu schaffen, kurzweg niederzuschmettern. Trotzdem aber ist es begreiflich, dass sie bei einer so gelungenen Probe auf die praktische Erfüllung dieses Berufs, wie die Niederzwingung des Hamburger Ausstandes darstellt, ein gelindes Grauen überläuft. Alle Verheißungen hirnverbrannter Wüteriche helfen ihr nicht über das dumpfe Gefühl hinweg, dass ein Sieg, der weit über das ihr annoch zuträgliche Maß hinausgeht, nur der Vorbote einer umso gründlicheren Niederlage sein kann.

Ob sich das gleiche Gefühl eines moralischen Katzenjammers auch in den Kreisen der Regierung geltend macht, wagen wir nicht mit gleicher Entschiedenheit zu behaupten. Der Dünkel der preußisch-deutschen Bürokratie ist unermesslich, und nichts wäre unbilliger, als an die Intelligenz einer im Schlepptau des Königs Stumm segelnden Regierung ausschweifende Ansprüche zu stellen. Gern aber gönnen wir den Herren v. Boetticher und Genossen den Ruhm, dass sie in ihrer Weise doch auch das fünfzigste Jubeljahr des Kommunistischen Manifests feiern wollen. Sie bestätigten durch ihre Haltung gegenüber dem Hamburger Streik in ganz erschöpfender Weise den Satz, dass „die moderne Staatsgewalt nur ein Ausschuss sei, der die Geschäfte der Bourgeoisie verwalte"2. Zwar die Redewendung von dem „sozialen Königtum" oder dem „Königtum der Armen" gehörte längst zu dem Phrasenbrei, den man ungern auch nur der Katze vorsetzt, aber die paar verlorenen Anläufe, welche die preußisch-deutsche Regierung gelegentlich gegenüber großen Streiks, so noch im vorigen Jahre gegenüber dem Ausstande der hiesigen Konfektionsarbeiter nahm, erhielten in hoffnungsvollen Gemütern die Illusion, dass die erhabene Instanz genügenden Selbsterhaltungstrieb besitze, um den Profithunger des Kapitals so weit zu bändigen, dass den modernen Arbeitssklaven wenigstens innerhalb ihrer Sklaverei ihre Existenz erträglich gemacht würde. Dieser bescheidenen Illusion die letzten Wurzeln ausgerissen zu haben, gehört zu denjenigen Ergebnissen des Hamburger Streiks, die vom Arbeiterstandpunkte aus auf sein Gewinnkonto zu setzen sind. Jeder Arbeiter weiß jetzt, was er von dieser Regierung zu erwarten hat, nämlich nichts anderes als Todfeindschaft. Sie ist nur dazu da, und sie hat im Hamburger Streik gezeigt, dass sie auch nur dazu da sein will, ihre organisierten Machtmittel in den Dienst der Unternehmerklasse zu stellen, wenn es sich darum handelt, den Arbeitern eine Hebung ihrer Klassenlage auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich zu machen.

Steht somit der Sieg, den das Unternehmerkapital im Bündnis mit der Staatsgewalt über die Hamburger Hafenarbeiter erfochten hat, auf tönernen Füßen, ganz zu geschweigen seine moralischen Qualitäten, so bewährt sich an der Niederlage der Arbeiter von neuem, dass sich einer historisch aufsteigenden Klasse alle Dinge, und nicht zuletzt die bösen, zum Besten wenden müssen. Nicht in dem fatalistischen Sinne der Bibel, die dem Guten verheißt, dass sich ihm alles zum Besten wenden soll, sondern in dem historischen Sinne, dass eine Klasse, die auf dem vorwärts strömenden Flusse der Geschichte segelt, auch dann noch vorwärts kommt, wenn sie einmal die Segel verkehrt stellt. Sie kann ihre Fehler um so eher erkennen und verbessern, als die Gewalt des Stromes sie trotz aller Missgriffe doch inzwischen weiter getragen hat.

In so ungeheurem Missverhältnis die Opfer, welche in erster Reihe die Hafenarbeiter selbst und in zweiter Reihe das klassenbewusste Proletariat in ganz Deutschland für die siegreiche Durchführung des Streiks gebracht hat, zu seinem gänzlichen Misserfolge zu stehen scheinen, so gleicht dies Missverhältnis doch in gewissem Sinne jener sagenhaften Lanze, welche die von ihr geschlagenen Wunden wieder heilte. Ein heldenmütiger Kampf, der ohne Schwanken und Wanken von der Arbeiterklasse in einer Weise durchgeführt wurde, wie ihn irgendeine andere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft auch nicht entfernt durchführen könnte, ist an sich schon ein moralischer Erfolg von der höchsten Bedeutung, den nur eine sehr einseitig-schematische Auffassung moderner Klassenkämpfe verkennen könnte. Die „Zeit" des Pfarrers Naumann sagt nicht übel: „Noch ein paar derartige Pyrrhussiege des Kapitals, und der Sozialismus ist Gemeingut des deutschen Volkes." Das ist, wörtlich genommen, eine paradoxe Übertreibung, aber ihr liegt die sehr richtige Ansicht zugrunde, dass ein Maß von geistiger und sittlicher Energie, wie es die deutsche Arbeiterklasse in dem Hamburger Lohnkampfe bewährt hat, sonst nirgends in Deutschland zu finden ist und dass ebendieser Klasse die Herrschaft gehört. In gleichfalls etwas paradoxer Form, aber dem Sinne nach nicht unzutreffend, könnte man sagen: Je zweckloser die Opfer dieses Riesenstreiks gebracht sind, umso wirksamer sind sie gewesen. Hätten die Hamburger Hafenarbeiter die Arbeit wieder aufgenommen, als jede Aussicht auf Sieg geschwunden war, so wäre der Ausstand so schnell vergessen worden wie mancher andere; er hat nur deshalb so weite Kreise in der ganzen Nation gezogen, weil er bis zum letzten Bissen Brot durchgefochten worden und die Kapitulation vor keiner menschlichen Macht, sondern erst vor dem Frost und dem Hunger erfolgt ist.

Indessen so töricht es wäre, die moralischen Wirkungen des Hamburger Lohnkampfes zu übersehen, so töricht wäre es auch, um dieser Wirkungen willen die Tatsache zu beschönigen oder zu verschleiern, dass die Arbeiter unterlegen sind. Der entscheidende Kampf zwischen Kapital und Arbeit wird nicht auf moralischem, sondern auf ökonomischem Gebiete geschlagen. Und die Lehre dieses Streiks ist, dass die Niederlage zu vermeiden gewesen wäre, wenn der Lohnkampf zu gelegenerer Zeit, mit einer stärkeren Organisation und mit reicheren Mitteln unternommen worden wäre. Die drei Momente hängen innerlich zusammen, denn eine starke Organisation verfügt über große Mittel, welche sie sich hüten wird, zu ungelegener Zeit aufs Spiel zu setzen. Nach dem ganzen Verlauf des Streiks unterliegt es keinem Zweifel, dass unter diesen drei Voraussetzungen die Arbeiter gesiegt haben würden. Insofern widerlegt der Hamburger Ausstand aufs Neue die schon durch englische Erfahrungen widerlegte Meinung, dass die gewerkschaftliche Organisation gegen das moderne Großkapital ohnmächtig sei. Das Kapital ist nur unbesiegbar für Überrumpelungen, die mit elementarer Gewalt aus nichtorganisierten Massen hervorbrechen. Die heldenmütigste Opferfähigkeit und Tapferkeit kann nicht die kaltblütige Strategie und Taktik ersetzen, die notwendig ist, um einen so mächtigen Gegner zu besiegen, wie das moderne Großkapital ist.

Parvus hat vor etwa einem halben Jahre in einer glänzenden und geistreichen Schrift den Nachweis zu führen gesucht, dass die hauptsächlichsten Aufgaben der deutschen Arbeiterklasse für die Gegenwart und für die nächste Zukunft auf denjenigen Gebieten liegen, welche die Arbeiter widerstandsfähiger machen gegen den Druck des Kapitals, also auf den Gebieten der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Gewerkschaftsorganisation. Seine Ansichten haben einerseits große Beachtung in der Partei gefunden, andererseits auch manche Anfechtung erfahren, vielleicht weniger ihrer selbst willen, als wegen der etwas drastischen Form, in welcher Parvus sich über manche proletarische Erscheinungen ausließ. Indessen Form hin und Form her – die Tatsachen selbst haben der Auffassung von Parvus zu ihrem Rechte verholfen. Während die proletarischen Vertreter der Arbeiterklasse die Gegner fort und fort trefflich abtrumpfen, geht ein Lohnkampf nach dem anderen verloren, und besonders der Hamburger Streik hat dem klassenbewussten Proletariat weit über die Hamburger Grenzen hinaus einen Kräfteverlust zugefügt, der durch die schönsten parlamentarischen Erfolge nicht ausgeglichen werden kann. Möglich, dass die neuen Wahlen binnen Jahr und Tag Zustände schaffen, die den Schwerpunkt des proletarischen Klassenkampfes wieder auf das parlamentarisch-politische Gebiet verlegen; heute liegt er entschieden nicht dort, und solange der gegenwärtige Reichstag besteht, wird er dort auch nicht liegen. Eine parlamentarische Debatte kann unter Umständen viel wichtiger sein als ein Dutzend Streiks; gegenwärtig aber liegen die Umstände so, dass der Hamburger Streik allein ungleich wichtiger war als sämtliche Debatten, die seit Jahr und Tag im Reichstage geführt worden sind.

Es ist natürlich eine perfide Lüge oder eine unheilbare Verbohrtheit, wenn die kapitalistische Presse sagt, dass die Sozialdemokratie den Hamburger Streik gemacht, dass sie heimlich zu ihm gehetzt, wenn sie auch öffentlich eher abgemahnt oder sich doch neutral verhalten habe. Die geistreichen Denker, die da behaupten, dass die Sozialdemokratie zu Streiks hetze, um das von Gottes und Rechts wegen so zärtliche Verhältnis zwischen ausbeutenden Kapitalisten und ausgebeuteten Proletariern zu „vergiften", sind ebenso auf dem Holzwege wie die nicht minder geistreichen Propheten, die da weissagen, die Niederlage der Hamburger Hafenarbeiter werde sie jetzt endlich von den „Irrlehren" der sozialdemokratischen „Verführer" bekehren und reuig in die väterlichen Arme der Kapitalisten zurückführen. Viel logischer dachten die paar bürgerlichen Ideologen, die in dankenswerter Weise mit Wort und Tat den Hamburger Hafenarbeitern beigesprungen sind, wenn sie meinten, der Sozialdemokratie würde am ehesten Abbruch getan werden durch einen Erfolg dieses Streiks, durch den damit erbrachten Beweis, dass die Arbeiter auch auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit hätten, sich selbst zu helfen. Indessen irrten auch sie. Die Sozialdemokratie macht die Streiks nicht, die vielmehr in den Zeiten aufsteigender Konjunktur mit derselben Sicherheit kommen, mit welcher jeder Gefangene die Wucht seiner Ketten zu mindern sucht, sobald sich ihm dazu irgendeine Möglichkeit bietet. Aber wenn die Streiks kommen, so hat die Sozialdemokratie allen Anlass, ihr Gelingen zu fördern; freilich nicht, um dadurch die Haltbarkeit der kapitalistischen Gesellschaft zu beweisen, die auf diesem Wege niemals bewiesen werden kann, sondern weil es ihr Beruf ist, alle Arbeiterinteressen zu vertreten und alle Mittel zu benützen, welche die Kraft der Arbeiterklasse für die Lösung ihrer revolutionären Aufgabe stärken können.

Von diesem Standpunkt aus bietet die doch recht beträchtliche Reihe der Niederlagen, welche die deutschen Arbeiter in den Lohnkämpfen des letzten Jahres erlitten haben, einen nichts weniger als erfreulichen Rückblick. Und so tritt immer schärfer die Tatsache hervor, dass solange die aufsteigende Konjunktur dauert, die wichtigste Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse ihre gewerkschaftliche Organisation ist. Ist dieser Weg in einem polizeilich rückständigen Staate, wie dem Deutschen Reiche, schwerer zu beschreiten, so ist er aus demselben Grunde und in demselben Masse auch gesicherter davor, ein Irrweg zu werden. Der Hamburger Ausstand weist auf die gewerkschaftliche Organisation des deutschen Proletariats mit einem Nachdruck hin, der hoffentlich gute Früchte tragen wird, während er zugleich die bösen und feindlichen Gesinnungen der Bourgeoisie wie der von ihr abhängigen Staatsgewalt mit einer Klarheit enthüllt hat, die der Arbeiterklasse aber und abermals bestätigt, dass mit diesen Gegnern nicht einmal ein Waffenstillstand, geschweige denn ein Friede möglich ist.

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