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Franz Mehring 18970324 Parlamentspolitik

Franz Mehring: Parlamentspolitik

24. März 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 171-175]

Der Reichstag ist fest geblieben und hat mit beträchtlicher Mehrheit die Abstriche genehmigt, welche die Budgetkommission an den Marineforderungen der Regierung gemacht hatte. Ein Hauptverdienst an diesem erfreulichen Ereignis gebührt dem König Stumm. Er hatte geschäftig das angebliche Wort des Kaisers kolportiert, dass auf ein ablehnendes Votum des Reichstags ein Kladderadatsch folgen werde, wie er noch nie dagewesen sei, und dieser plumpe Versuch, die Rückgrate zu brechen, die sich nicht biegen lassen wollten, bewirkte das Gegenteil von dem, was er bewirken sollte. Herr Eugen Richter hatte in seiner Weise einmal recht, wenn er sagte: Lieber gar kein Reichstag, als ein Reichstag, der vor solchen Manövern in die Knie sinkt, und aus dieser Empfindung heraus schlug der Reichstag die Regierung, die bei einer geschickteren und umsichtigeren Taktik ihrer Parteigänger sonst vielleicht noch dies oder jenes hätte retten können.

Auf die Frage: Was nun? werden die verschiedensten Antworten laut, und vielleicht kommen diejenigen der Wahrheit am nächsten, die da meinen, zunächst werde gar nichts geschehen, die Regierung werde sich bei der Entscheidung des Reichstags beruhigen und alles weitere der Zukunft überlassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Zickzackkurs einen großen Anlauf nähme und nach seinem gründlichen Scheitern sich anstellte, als wäre nichts geschehen. Eine Auflösung des Reichstags bietet nicht die geringsten Chancen, sie würde im Gegenteil die parlamentarische Situation der Regierung aller Voraussicht nach noch verschlechtern, und was einen Staatsstreich anbetrifft, so staatsstreichelt es sich nicht so geschwind, wie der König Stumm in seinem untadligen Gemüt sich einbilden mag. Das hat vorläufig seine guten Wege, und die Reichstagsmehrheit sagte sich mit Recht: Bange machen gilt nicht! Sie ist augenblicklich in einer viel vorteilhafteren Position als die Regierung, und wenn sie sich sonst nur nicht daraus heraus manövrieren lässt, so kann sie den kommenden Ereignissen mit aller Seelenruhe entgegensehen.

Mancherlei Anzeichen deuten darauf hin, dass die Art, wie gegenwärtig im Deutschen Reiche regiert wird, in den bürgerlichen Kreisen eine Missstimmung erzeugt hat, die etwas mehr bedeutet als das landläufige Räsonnieren der Philister am Biertisch. Wer alle die trüben Erfahrungen der letzten Jahrzehnte durchlebt hat, entschließt sich nicht leicht zu einem so optimistischen Urteil, aber trotz alledem schimmert leise die Hoffnung auf, als habe die berühmte „Volksseele" endlich begriffen, dass ihr mehr geboten werde, als sie vertragen könne. Eine recht hübsch aufrüttelnde Wirkung scheint in dieser Beziehung die Jubelfeier für Wilhelm I. erzielt zu haben, die zum „Kladderadatsch" nicht für die Sozialdemokratie, sondern für ganz andere Leute geworden ist. Die bürgerliche Klasse hat sich unendlich viel bieten lassen, und es schien manchmal, als ob es keinen Überschwang der Demütigung geben könnte, den sie nicht willig auf ihre Schultern nehmen würde. In der Tat hat sie sich ja auch nicht zu dem Schritte entschließen können, der einer nur ein wenig selbstbewussten Klasse allein würdig gewesen wäre: nämlich sich von der nach Parademarsch und Stechschritt stilisierten Feier fernzuhalten, durch die das Andenken des alten Kaisers Wilhelm gefeiert werden sollte. Der Lärm ist ganz programmmäßig verlaufen, aber er hat einen bösen Katzenjammer hinterlassen.

Um nur eins aus vielem herauszugreifen, so erstarrt selbst der zahmste Bourgeois vor dem verruchten Blödsinn, den der Hofpoet v. Wildenbruch als dramatisches Festspiel zur Verherrlichung Wilhelms I. vom Stapel gelassen hat. So ganz hat die bürgerliche Klasse ihr Heldenzeitalter, das Zeitalter der Lessing und Goethe und Schiller, doch noch nicht vergessen, dass sie sich vor diesem infamen Machwerke nicht in ihr Innerstes hinein schämte. Das ist nicht mehr byzantinisch, das ist – nun ja, es gibt keinen anderen Ausdruck: Es ist neureichsdeutsch, ein Wort, das, wenn die Dinge sich in dieser Weise weiterentwickeln sollten, einen historischen Ruf gewinnen wird, vor dem der historische Ruf des Byzantinertums noch heroisch klingen mag. Aber, wie gesagt, das Festspiel des Herrn v. Wildenbruch ist nur ein Item unter sehr vielen anderen, und wer sonst die Geduld und die Zeit hat, die langstieligen Klagen bürgerlicher Biedermänner mit anzuhören, der kann noch die mannigfachsten Litaneien darüber genießen, wie übel ihnen mitgespielt worden sei, trotz ihres aufrichtig patriotischen Willens, den alten Wilhelm als Halbgott zu ehren und im Notfalle auch zu glauben, dass er der liebe Herrgott selbst gewesen sei.

Selbstverständlich wäre es töricht, die bürgerliche Missstimmung höher zu taxieren, als sie verdient. Der Philister wird mit der Geißel gezüchtigt, die er selbst geflochten hat, und von seiner bohrenden Wut über persönliche Kränkungen bis zu seinem ausdauernden Kampfe um politische Prinzipien ist ein unendlich weiter Weg. Trotzdem mag es bemerkenswert sein, dass die persönliche Missstimmung der bürgerlichen Klasse – persönlich nicht nur im Subjekte, sondern auch im Objekte – einen Höhegrad erreicht hat, der seit den Tagen der preußischen Konfliktsjahre1 nicht dagewesen ist. Das ist noch kein Ereignis, aber wohl ein Symptom für die Spannung der politischen Atmosphäre, und solange dieser Wind weht, gehören Staatsstreiche zu den doppelt unmöglichen Dingen. Es müsste denn sein, dass der Zickzackkurs jede Spur eines Selbsterhaltungstriebs verloren hätte, und das ist wieder aus anderen Gründen nicht anzunehmen.

So ist es sehr wahrscheinlich, dass er vorläufig gute Miene zum bösen Spiele machen wird. Aber damit ist nicht entfernt gesagt, dass die uferlosen Flottenpläne und die Weltpolitik für immer verabschiedet worden sind. Sie müssen wiederkommen, und sie werden wiederkommen. Ob sich dann auch wieder ein König Stumm finden wird, der den Karren so glücklich verfährt, wie diesmal, steht dahin. Was der Reichstag bisher getan hat, das ist ein erfreulicher Anfang, aber auch nur ein Anfang, und es kann wohl sein, dass es zu einer Existenzfrage für ihn werden kann, ob er entschlossen und rüstig genug sein wird, den einmal betretenen Weg bis zum Ende zu verfolgen, unbekümmert um alle Kladderadatsche. Das Gerede der Reaktionäre von der Reichsfrühstücksbude und dergleichen mehr ist ein törichtes Geschwätz, mit dem wir nichts gemein haben, aber eine wirkliche Macht im Deutschen Reiche ist der Reichstag noch nicht geworden, und wenn er das werden will, so muss er sich fähig erweisen, einmal den militärischen Forderungen der Reichsregierung ein rücksichtsloses: Bis hierher und nicht weiter! entgegenzusetzen.

Das ist ihm bisher niemals gelungen, und bei den paar schwächlichen Anläufen, die er jeweilig dazu unternahm, haben ihn die Wähler im Stiche gelassen. Insofern kann er sich darauf berufen, dass ein gebranntes Kind das Feuer scheut. Indessen hat es damit doch seinen besonderen Haken. Die Wähler machen nicht nur das Parlament, sondern das Parlament macht auch die Wähler; sowohl bei den Wahlen von 1887 als auch bei den Wahlen von 1893 traten die bürgerlichen Oppositionsparteien mit so schwächlichen Programmen in den Wahlkampf, dass sie unmöglich darauf rechnen konnten und teilweise wenigstens auch gar nicht darauf rechneten, die Massen an den Sieg ihrer Fahnen zu heften. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass sowohl 1887 als auch 1893 die freisinnigen Wähler in Dutzenden von Wahlkreisen, in denen die Wahl der sozialdemokratischen Kandidaten dennoch hätte den Sieg der Opposition sichern können, den Sieg der reaktionären Kandidaten entschieden! Mit einem so schwächlich geführten Kampfe ist der Militarismus weder zu Lande noch zu Wasser zu überwinden, und wenn der Parlamentarismus nochmals eine Kraftprobe mit ihm versuchen will, so muss er sich von vornherein darüber klar sein, dass es sich darum handelt, ganze Arbeit zu machen.

Der bürgerliche Parlamentarismus ist nicht das letzte Ende der Dinge, aber er ist ein historischer Fortschritt, und die deutsche Bourgeoisie kann sich nicht darüber beklagen, dass die deutsche Arbeiterklasse sich je geweigert hat, sie kräftig zu unterstützen, wenn dem Parlamentarismus zum Siege über den Militarismus geholfen werden sollte. In diesem Kampfe hat das Bürgertum sehr oft das Proletariat, aber das Proletariat niemals das Bürgertum im Stiche gelassen. Die Gründe, aus denen das Bürgertum, mit Ausnahme des Großkapitals, und aus denen das Proletariat nichts von der Weltpolitik und den uferlosen Flottenplänen wissen will, mögen sehr verschieden sein, und sie sind gewiss sehr verschieden, aber beide Klassen haben das gemeinsame Interesse, den Militarismus endlich einmal aufs Haupt zu schlagen, und darüber muss sich die bürgerliche Klasse klar sein, dass sie es nur noch auf diesem Wege zum Siege des Parlamentarismus über den Militarismus bringen kann. Opfert sie am letzten Ende doch ihre Helfer ihren Feinden, dann wird es immer wie nach den stürmischen Wahlbewegungen von 1887 und 1893 am letzten Ende heißen: Ein großer Aufwand schmählich ward vertan.

Entschließt sich die bürgerliche Klasse aber endlich einmal, dem klassenbewussten Proletariat Treu und Glauben zu halten, so braucht sie keine Staatsstreiche zu fürchten, weder jetzt noch in irgendwelcher Zukunft. Man kann alles mit den Bajonetten anfangen, nur nicht sich darauf setzen, sagte schon Talleyrand, und das gilt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch zehnmal mehr als an seinem Anfange. Der moderne Militarismus ist ein äußerst kostspieliges Ding, sowohl der zu Lande wie der zu Wasser, und Staatsstreiche kosten zwar sehr viel Geld, können aber kein Geld schlagen. Das Bürgertum sitzt auf dem Geldsacke und hat tausend Mittel und Wege, jeden Staatsstreich lahm zu legen, und um so eher, je frecher er ist. Es kommt nur auf seinen entschlossenen Willen an. Da es solchen Willen seit dreißig Jahren nicht zu bekunden vermocht hat, so erscheint es vielleicht lächerlich, mit dieser Möglichkeit überhaupt noch zu rechnen. Jedoch handelt es sich hier nicht um eine historische Untersuchung, sondern um die Klarstellung derjenigen politischen Situation, die durch den Beschluss des Reichstags in der Flottenfrage geschaffen worden ist. Dieser Beschluss ist dankenswert und erfreulich, aber zu einer wirklichen Wendung der Dinge im Deutschen Reiche kann er nur führen, wenn die bürgerlichen Oppositionsparteien seine richtigen Konsequenzen ziehen, wenn sie sich darüber klar werden, dass sie jetzt Fuß beim Male halten müssen und nicht wieder ausreißen dürfen, sobald der Militarismus sie mit der „Verteidigung der heiligsten Güter" gegen den „Umsturz" oder durch ähnliche bunte Lappen nasführt. Sind sie dazu nicht entschlossen; so hätten sie nicht erst anfangen brauchen; mit dem Verrat des Proletariats an den Absolutismus lässt sich die bürgerliche Parlamentsherrschaft nicht begründen.

Dieses Verhältnis muss man sich klarmachen. Das bloße Jubeln darüber, dass der Reichstag doch einmal der Regierung ordentlich eins ausgewischt habe, führt zu schädlichen oder wenigstens ganz zwecklosen Illusionen. Natürlich wird die sozialdemokratische Politik als solche durchaus nicht von dem berührt, was die bürgerlichen Oppositionsparteien tun oder lassen. Das klassenbewusste Proletariat unterstützt das Bürgertum, wenn es dem Militarismus die Zähne ausbrechen will, und tut sonst, was seine Interessen gebieten. Findet die bürgerliche Klasse die sibyllinischen Bücher für ihren Geschmack etwas teuer, nun, so mag sie sich selbst anklagen ; vor dreißig Jahren wäre sie billiger dazu gekommen, damals als Lassalle ihr auseinandersetzte, dass die bürgerliche Parlamentspolitik ohne einen gründlichen Tanz mit dem Militarismus und ohne eine ehrliche Stellung zum Proletariat stets ein Schattenspiel an der Wand bleiben werde.

1 Preußische Konfliktsjahre - (1860-1863) begannen mit der Ablehnung des Gesetzentwurfes über die „Verpflichtung zum Kriegsdienst", der zur Erhöhung des Feldheeres von 40.000 auf 63.000 Mann einen Kostenaufwand von 7 Millionen Talern Nachtragsetat für 1860 und jährlich 9,5 Millionen Talern forderte, durch das preußische Abgeordnetenhaus (liberale Bourgeoisie). 1862 kam kein Budgetgesetz zustande, weil das Abgeordnetenhaus die Kosten für die Heeresreorganisation gestrichen hatte und das Herrenhaus daraufhin das Budget nicht annahm. Bismarck (1862 zum Ministerpräsidenten ernannt) regierte ohne Budget. Das war ein verhüllter Staatsstreich. Aus dem Heereskonflikt wurde so der Verfassungskonflikt. (Siehe auch Friedrich Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 16, S. 37/38. - W. I. Lenin: Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie. In: Werke, Bd. 7, S. 221-229.)

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