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Franz Mehring 18970317 Weltpolitik

Franz Mehring: Weltpolitik

17. März 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 801-804. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 165-170]

Die „uferlosen Flottenpläne", die solange als eine drohende Wolke am politischen Horizont standen, haben endlich greifbare Gestalt angenommen, und es gewinnt den Anschein, als ob die innere Politik des Deutschen Reiches, die sich diesen Winter hindurch mit Ach und Krach fortgeschleppt hat, einmal wieder einer Krisis entgegen triebe. Der Staatssekretär für die Marine hat sein Abschiedsgesuch eingereicht wegen der Abstriche, welche die Budgetkommission des Reichstags an seinen Forderungen für die Kriegsflotte vorgenommen hat, und die Auflösung des Reichstags, falls er die Beschlüsse der Budgetkommission genehmigen sollte, ist ein vielerörtertes Thema in der Tagespresse. An dieser Stelle darauf einzugehen, würde vorzeitig sein. Die Art, wie der Admiral Hollmann operiert hat, deckt vor allem anderen die Zerfahrenheit innerhalb der Regierung auf, und nicht weniger groß ist die Zerfahrenheit innerhalb der bürgerlichen Reichstagsfraktionen, so dass es über Menschenwitz geht, vorherzusagen, was sich zunächst aus diesem Imbroglio entwickeln wird.

Was aber heute schon am Platze sein mag, das sind einige Bemerkungen über die „Weltpolitik", welcher nach den Bekenntnissen des Admirals Hollmann die „uferlosen Flottenpläne" dienen sollen. Die weit verbreitete Meinung, dass es sich bei diesen Schlagworten um Marineliebhabereien handle, für deren Befriedigung den Steuerzahlern nicht unerträgliche Lasten aufgebürdet werden dürften, hat ohne Zweifel manches und selbst viel für sich, erschöpft aber unseres Erachtens die Sachlage nicht. Es ist damit ähnlich, wie es vor einigen dreißig Jahren mit der preußischen Heeresreorganisation war, gegen die auch eingewandt wurde, dass sie auf einer persönlichen Soldatenliebhaberei beruhe, für welche nicht alljährlich soundso viele Millionen Taler aus dem Fenster geworfen werden dürften. Diese Behauptung war auch bis zu einem gewissen Grade ganz richtig, wenngleich nur bis zu einem gewissen Grade. Hinter der Heeresreorganisation steckte noch mehr, nämlich ein großes und mächtiges Klasseninteresse, das sich schließlich durchgesetzt hat, trotz aller noch so gelungenen Beweisführungen über die persönliche Soldatenliebhaberei und die unerträgliche Steuerlast. Ohne sonst die damalige Lage mit der heutigen Lage irgendwie vergleichen zu wollen, so sind wir allerdings der Ansicht, dass es zu sehr unangenehmen Überraschungen führen könnte, wenn die mit den „uferlosen Flottenplänen" heraufziehende Krisis bloß mit der negativen Beweisführung der Marineliebhaberei, der erdrückenden Steuerlast usw. bekämpft würde. Damit kann man der Regierung schwere Wahlniederlagen beibringen, aber schließlich doch die Schlacht verlieren, wie die bürgerliche Opposition der sechziger Jahre nach manchem glänzenden Wahlsieg doch eine schwere Niederlage erlitt, und zwar deshalb erlitt, weil sie dem reaktionären Klasseninteresse, das hinter der Heeresreorganisation stand, kein revolutionäres Klasseninteresse entgegensetzen konnte oder wollte.

Unter den Urteilen, die wir in der bürgerlichen Presse über die Marinekrisis gefunden haben, kommt eine Auslassung des Pfarrers Naumann in der „Zeit" dem Kerne der Sache am nächsten, sei es auch nur seinem verkehrten Ende. Herr Naumann ist unstreitig ein gescheiter Mann, bis zu der Grenze, wo die Welt für ihn mit Brettern vernagelt ist. Die Flottenpläne und die Weltpolitik liegen jenseits dieser Grenze, und so schwärmt er für sie. Diesseits dieser Grenze aber liegt die konservative Parteipolitik, aus der Herr Naumann sich herausgearbeitet hat. Er sieht ganz richtig, dass die Konservative Partei nur mit halbem Herzen bei den Flottenplänen und der Weltpolitik ist. Hieraus erklärt er die Zerfahrenheit, die beim ersten Auftauchen der Marinekrisis sofort offenbar geworden ist, und schreibt: „Bis jetzt ist die Regierung ihrem Wesen nach konservativ, das heißt, sie besteht überwiegend aus Personen, die mit agrarischen Kreisen in guter Fühlung bleiben wollen, die allen Sinn für das Landheer haben, und die sich beim Regieren auf die alte grundbesitzende Herrenschicht stützen wollen… Wenn darum die Konservativen für die Flotte eintreten, so tun sie es, um mit der Regierung in guten Beziehungen zu bleiben, aber nicht aus eigenem wohlverstandenen Interesse. Diese kühle Haltung muss sich naturgemäß bei einer konservativ gerichteten Regierung irgendwie widerspiegeln. Der Kaiser selbst aber ist viel freier von konservativen Eindrücken, er ist moderner Mensch und interessiert sich lebhaft für den Fortschritt der Technik und des Verkehrs. Man kann von ihm sagen, er sei großindustriell gerichtet. In dieser Richtung liegt seine Flottenbegeisterung und auch sein Kampf gegen die Arbeiterbewegung. Wenn man seine Worte an die Hamburger Reeder und seine Flottenbilder zusammennimmt, so hat man leicht die Situation begriffen. Dieser Kaiser müsste eine nichtkonservative Regierung haben, um wirken zu können."

In diesen Ausführungen Naumanns ist sehr viel Wahres enthalten, und soweit sein sozialpolitisches Begreifen reicht, hat er die Situation in der Tat begriffen. Das Richtige in seiner Beweisführung zeigt aber zugleich, wie wenig mit einer rein negativen Opposition gegen die Flottenpläne und die Weltpolitik erreicht werden kann, mit einer Opposition, in der sich Junker, Liberale, Ultramontane, Antisemiten und Sozialdemokraten zusammenfinden können, einer Opposition, die noch viel buntscheckiger sein würde als die bürgerliche Opposition der sechziger Jahre und die in dem großindustriellen Klasseninteresse, das hinter den Flottenplänen und der Weltpolitik steht, einen noch ungleich geschlosseneren und mächtigeren Gegner zu bekämpfen haben würde, als das ostelbische Junkertum der sechziger Jahre war.

Nachdem nun aber Herr Naumann die Pferde glücklich an den Wagen gebracht hat, spannt er sie mit großem Eifer hinten an. Unmittelbar nach seinen oben wiedergegebenen Ausführungen fährt er fort: „Wo aber soll er (der Kaiser) eine solche (nichtkonservative Regierung) finden? Der bürgerliche Liberalismus ist nicht tragkräftig genug, eine Regierungspartei zu sein, weil er sich mit der Arbeiterbewegung durch Selbstsucht und Verständnislosigkeit völlig entzweit hat. Ohne die Arbeiter kann ein nichtkonservatives Regiment in Deutschland nicht geschaffen werden. Solange also das Kaisertum die Arbeiterbewegung in ihrer Entwicklung hindert, ist es selbst an die Konservativen gebunden, und solange die Arbeiterbewegung nicht national denkt, nötigt sie das Kaisertum, konservativ zu bleiben. Das ist der sachliche Grund, warum in Flottenfragen die Regierung den Eindruck der Unsicherheit machen muss. Es fehlt der Resonanzboden für ein Lied vom Meere. Er wird so lange fehlen, bis der Sozialismus national werden wird und das Kaisertum wieder sozial wird." So Herr Naumann, der damit die Grenze passiert, wo die Welt für ihn mit Brettern vernagelt ist.

Es hieße sündhafte Verschwendung mit Druckerschwärze und Papier treiben, wenn hier erst weitläufig auseinandergesetzt werden sollte, dass und weshalb dies „Lied vom Meere" in der deutschen Arbeiterklasse niemals einen „Resonanzboden" finden wird. Nur soweit sich aus Naumanns verkehrtem Gesichtspunkt die richtigen Gesichtspunkte entwickeln lassen, lohnt es sich, darauf einzugehen. Angenommen, wenn auch nicht zugegeben, dass die geplante Weltpolitik des Deutschen Reiches dazu führen würde, neue Kolonien zu eröffnen und neue Märkte zu erschließen, so hätte selbst dann noch nicht die deutsche Arbeiterklasse das geringste Interesse, sich für sie zu interessieren. Eine solche Politik könnte nur dazu führen, einzelnen Arbeiterschichten vorübergehende Vorteile zu verschaffen, aber um den Preis, dauernd die Wucht zu vermehren, womit das Kapital auf der Arbeit lastet. Was soll denn mit der großindustriellen Weltpolitik erreicht werden? Doch nichts anderes als möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals, das in den deutschen Grenzen erstickt. Möglichst rasches Wachstum des Kapitals ist nun allerdings auch die günstigste Bedingung für die Lohnarbeit, aber das heißt nur, um mit Marx zu sprechen: „Je rascher die Arbeiterklasse die ihr feindliche Macht, den fremden, über sie gebietenden Reichtum vermehrt und vergrößert, unter desto günstigeren Bedingungen wird ihr erlaubt, von neuem an der Vermehrung des bürgerlichen Reichtums, an der Vergrößerung der Macht des Kapitals zu arbeiten, zufrieden, sich selbst die goldenen Ketten zu schmieden, woran die Bourgeoisie sie hinter sich her schleift."1 Und in wie höchst bedingtem Sinne möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals überhaupt nur die günstigste Bedingung für die Lohnarbeit ist, mag Herr Naumann in dem Schriftchen über Lohnarbeit und Kapital nachsehen, wenn er es nicht vorzieht, sich aus dem großen wissenschaftlichen Werke von Marx über den Zusammenhang in allen Einzelheiten zu unterrichten. Vor diesem Zusammenhang hat jeder Kaiser seine Macht wie sein Recht verloren, mag er „sozial" sein oder nicht, und wir glauben auch, dass ein, um mit Herrn Naumann zu sprechen, „großindustriell gerichteter" Kaiser viel zu logisch denkt, um sich darüber zu täuschen. Gewiss hat Herr Naumann recht zu sagen, dass die Flottenpläne des Kaisers und seine Parteinahme für die Hamburger Reeder trefflich zusammenpassen, aber wie kann er den Arbeitern zumuten, unlogischer zu denken als der Kaiser und sich als „Resonanzboden" für eine Politik herzugeben, die ihren Emanzipationskampf dauernd erschwert, um höchst problematischer und im günstigsten Falle sehr vorübergehender Vorteile wegen?

Aber selbst dieses Räsonnement leidet noch unter einer viel zu günstigen Voraussetzung. Die großindustrielle Weltpolitik, welche die Flottenpläne eröffnen sollen, ist überhaupt ein Phantom und reell nur darin, dass sie mit der Weißblutung der Steuerzahler erkauft werden soll. Die Zeiten sind längst vorüber, wo die kapitalistische Produktionsweise sich im aufsteigenden Aste ihrer Entwicklung befand und den wahren Charakter des Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat von Zeit zu Zeit durch glückliche Erfolge einer industriellen Weltpolitik verschleiern konnte. Deutschland ist infolge seiner geographischen Lage und anderer Umstände viel zu spät in den industriellen Wettkampf eingetreten, um diese Chance überhaupt noch ausnutzen zu können, was beiläufig zu den Gründen gehört, aus denen das deutsche Proletariat weit eher zu seinem Klassenbewusstsein gelangt ist als das Proletariat anderer Nationen, wo die große Industrie viel älter ist. Heute kann Deutschland mit den alten großen Kolonial- und Seemächten nicht mehr rivalisieren. Das ist, wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, durch die deutsche Kolonialpolitik bewiesen worden, deren Erfolge im umgekehrten Verhältnis zu ihren Opfern stehen. Die Phantasie des Admirals Hollmann, dass die deutsche Kriegsflotte auf gleiche Höhe mit der französischen Kriegsflotte gebracht werden müsse, bleibt eine Phantasie, die mit allem patriotischen Hurraschreien nicht um ein Atom greifbarer wird. Und es ist eine unbillige Zumutung an die deutsche Arbeiterklasse, dass sie sich unter Opferung ihrer wirklichen Interessen in diese Phantasie verlieben soll.

Ein solches Wettrennen mit Frankreich oder anderen Kolonial- und Seemächten hätte aber selbst dann keinen Sinn, wenn es ebenso aussichtsreich wäre, wie es aussichtslos ist. Die kapitalistische Produktionsweise befindet sich in dem absteigenden Aste ihrer Entwicklung, dem längst nicht mehr taugt, was ihrem aufsteigenden Aste taugen mochte. Mit ihrer räumlichen Ausdehnung ist der modernen Großindustrie überhaupt nicht mehr zu helfen, sie ist in Frankreich und England trotz aller Kolonial- und Seemacht nicht weniger am Ende ihres Lateins als in Deutschland. Will Deutschland reichere Nationen überflügeln, so hat es dazu nur einen Weg, den Weg einer „gesellschaftlichen Revolution, die, solange es noch Zeit ist, die Produktions- und Verkehrsweise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden Bedürfnissen der Produktion selbst umwälzt und dadurch die Erzeugung neuer Produktivkräfte möglich macht, welche die Superiorität der europäischen Industrie sichern und so die Nachteile der geographischen Lage ausgleichen"2. Dieser Gedanke, den Marx schon vor fünfzig Jahren bei einem Vergleich zwischen der europäischen und der amerikanischen Industrie geäußert und den Lassalle später in die Worte gekleidet hat, der Weltmarkt werde derjenigen Nation gehören, deren Arbeiterschaft sich zuerst zu emanzipieren wisse, enthält alles, was über die Stellung des deutschen Proletariats zu den Flottenplänen und der Weltpolitik der Regierung zu sagen ist. Er ist das revolutionäre Gegenprogramm zu dem reaktionären Versuch, die industrielle und kommerzielle Abhängigkeit Deutschlands zu beseitigen durch Mittel, die sich historisch längst überlebt haben.

Die Emanzipation der Arbeiterklasse fällt hier wie überall mit den Interessen der Nation zusammen. Der großindustriellen Weltpolitik muss die proletarische Weltpolitik entgegengesetzt werden; durchdringt diese Auffassung erst die Massen, so ist auf die Dauer allen „uferlosen Flottenplänen" ein Riegel vorgeschoben. Sie stoßen dann nicht auf eine bunt gemischte Opposition, sondern auf einen festen Widerstand, an dem sie zerschellen müssen. Möglich, dass es nicht sofort geschieht, dass es vielmehr umgekehrt geht wie in den sechziger Jahren, dass die Opposition erst siegt nach ein paar vorübergehenden Erfolgen der Regierung, wie damals die Regierung erst siegte nach ein paar vorübergehenden Erfolgen der Opposition. Aber die endliche Entscheidung kann nicht zweifelhaft sein, wenn dem großindustriellen Klasseninteresse, das hinter den Flottenplänen und der Weltpolitik der Regierung steht, das proletarische Klasseninteresse mit rücksichtsloser Schroffheit entgegentritt.

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