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Franz Mehring 18970922 Zum Hamburger Parteitag

Franz Mehring: Zum Hamburger Parteitag

22. September 1897

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 186-189]

Schade, dass die herrschenden Klassen in Deutschland ihre Jubiläumsfeiern augenblicklich eingestellt haben; dieser Herbst bietet ihnen eine Fülle der teuersten Erinnerungen. Sie waren gar sehr üppig, als im Jahre 1872 die Blätter von den Bäumen fielen. Im Haag hielt die Internationale ihren letzten Kongress, die europäische Arbeiterbewegung schien noch einmal der europäischen Reaktion zu unterliegen. In allen europäischen Staaten fand ein wahres Kesseltreiben gegen den Bund statt; selbst die englische Regierung schritt in Irland gegen seine Sektionen ein und ließ durch ihre auswärtigen Vertreter Informationen über seine Verzweigungen einziehen, während die republikanische Regierung der Schweiz nur mit Mühe gehindert werden konnte, Flüchtlinge der Kommune an Thiers auszuliefern. Und alle Unterdrückungsmaßregeln, die der vereinigte Regierungsverstand von Europa auszuklügeln wusste, verschwanden fast vor dem Verleumdungskrieg, den die Lügenkraft der zivilisierten Welt gegen das klassenbewusste Proletariat unternahm. Apokryphe Geschichten und Geheimnisse der Internationale, Lärmtelegramme und dreiste Fälschungen öffentlicher Dokumente jagten einander. Den großen Brand von Chicago kündete der elektrische Funken rings um die Erde als die höllische Tat der Internationale an, und es war noch ein Wunder, wie der Generalrat in seinem Bericht an den Haager Kongress mit treffendem Spotte sagte, dass nicht auch ein Orkan, der damals Westindien verwüstete, ihrem dämonischen Einfluss zugeschrieben wurde.

In Berlin aber konzentrierte sich die Hetze der europäischen Reaktion. Gleichzeitig mit dem Haager Kongress tagten im Schlosse an der Spree die Kaiser von Deutschland, Österreich und Russland mit ihren Ministern, und die offiziösen Zinkenisten bliesen in die Welt hinaus, dass von dieser Dreikaiserzusammenkunft ein neues Zeitalter des Weltfriedens und des Weltenglücks datiere. Sie sollte erstens allen Hoffnungen, welche die französischen Revanchemänner auf Russland setzten, ein für allemal einen Riegel vorgeschoben, und sie sollte zweitens jene europäische Allianz gegen das revolutionäre Proletariat geschaffen haben, welche die einzig mögliche Rettung des Staates, der Kirche, der Gesittung, mit einem Worte alles dessen sei, was die europäischen Staaten konstituiere. Das alles glaubten getreulich die getreuen Untertanen; war doch die Internationale wirklich zerbrochen und die deutsche Sozialdemokratie in zwei Fraktionen zerspalten, die sich gegenseitig fast heftiger befehdeten als ihre gemeinsamen Gegner1. Höchstens die bürgerlichen Ideologen trauten dem Frieden noch nicht recht; sie wollten mit „ethischem Pathos" kurieren, was von der großen Krankheit noch übrig war, und stifteten den Verein für Sozialpolitik, der in diesem Herbste auch sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern kann. Sonst aber plätscherte die deutsche Bourgeoisie in einem Meere von Wonne. Sie betrieb kreuzfidel die große Plünderung des Gründungsschwindels, und Herr Miquel, damals weit entfernt, den Mittelstand erhalten zu wollen, in dem sich Kapital und Arbeit vereinigen, half vielmehr mit seinen „korrekten" Gründungen diesem Mittelstand das Rückgrat brechen. Der dumme Pöbel aber, der etwa doch hinter den nichts weniger als feinen Schwindel hätte kommen können, wurde mit dem „Kulturkampf" amüsiert, mit den Katzbalgereien zwischen Kirche und Staat; Bismarck und der Bischof von Ermland wechselten ihre welterschütternden Depeschen und führten den antiken Krakeel zwischen Kalchas und Agamemnon als moderne Travestie auf; ja, selbst Döllinger, den Heine einst als „erzinfamen Pfaffen" verspottet hatte, wurde von der liberalen Presse als Reformator des neunzehnten Jahrhunderts gefeiert, weil ihm auf seine alten Tage einfiel, nur noch 99 und nicht mehr 100 Prozent von den vatikanischen Dogmen zu bekennen.

Wie schade also, dass die herrschenden Klassen in Deutschland, die sonst so bereit sind, ihre Feste zu feiern, wie sie fallen, in diesem Herbste kein Jubiläum feiern mögen. Aber wenn die Menschen schweigen, so reden die Tatsachen, und sobald man die Tatsachen von damals und von heute einander gegenüberstellt, begreift man die ungewohnte Schweigsamkeit der patriotischen Trompetenbläser. Alle die großen Aktionen von dazumal haben den kläglichsten Verlauf genommen und stellen dem Herrschtalent der herrschenden Klassen ein wahrhaft niederschmetterndes Zeugnis aus. Das gilt von der Dreikaiserzusammenkunft mit ihren weisen Fürsten und genialen Staatsmännern bis zu den „korrekten" Gründungen des Herrn Miquel und der neuen Kirchenstiftung des Herrn Döllinger. Blamage über Blamage, Krach über Krach: Dies Fazit ergibt die bürgerliche Regierungskunst eines Vierteljahrhunderts. Was ist selbst aus dem verhältnismäßig Vernünftigsten geworden, das im Herbste 1872 versucht wurde, aus dem Verein für Sozialpolitik? Er hat sich fünfundzwanzig Jahre im Kreise herumgedreht und ist heute genau so weit, wie er im Anfange war. Und er nicht allein, sondern alle Versuche, die seit seiner Gründung gemacht worden sind, um den proletarischen Klassenkampf abzustumpfen, sind hoffnungslos gescheitert; eben jetzt sehen wir den Nationalsozialen Verein zusammenbrechen an der einfachen Frage: Für oder wider die Sozialdemokratie?

Und so hat wirklich die entscheidende Frage des Vierteljahrhunderts gelautet, das seit dem Zusammenbruch der Internationale verflossen ist. Damals konnten die herrschenden Klassen die Form der europäischen Arbeiterbewegung zerbrechen, aber sie konnten nicht mehr ihren Geist töten, der trotz alledem ununterbrochen seine Siegeslaufbahn fortgesetzt hat. Von allen Mächten unseres öffentlichen Lebens kann allein die Sozialdemokratie mit froher Genugtuung auf die Jahre und Jahrzehnte seit dem Haager Kongress der Internationale zurückblicken. Sie ist stetig fortgeschritten, und ihr Weg ist bedeckt mit den Trümmern der feindlichen Waffen, welche sie eine nach der anderen mit kräftiger Faust zerbrochen hat.

Freilich ist ihr Weg weder so klar noch so kurz gewesen, wie ihre eigenen Pfadfinder vor fünfundzwanzig Jahren meinten. Hätte damals ein Prophet vorausgesagt, im Jahre 1897 werde die Hauptaufgabe des sozialdemokratischen Parteitags die Entscheidung darüber sein, ob sich das klassenbewusste Proletariat an den Landtagswahlen beteiligen solle, so hätte er schwerlich gläubige Ohren gefunden, und noch viel weniger würde er freudig bewillkommnet worden sein. Man rechnete damals mit viel kürzeren Fristen für die Liquidation der kapitalistischen Gesellschaft, und keineswegs rechnete man das traurige Wahlsystem der Manteuffelei zu den Hebeln dieser Liquidation. Man stellte sich den Emanzipationskampf der Arbeiterklasse nicht entfernt als einen so verschlungenen Prozess vor, wie er tatsächlich geworden ist, trotz oder auch wegen der Schnelligkeit, mit welcher die Sozialdemokratie sich entwickelte. Je stärker die Reihen des klassenbewussten Proletariats anschwollen, umso schwerere Aufgaben fielen auf seine Schultern; eine große Partei muss mit vielen Dingen rechnen, über welche eine kleine Partei gleichmütig zur Tagesordnung gehen kann.

Am wenigsten kann irgendein einzelner oder können irgendwelche einzelne den Gang einer weltgeschichtlichen Bewegung im Voraus bestimmen. Die triviale Redensart: Die Dinge kommen immer anders, als die klügsten Leute voraussehen, hat ihren guten Sinn. Je mehr die wissenschaftliche Erkenntnis von Gesellschaft und Natur fortschreitet, umso mehr wird die Menschheit die Herrin ihrer Geschicke, und umso leichter lässt sich die Zukunft aus der Gegenwart ablesen. Aber wir sind noch weit entfernt, alle Triebkräfte in Gesellschaft und Natur so genau zu kennen, dass wir ihre Wirksamkeit etwa mit der Sicherheit bemessen können wie den Gang eines Uhrwerks. Ein großes Ziel lässt sich wohl mit voller Sicherheit erkennen, aber zu diesem Ziele kann es sehr verschiedene Wege geben, und diese Wege im Voraus festlegen zu wollen, ist ein Unding. Da kann nur die praktische Möglichkeit entscheiden, und der Weg, auf dem man am schnellsten vorwärts kommt, ist allemal der beste.

Soweit sich heute die Dinge übersehen lassen, wird sich der Hamburger Parteitag für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen entscheiden. Ihre Gegner sind nach den bisherigen Kundgebungen aus der Partei in entschiedener Minderheit geblieben. In einer hiesigen Versammlung ist gegen sie der Vorwurf des Wankelmuts erhoben worden, weil sie sich gelassen in ihre Niederlage fügen und nur noch wünschen, dass der voraussichtliche Entscheid der Mehrheit zum Guten führen möge. Nichts aber kann ungerechter sein als dieser Vorwurf. Schwerlich ist irgendein Gegner der Wahlbeteiligung anderer Meinung geworden, oder wenn ja einer anderer Meinung geworden sein sollte, so ist er eben durch bessere Gründe überzeugt worden. Aber in keinem Falle handelte es sich bei dieser Frage um die Durchkämpfung eines Prinzips, das bis zum letzten Atemzuge verteidigt werden muss. Es handelte sich vielmehr nur um die Frage, ob die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen ein Weg ist, der schneller zu dem gemeinsamen Ziele führt, oder ob er es nicht ist. Die Entscheidung darüber hängt von keinem irgendwie prinzipiellen Gesichtspunkt, sondern von der richtigen oder unrichtigen Einschätzung einer Menge von tatsächlichen Momenten ab. Der Streit über die Wahlbeteiligung in den Parteiblättern war eine Diskussion über das Für und Wider, deren Zweck in erster Reihe dahin ging, diese tatsächlichen Momente klarzustellen. Denn die Entscheidung selbst war von vornherein die Sache der Arbeiter, welche die neue Last zu tragen haben, falls sie wirklich auf die Schultern der Partei genommen werden soll.

Ist es der wohlerwogene Wille der proletarischen Wähler, diesen Weg zu beschreiten, so ist schon eine gewisse Bürgschaft dafür gegeben, dass sie ihn praktikabel zu machen wissen werden, denn so leicht lässt sich der Klasseninstinkt einer kampfgewohnten Arbeiterpartei nicht beirren. Bescheiden sich die Gegner der Wahlbeteiligung, sowenig sie von der Unrichtigkeit ihrer Ansicht überzeugt sein mögen, dennoch mit dieser berechtigten Annahme, so handeln sie jedenfalls vernünftiger, als wenn sie sich in der undankbaren und einstweilen doch auch vorzeitigen Rolle der Unglückspropheten gefallen.

1 Richtiger ist es, von den zwei Richtungen in der deutschen Arbeiterbewegung zu sprechen. Der lassalleanische Arbeiterverein war keine sozialistische Partei, seine Führer kämpften erbittert gegen die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die „Partei der Marxisten". Erst nachdem Lassalles Nachfolger, von Schweitzer, abgetreten war und unter dem Druck der Arbeitermitglieder des Vereins fanden sich dessen Führer 1875 zur Vereinigung mit den Eisenachern auf dem Parteitag von Gotha bereit. (Siehe auch Karl Marx: Briefe an Kugelmann, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 106/107. - Marx/Engels: An den Ausschuss der Sozialdemokratischen deutschen Arbeiterpartei. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 16, S. 427-429.)

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