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Franz Mehring 18970113 Zweihundertsiebenundzwanzig Jahre

Franz Mehring: Zweihundertsiebenundzwanzig Jahre

13. Januar 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 513-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 154-158]

Nach einer Notiz in der sozialdemokratischen Tagespresse sind innerhalb der drei Jahre 1894, 1895 und 1896 nicht weniger als 227 Jahre Gefängnis über Angehörige der Partei verhängt worden, ungerechnet 112.852 Mark Geldstrafen, die nebenher liefen. Das Verhältnis der Gefängnis- zu den Geldstrafen stellt sich dabei so, dass die Gefängnisstrafen von Jahr zu Jahr zu-, die Geldstrafen von Jahr zu Jahr abnahmen. Wir dürfen deshalb für die nächsten Jahre auf ein noch stärkeres Anschwellen dieser Verlustliste rechnen, aber auch davon abgesehen, so geben die 227 Jahre, mit denen die Justiz den herrschenden Klassen den Emanzipationskampf des Proletariats quittiert hat, einen lieblichen Begriff von den Rechtszuständen im Deutschen Reiche.

In dieser trockenen Ziffer spiegelt sich vor allem wider, in welchem Maße die deutsche Rechtspflege zu einem Kampfmittel der herrschenden Klassen geworden ist. Hoffentlich wird niemand im Ernste die heitere Behauptung aufstellen wollen, dass es sich bei den 227 Jahren Gefängnis um eine Sühne des verletzten Rechts gehandelt hat. Und wenn irgendwer diese Behauptung aufstellen wollte, so wäre er sehr leicht zu widerlegen. Man kann mit voller Bestimmtheit sagen, dass die sozialdemokratische Agitation nirgends und niemals die Grenzen überschritten hat, innerhalb deren ihr die verfassungsmäßig im Deutschen Reiche bestehende Press- und Redefreiheit sich zu bewegen gestattet. Niemals und nirgends hat sie ein größeres Maß dieser Freiheiten usurpiert, als jede Partei in Ländern mit wirklicher Press- und Redefreiheit als ganz selbstverständlich für sich beansprucht. Der schlagendste Beweis dafür ist die gänzliche Erfolglosigkeit der Suche, welche die Freunde neuer Ausnahmegesetze nach rednerischen und schriftstellerischen Ausschreitungen der Sozialdemokratischen Partei unaufhörlich anstellen. Fänden sie irgendwelche Ausschreitungen dieser Art, wie würden sie damit krebsen! Aber selbst als ihnen bei den Verhandlungen über die Umsturzvorlage das Feuer auf den Nägeln brannte, konnten sie nichts beibringen, es sei denn, dass der Minister v. Koller eine schöne Novelle des schweizerischen Dichters Gottfried Keller, unwissend von wem sie sei, als Zeugnis für die revolutionären Umsturzgelüste der deutschen Sozialdemokratie heranschleppte.

Erzielt worden sind diese 227 Jahre Gefängnis durch objektiven Missbrauch der Rechtspflege für einseitige Partei- und Herrschaftszwecke. Wir sagen: objektiven Missbrauch, denn die subjektive Seite der Sache entzieht sich dem öffentlichen Urteil. Es hat, namentlich im Preußischen, viele Richter gegeben, die absichtlich das Recht gebogen und gebrochen haben, von dem Kammergerichtspräsidenten v. Kleist bis zum Landgerichtsdirektor Brausewetter. Es hat, selbst im Preußischen, Richter gegeben, die unverweislich ihres Amtes gewaltet haben, vom Kammergerichtspräsidenten v. Grolmann bis zum Landgerichtsdirektor Schmidt, der vor einiger Zeit in der Blüte seiner Jahre unerwartet aus dem Juristendienste schied. Zwischen diesen Grenzen gibt es zahlreiche Möglichkeiten in dem Sinne, dass Richter ein mehr oder weniger gutes Recht zu sprechen glauben, während sie tatsächlich ein mehr oder weniger schlechtes Recht sprechen. Wie sich diese subjektive Seite dem öffentlichen Urteil entzieht, so ist sie auch ohne Bedeutung für die objektive Seite der Frage, um die es sich hier handelt. Man mag gern annehmen, dass jeder deutsche Richter nach den Lorbeeren der Grolmann und Schmidt trachtet, dass jedem deutschen Richter vor dem Schandpfahl graut, an den die Kleist und die Brausewetter für immer genagelt sind; damit wird nichts an der Tatsache geändert, dass ein Richterstand, der sich aus den herrschenden Klassen rekrutiert, der in starker Abhängigkeit von der Staatsgewalt steht und der gegebenenfalls durch die Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuchs gezwungen wird, seine Klassenvorurteile zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen, unmöglich ein unparteiisches Recht finden kann, sobald er als unparteiische Instanz urteilen soll in dem historischen Prozesse, den das Proletariat den besitzenden Klassen und der von ihnen getragenen Staatsgewalt macht.

Diese Unmöglichkeit tritt mit der unanfechtbarsten Deutlichkeit hervor, wenn man einen größeren historischen Zeitraum überblickt. Es war die Gegenrevolution der fünfziger Jahre, welche die Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuchs schuf, von denen das alte Landrecht noch nichts wusste, welche die von der Märzrevolution beseitigten Disziplinargesetze für die Richter erneuerte, welche die Schwurgerichte zu einem Privileg der herrschenden Klassen machte, ihnen aber trotzdem noch die Rechtsprechung über politische und Pressvergehen entzog, welche Ausnahmegerichtshöfe einsetzte usw. Der Name des Justizministers Simons, der das Werkzeug Manteuffels bei all dieser Korruption der Justiz war, ist heute noch berüchtigt. Und doch wird man in der Ära Simons vergebens nach einem dreijährigen Zeitraum suchen, in dem wegen Überschreitungen der Press- und Redefreiheit auch nur 225 Tage Gefängnis verhängt worden wären. Gewiss hat die Ära Simons eine Reihe von schändlichen Justizmorden aufzuweisen; es genügt, an den Kölner Kommunistenprozess und an den Ladendorfschen Prozess zu erinnern. Aber nicht von diesen abscheulichen Gewalthabern sprechen wir, durch welche sich die Gegenrevolution befestigte, ebenso wenig wie wir von den ausnahmerechtlichen Bestimmungen des Sozialistengesetzes sprechen, durch die Bismarck sein wankendes Hausmeiertum stärkte. Wir sprechen von dem gemeinen Rechte, das der Kurs Manteuffel administrierte, wie wir von dem gemeinen Rechte sprechen, das der Zickzackkurs administriert. Und da ergibt sich, dass in den fünfziger Jahren auf Grund der strafgesetzlichen Kautschukparagraphen unendlich viel seltener politische Anklagen erhoben, und wenn sie erhoben wurden, unendlich viel gelindere Strafen verhängt wurden als heutzutage. Eine Gefängnisstrafe wegen Beleidigung, wegen Erregung von Hass und Verachtung usw. war damals schon ein Ereignis, und wenn auf sie erkannt wurde, so wurde sie nach Tagen und Wochen berechnet wie heute nach Monaten und Jahren.

Man wendet vielleicht ein: Ja, die bürgerliche Opposition der fünfziger Jahre war auch unendlich zahmer als die heutige proletarische Agitation. Das ist richtig, soweit es auf das Maß der Energie und Kraft ankommt, das in jener und dieser Opposition steckt, aber es ist falsch, soweit es auf die Ausdrucksweise und die Form der Opposition ankommt, womit es die Rechtsprechung allein zu tun hat. Dieselben Äußerungen, welche ein bürgerlicher Redakteur der fünfziger Jahre machen konnte, ohne dass ein Staatsanwalt seine Feder spitzte, bringen heute einen sozialdemokratischen Redakteur auf viele Monate ins Gefängnis. Wir erinnern nur an ein paar Fälle aus der jüngsten Vergangenheit: an den sozialdemokratischen Redakteur in Magdeburg, der wegen indirekter Majestätsbeleidigung verurteilt wurde, weil er eine Sauhatz kritisiert hatte, ohne mit einer Silbe anzudeuten oder auch nur einmal zu wissen, dass der Kaiser an dieser Sauhatz teilnehmen würde, und an den sozialdemokratischen Redakteur in München, der wegen groben Unfugs verurteilt wurde, weil er sich über Bismarck mit derselben Ungeniertheit ausgelassen hatte, mit welcher Bismarck sich über sozialdemokratische Redakteure auszulassen pflegt. Solche Anklagen hätte unter Manteuffel kein Staatsanwalt erhoben, und wenn ein Staatsanwalt sie erhoben hätte, so würde jeder Gerichtshof sie unwillig abgewiesen haben. Der Begriff der indirekten Majestätsbeleidigung und jene Handhabung des Groben-Unfug-Paragraphen gegen den klaren Sinn des Gesetzgebers, die heute im Deutschen Reiche gang und gäbe sind, waren völlig undenkbar und unmöglich in jenem Jahrzehnt, das die bürgerlichen Historiker als die trübste Zeit der preußischen Geschichte und namentlich der preußischen Justiz zu schildern pflegen.

Sagt man aber: Form hin und Form her, mag sich die sozialdemokratische Agitation so geschickt und vorsichtig verhalten, wie sie will, sie ist für die „heiligsten Güter" tausendmal gefährlicher als die bürgerliche Opposition der fünfziger Jahre, und deshalb müssen ihr die Gerichte ganz anders auf den Leib rücken, nun, so hat man allerdings die wirkliche Ursache der 227 Jahre Gefängnis angegeben, aber damit auch die nackteste Klassenjustiz zugestanden. Was die Logik beweist, bestätigt die Erfahrung. So wie Lassalle auftrat und wahrhaftig in der gebildetsten und sachlichsten Sprache seine Agitation begann, überstürzten sich die Staatsanwälte mit Anklagen gegen ihn, die es schwer machten zu sagen, was an ihnen mehr zu – bewundern war: die kindische Logik der Begründung oder die kannibalische Höhe der Strafen. Neun Monate Gefängnis, zwei Jahre Gefängnis, drei Jahre Zuchthaus; so ging es innerhalb eines Jahres in rascher Stufenfolge, und alles das, weil Lassalle im Interesse der arbeitenden Klassen eine friedliche und gesetzliche Agitation für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts begonnen hatte.

Die Gerichte waren nicht ganz so schnell zu haben, aber einen besonders langen Erziehungskursus brauchten sie umso weniger, als die Staatsgewalt ihnen tüchtig einheizte. Unter den Ruhmestiteln Bismarcks steht nicht an letzter Stelle die Tatsache, der ärgste Justizverderber gewesen zu sein, den Deutschland je gesehen hat. Indessen man kann auch hier von der subjektiven Schuld der einzelnen absehen. Das wachsende Feuer des proletarischen Klassenkampfes machte die bürgerliche Rechtspflege mürbe, wie sie die bürgerliche Klasse mürbe machte. In der liberalen Presse gehört es zum guten Tone, gelegentlich einen platonischen Protest gegen die missbräuchliche Anwendung des Groben-Unfug-Paragraphen und ähnliche Dinge einzulegen, besonders wenn sie selbst von solchen zweischneidigen Waffen bedroht wird. Noch mehr erhitzt sie sich über den selbst ihr einleuchtenden Verfall der bürgerlichen „Rechtspflege", den die an dem klassenbewussten Proletariat geübte Justiz unvermeidlich nach sich zieht, und sie ist bereit, an dem rissigen Bau herumzuflicken. Aber sie hütet sich, die Hand an die Wurzel des Übels zu legen. Wer das zu tun wagt, wird von ihr sofort denunziert als Hochverräter an der heiligen Majestät des „deutschen" und besonders des „preußischen Richterstandes". Sie weiß recht gut, weshalb sie trotz alledem diese Majestät heilig hält.

Als das heute zu riesigem Umfange ausgewachsene Übel noch in seinen verhältnismäßig bescheidenen Anfangsstadien war, im Jahre 1865, schrieb Franz Ziegler an einen ihm befreundeten Richter: „Dass niemand ad denunciandum gezwungen werden kann, dass eine reformatio in pejus ein Unsinn ist, dass ein Staatsgerichtshof eine Sternkammer, ein Kompetenzgerichtshof, den noch dazu der Staat besetzt, eine Auswischung jeder Rechtspflege, dass das Monopol der Anklage eine Unterwerfung der ganzen Nation als Klienten unter das Patronat der Regierung ist, das alles fühlt kaum noch die Masse des Volkes, so sehr ist sie in Grund und Boden hineinregiert. Ja, noch mehr! Selbst alle jüngeren Juristen finden darin gar keine Übelstände, weil sie den Unfug schon mitbekommen und gewohnheitsmäßig als etwas Natürliches und Selbstverständliches in sich aufgenommen haben." Was Ziegler von der „Masse des Volkes" sagte, das gilt heute noch von der bürgerlichen Klasse, und nicht minder treffend schilderte Ziegler den psychologischen Prozess, durch den die „jüngeren Juristen" dazu kommen, in gutem Glauben eine parteiische Rechtspflege auszuüben.

Das klassenbewusste Proletariat aber gehört nicht mehr zu der „Masse des Volkes", von der Ziegler schrieb. Es spürt am eigenen Leibe, welche Unsumme von gemordetem Menschenglück, von Elend und Hunger, von Not und Tod 227 Jahre Gefängnis bedeuten, verhängt in dem kurzen Zeitraum von drei Jahren. Aber es weiß auch, dass diese Menschenopfer unerhört, aber nicht ungesühnt im proletarischen Klassenkampfe fallen. Zehn Jahre nach Ziegler warnte eine andere Stimme in der liberalen Wüste, warnte Julius Duboc die „Ordnungspartei" vor „hassentbrannter Vergeltung" und fügte hinzu: „Der Schreck, den sie verbreitet, erblasst mit der Zeit, während gerade umgekehrt der Hass, den sie aussät, zunimmt und die unheilvollsten Gegenwirkungen in den Gemütern vorbereitet." So ist es, und die alte Fabel gilt immer noch: Aus der Saat von Drachenzähnen wachsen geharnischte Männer.

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