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Franz Mehring 18981123 Ausweisungen

Franz Mehring: Ausweisungen

23. November 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 289-292. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 259-263]

Zur selben Zeit, wo die so genannte Anarchistenkonferenz in Rom zusammentritt1, um über internationalen Maßregeln zu brüten, die das Attentatsfieber verkommener oder verzweifelter Individuen ausrotten sollen, gefällt sich die preußische Polizei in massenhaften Ausweisungen harmloser Ausländer, d. h. in Maßregeln, die, wenn ein Preis darauf gesetzt worden wäre, auf welche Weise ein hohes Maß zugleich von ökonomischer Zerrüttung und von psychologischer Verzweiflung künstlich herangezüchtet werden könne, unzweifelhaft diesen Preis gewinnen würden.

Es liegt uns natürlich sehr fern, irgendeinem der armen Ausgewiesenen eine Neigung zu Racheakten an seinen Quälern nachzusagen. Worauf wir nachdrücklich hinweisen wollen, ist nur die kurzsichtige Verblendung einer Politik, die immer neue Saaten des Hasses ausstreut, auf demselben internationalen Gebiete, auf dem die Anarchistenkonferenz die in die Halme geschossene Saat alten Hasses ausreuten will. Soweit es einen gemeingefährlichen Anarchismus gibt, ist er wahrhaftig nicht die Folge irgendeiner theoretischen Überzeugung, sondern ein Produkt der Rache. Diese Rache ist unsinnig, weil sie an Personen rächen will, was die unpersönlichen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise verschuldet haben, aber welchen staatsmännischen Tiefsinn bekundet es, wenn jetzt die preußische Polizei beweist, dass auch durch persönliches Belieben ganze Reihen von wirtschaftlichen Existenzen entwurzelt werden können.

Das offiziöse Hauptblatt sucht die Dänenausweisungen aus Nordschleswig damit zu entschuldigen, dass es sich nur um eine größere Zahl von Personen handle, die „an der die Sicherheit und den Frieden von Nordschleswig bedrohenden Agitation" teilgenommen und „in offener Empörung gegen die Landesregierung die Lostrennung von Preußen betrieben" hätten, die „Deutschen verwehren wollten", Deutsche zu sein. Diesen Elementen entgegenzutreten, sei eine Pflicht, deren Nichterfüllung ein Verbrechen der Regierung sein würde. So auch erklärte es der Erzbischof Firmian für ein „Verbrechen", wenn er die protestantischen Bewohner seines Landes nicht vertriebe, nur dass seine Auffassung vom Standpunkt seiner Zeit aus eine immerhin noch größere Berechtigung hatte, als die Auffassung des preußischen Regierungsblatts vom Standpunkt unserer Zeit aus hat. Ein Erzbischof, der im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sein Land von ketzerischen Gräueln rein erhalten wollte, ist historisch immerhin eine verständlichere Erscheinung als eine weltliche Regierung, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts arbeitsame und friedliche Leute massenhaft über die Grenze jagt, nur weil sie nicht zur deutschen Nationalität gehören.

Die Behauptung, dass die Ausgewiesenen „in offener Empörung gegen die Landesregierung die Lostrennung von Preußen betrieben" hätten, ist natürlich keinen Pfifferling wert. Denn dann hätten sie Hoch- und Landesverrat betrieben, gegen die es im deutschen Strafgesetz sehr deutliche und sehr schwere Paragraphen gibt, und die Regierung würde sich, um im offiziösen Stile zu sprechen, eines „Verbrechens" schuldig gemacht haben, wenn sie diese Paragraphen nicht angewandt hätte, sobald den Ausgewiesenen die „offene Empörung", um Nordschleswig von Preußen „loszutrennen", nachzuweisen war. Eine Regierung, der die Hoch- und Landesverratsprozesse so lose sitzen, wie der preußischen, ist dieses Verbrechens aber unfähig, und deshalb ist das offiziöse Gerede nichts als eine halt- und sinnlose Ausflucht; läge auch nur der Schatten eines Beweises dafür vor, dass auch nur einer der Ausgewiesenen irgendwie gegen die Gesetze des Landes verstoßen hätte, so würde ihm sofort der Prozess gemacht worden sein. Gerade die polizeiliche Ausweisung, für die keine Gründe angegeben zu werden brauchen, ist der schlagendste Beweis dafür, dass den Ausgewiesenen schlechterdings nichts Ungesetzliches nachgewiesen werden konnte. Sie werden für ihre Nationalität gestraft wie einst die protestantischen Salzburger für ihre Religion.

Was soll man nun gar zu der offiziösen Weisheit sagen, dass die Ausgewiesenen Deutschen hätten verwehren wollen, Deutsche zu sein? In ganz Nordschleswig leben etwa 130.000 Dänen, von denen noch nicht 30.000 die dänische Staatsangehörigkeit beibehalten haben; vor einer solchen Handvoll Leute zittert das großmächtige Reich! Dieses Gefühl der Angst würde unerklärlich sein, wenn es sich nicht allzu leicht aus dem Wesen des Polizeistocks erklärte, den sein böses Gewissen immer mit Schreckgespenstern ängstigt. Wie diese Gespenster zu bannen sind, hat die historische Erfahrung oft genug bewiesen; die befreiende Gesetzgebung der Französischen Revolution machte aus den Deutschen des Elsasses im Nu gute Franzosen, die sich der Polizeiapparat des neudeutschen Reichs seit einem Menschenalter vergebens abquält, wieder zu guten Deutschen zu machen, obgleich die Elsässer durch die bonapartistische Wirtschaft des zweiten Kaiserreichs inzwischen auch nicht gerade verwöhnt worden waren. Nun gar an der dänischen Grenze friedliche und ruhige Zustände zu schaffen, wäre eine kinderleichte Aufgabe, wenn der preußische Polizeistock eben aufhören könnte, er selbst zu sein. Ein großes Gemeinwesen hat so viel stärkere Anziehungspunkte als ein kleines, ganz besonders in dem großkapitalistischen Zeitalter, dass wirklich ein außergewöhnliches Maß von „staatsmännischem Genie" dazu gehört, die dänischen Sympathien in Nordschleswig nicht absterben, sondern anschwellen zu lassen.

Um diese Zustände zu ändern, müsste der Polizeistock zunächst selbst einmal abdanken, aber da ihm sein Leben viel zu lieb ist, um es freiwillig aufzugeben, so hilft er sich von Zeit zu Zeit durch Gewaltkuren nach dem Muster des Doktors Eisenbart. Er betäubt sich sozusagen durch narkotische Mittel, um die Schreckgespenster nicht mehr zu sehen, die ihn ängstigen, aber solche Mittel können nicht heilen, sondern nur noch mehr zerrütten, und nach dem augenblicklichen Rausche kommt ein desto graueres Elend, tauchen die Schreckgespenster desto drohender und desto – leibhaftiger auf.

Ein so erlauchter und komplizierter Krankheitsorganismus wie das preußische Regierungssystem erfordert tiefsinnige Diagnosen, und so möchten wir dahingestellt sein lassen, ob die neuerdings gegen sozialdemokratische Parteimitglieder beobachtete Ausweisungspraxis in einem inneren Zusammenhang mit den Massenausweisungen aus Nordschleswig steht. An sich erscheinen die dänischen Ausweisungen mehr als akute Fieberanfälle, während die sozialdemokratischen Ausweisungen mehr zum reaktionären Stockschnupfen zu rechnen sind. Jedoch lässt sich nicht leugnen, dass die preußische Polizeiverwaltung auch auf diesem niemals ganz verlassenen Gebiet ihrer rettenden Taten nach neuen Pfaden sucht. In Erfurt ist einem geborenen Bremer die Aufnahme in den preußischen Staatsverband wegen seinen „Vorbestrafungen" versagt, ebenda aus demselben Grunde ein geborener Weimarer ausgewiesen und durch Zwangsroute nach seinem Heimatorte befördert worden. Es handelt sich in beiden Fällen darum, politisch missliebige Persönlichkeiten unter ein vormärzliches, gegen schlechte Elemente der Gesellschaft erlassenes und übrigens mit dem klaren Wortlaut der Reichsverfassung unverträgliches Gesetz zu bringen. Bei dieser Ausweisungspraxis können nicht einmal scheinbar die offiziösen Redensarten von der Gefährdung des Reichs und so weiter angewandt werden, denn ob die gefürchteten „Umstürzler" in Erfurt oder Bremen oder Weimar leben, ist für die Reichssicherheit offenbar ganz gleichgültig. Hier scheint also als Zweck der Ausweisungspraxis die Schädigung von Personen um ihrer polizeiwidrigen Gesinnung willen so klar und unverhüllt hervorzutreten wie nur immer zur Zeit des kleinen Belagerungszustandes, aber vielleicht will die Erfurter Behörde auch nur dem zivilisierten Auslande, das sich über die Ausweisungen aus Nordschleswig nicht wenig skandalisiert, das beruhigende, weit erheiternde Schauspiel gewähren, dass sich die deutschen Staaten wie in den Zeiten der souveränen Kleinstaaterei ihre politischen „Verbrecher" ab- und zuschieben; der beschränkte Untertanenverstand kann schwer ergründen, welche staatsrettenden Gedanken ein preußischer Regierungspräsident in den Tiefen seiner männlichen Brust bewegt. Wohl aber ist zu wünschen, dass der demnächst zusammentretende Reichstag die kritische Sonde in die preußische Ausweisungspraxis senkt; ist doch die Reichstagstribüne der einzige Ort innerhalb der deutschen Grenzen, wo das Urteil der zivilisierten Welt darüber ungeschminkt widerhallen kann.

Dabei hat auch gleich das Zentrum eine sehr günstige Gelegenheit, als „maßgebende Partei" seine Leistungsfähigkeit zu beweisen. Bei einem früheren Ausweisungsparoxysmus der preußischen Polizei, der sich im Jahre 1885 gegen die Polen richtete, wie jetzt gegen die Dänen, bestritt Bismarck die Zuständigkeit des Reichstags in der Ausweisungsfrage. Als am 1. Dezember 1885 im Reichstag eine Interpellation über die „Ausweisungen aus den östlichen Provinzen des preußischen Staates" verhandelt werden sollte, die von zahlreichen Mitgliedern des Zentrums und daneben von polnischen, freisinnigen und sozialdemokratischen Abgeordneten unterzeichnet worden war, brachte Bismarck eine kaiserliche Botschaft ein, worin feierlich gegen die Rechtsauffassung protestiert wurde, „als ob in Deutschland eine Reichsregierung bestände, die verfassungsmäßig in der Lage wäre, Schritte zu tun, um die Durchführung von Maßregeln zu hindern, welche von Uns in Unserem Königreich Preußen bezüglich der Ausweisung ausländischer Untertanen angeordnet worden sind". Es hieß dann noch weiter: „Es gibt keine Reichsregierung, welche berufen wäre, unter der Kontrolle des Reichstags, wie sie durch jene Interpellation versucht wird, die Aufsicht über die Landeshoheitsrechte der einzelnen Bundesstaaten zu üben, soweit das Recht dazu nicht ausdrücklich dem Reiche übertragen worden ist." Nun hat allerdings Artikel 4 der Reichsverfassung die Fremdenpolizei, in deren Bereich die Ausweisungen fallen, der Beaufsichtigung und der Gesetzgebung des Reiches, mithin auch der Zuständigkeit des Reichstags unterstellt, indessen auf solche Kleinigkeiten, wie Reichsverfassungsvorschriften, kam es dem braven Bismarck nicht weiter an, wenn er irgendeinen lärmenden Spektakel anzurichten für gut befand. Es gelang ihm damals auch, die bürgerlichen Parteien einzuschüchtern, so dass nur die Sozialdemokratische Partei auf dem Plane blieb, mit einem Antrag, der unter Berufung auf Artikel 4 der Reichsverfassung den Reichskanzler aufforderte, dafür zu sorgen, dass die Ausweisungen als eine „die Interessen und die Ehre des deutschen Volkes gleich schwer schädigende Maßregel alsbald rückgängig gemacht" würden.

Dass die Sozialdemokratische Partei jetzt nicht minder kräftig auf dem Plane sein wird, versteht sich am Rande. Gespannter kann man darauf sein, wie die bürgerlichen Parteien das für ihre zarten Hände immerhin glühende Eisen der polizeilichen Ausweisungspraxis anfassen werden.

1 Die Attentate vor allem der 80er und 90er Jahre auf mehrere europäische Staatsoberhäupter waren Anlass zur Anregung internationaler Maßregeln der Regierungen gegen den „Anarchismus"; mit ihnen sollte der wachsenden Arbeiterbewegung begegnet werden. 1898 (Beginn 24. November) berieten auf Einladung der italienischen Regierung unter Vorsitz des italienischen Ministers des Auswärtigen, Cassevoro, Vertreter mehrerer europäischer Regierungen in Rom über gemeinsame Maßnahmen, nachdem bereits in den hauptsächlichsten europäischen Staaten besondere Strafgesetze oder Verschärfung von Strafgesetzen (Sprengstoff- und Pressegesetze) bestanden, z. B. das deutsche Dynamitgesetz von 1894. Erst 1894 enthielt das französische Gesetz wenigstens das Wort „Anarchismus". Alle anderen Gesetze waren ganz allgemein gegen jede Art „Aufruhr", „Verhetzung" und „Gewaltanwendung" — was bedeutete gegen die Sozialdemokratie – gerichtet. Die Beratungen in Rom verliefen 1898 ohne Ergebnis.

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