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Franz Mehring 18981005 Bürgerliche Geschichtsklitterung

Franz Mehring: Bürgerliche Geschichtsklitterung

5. Oktober 1898

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 231, 5. Oktober 1898. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 251-253]

Die „Vossische Zeitung" regt sich über „sozialdemokratische Geschichtsklitterung" auf, weil ein Parteiblatt in einem dem Stuttgarter Parteitage gewidmeten Begrüßungsartikel einen Rückblick auf den Stuttgarter Parteikongress von 1870 geworfen und dabei den Deutsch-Französischen Krieg in einer für bürgerliche Einbildungen peinlichen Weise erwähnt hat. Die alte gute Tante „wagt zu bezweifeln", dass die Fabel, die Emser Depesche sei eine Fälschung und die wirkliche Ursache des Krieges von 1870, auch nur bei der Mehrzahl der deutschen Sozialdemokratie noch Glauben finde.

Das freisinnige Blatt wirft zunächst zwei Dinge zusammen, die nicht notwendig zusammengehören. Die Fälschung der Emser Depesche ist eine Tatsache, die als solche über jeden Zweifel erhaben ist. Es steht bei niemandem, sie durch seinen „Glauben" aus der Welt zu schaffen oder in der Welt zu belassen; nichts ist vielmehr gleichgültiger, als ob dieser daran „glauben" oder jener nicht daran „glauben" will; es handelt sich einfach darum, ob eine historisch unanfechtbare Tatsache anerkannt oder weg gelogen werden soll, und da die Sozialdemokratie die Gewohnheit hat, die historische Wahrheit zu achten, so wird die „Vossische Zeitung" auch nicht einen Sozialdemokraten finden, der die Fälschung der Emser Depesche anzweifelt.

Wenn sich die „Vossische Zeitung" auf die „amtlichen und aktenmäßigen Mitteilungen" beruft, „die Graf Caprivi im Reichstage gemacht hat", so ist gerade durch diese Mitteilungen die Fälschung der Emser Depesche „amtlich und aktenmäßig" erwiesen worden. Bei dem damaligen Streit sagte die „Vossische Zeitung", nunmehr sei allerdings dargetan, dass Bismarck durch die Redaktion der Emser Depesche den König Wilhelm genau das Gegenteil dessen habe sagen lassen, was der König habe sagen wollen. Wir hoben uns dies verständige Urteil auf als einen immerhin seltenen Beweis dafür, dass unter Umständen sogar ein Berliner Philisterblatt der historischen Wahrheit die Ehre geben könne. Beliebt es jetzt der „Vossischen Zeitung", das Gegenteil ihrer damaligen Behauptung mit einer Emphase zu bekunden, als sei jeder Zweifel daran schon ein Hochverrat und ein Majestätsverbrechen, so wird damit nur ein neuer Beweis für die alte Tatsache geliefert, dass die historische Wahrheit den bürgerlichen Geschichtsklitterern als wächserne Nase gilt, die bald so, bald so gedreht werden kann.

Anders steht es um die Frage, ob die Fälschung der Emser Depesche die wirkliche Ursache des Deutsch-Französischen Krieges gewesen sei. Das ist keine Tatsachen-, sondern eine Urteilsfrage, über die es möglicherweise verschiedene Meinungen in der Sozialdemokratie geben mag. Würde die „Vossische Zeitung" sich darauf beschränken zu sagen, dass auch ohne die Fälschung der Emser Depesche der Krieg ausgebrochen wäre, so ließe sich darüber gewiss reden. Allein das Blatt verfällt auf den skurrilen Einfall, den historischen Verlauf der Dinge so darzustellen, als ob die bismärckische Politik das reine Unschuldslamm und Bonaparte der böse Wolf gewesen sei, der wie der Wolf in der Fabel das Lämmlein ganz zu Unrecht beschuldigt habe, das Wasser getrübt zu haben. So lagen die Dinge denn nun freilich nicht, und wir glauben der „Vossischen Zeitung" die Versicherung geben zu können, dass sie für diese abgeschmackte Mär auch nicht einen Gläubigen in der deutschen Sozialdemokratie finden wird.

Bonaparte und Bismarck waren Wölfe ganz desselben historischen Kalibers, und die Untersuchung, wer von beiden weniger Wolf gewesen sei, würde menschlichen Scharfsinn auf eine überaus schwere Probe stellen. Die „Vossische Zeitung" erleichtert sich die Entscheidung freilich sehr, indem sie die Sünden Bonapartes haarklein aufzählt und die Sünden Bismarcks einfach verschweigt. Sie macht ein gewaltiges Aufheben davon, dass Bonaparte bemüht gewesen sei, sich mit Österreich zum Kriege gegen den Norddeutschen Bund zu verbinden, aber sie weiß kein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, dass Bismarck mit der spanischen Thronkandidatur des Hohenzollern seinen Mitwolf an der Seine in eine Falle gelockt hat. Die spanische Thronkandidatur war durch kein deutsches Interesse geboten, im Gegenteil widerstritt sie den deutschen Interessen; sie war einfach ein frivoles Mittel einer frivolen Diplomatie, um einen blutigen Völkerkrieg zu entzünden, sie war genauso verächtlich und verwerflich, wie alles, was Bonaparte an verächtlichen und verwerflichen Intrigen gegen Deutschland angesponnen haben mag. Und sie wurde wahrhaftig nicht schöner durch die dreiste Stirn, womit Bismarck nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges in einer Reihe von offiziellen Kundgebungen zu lügen für gut befand, er habe von der spanischen Thronkandidatur nichts gewusst. Überboten wird diese Wahrheitsliebe allerdings beinahe noch von der Wahrheitsliebe der „Vossischen Zeitung", die auch jetzt noch, nachdem die historischen Tatsachen längst bekannt und gerade auch von bismärckischer Seite anerkannt sind, von einem „notwendigen unvermeidlichen Volkskriege" zu sprechen wagt, „zu dem die deutschen Stämme gezwungen" worden seien.

Hätte das „Volk" im Sommer 1870 an der Seine und an der Spree regiert, so wäre es zu keinem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich gekommen. Weder ein Lebensinteresse der deutschen noch ein Lebensinteresse der französischen Nation gebot diesen Krieg, vielmehr verboten ihn alle Lebensinteressen dieser beiden großen Kulturvölker und dazu auch alle europäischen Kulturinteressen. Der Krieg wurde unvermeidlich, weil die Bourgeoisie an der Spree wie an der Seine, aus Angst vor dem „Volke", die Macht in die Hände der Bonaparte und der Bismarcke gespielt hatte, die nach den historischen Bedingungen ihrer Existenzmöglichkeit in den Krieg getrieben wurden und auch getrieben werden mussten. Das mag man ihnen sozusagen zur Entschuldigung anrechnen, ebenso wie man auch etwa sagen kann: Diplomatische Gaunereien sind einmal die Waffen solcher Leute, und man darf sich nicht wundern, dass sie sich ihrer Waffen bedienen. Wollte die „Vossische Zeitung" in dieser Weise die Fälschung der Emser Depesche entschuldigen, so bliebe sie bei ihrem Leisten, aber sie soll nur nicht Bismarck als weißen Engel und Bonaparte als schwarzen Teufel hinstellen, oder von der Gerechtigkeit eines „Volkskrieges" reden, wenn sie von einem Kriege spricht, den zwei Schwarzkünstler vom Schlage Bismarcks und Bonapartes entzündet haben. Das ist bürgerliche Geschichtsklitterung der verächtlichsten Art.

Aber erklärlich ist diese Geschichtsklitterung immerhin. Hätte die deutsche Bourgeoisie die deutsche Einheit auf revolutionärem Wege gemacht, wie es ihre historische Pflicht und ihr historisches Recht war, dann wäre es nie zu einem Deutsch-Französischen Kriege gekommen. Allein da die deutsche Bourgeoisie es vorzog, aus Sorge um ihren ausbeuterischen Profit, politisch an die absolutistischen Bajonette abzudanken, so war die deutsche Einheit nur durch das Blut und Eisen europäischer Kriege, nur in den dürftigen und verkrüppelten Formen möglich, worin sie durch den Junker Bismarck verwirklicht worden ist. Diese historische Notwendigkeit hat die Sozialdemokratie längst begriffen; sie war ihr schon während des Deutsch-Französischen Krieges selbst klar, und gerade deshalb bemühten sich die deutschen Arbeiter, mindestens den verhängnisvollen Eroberungskrieg nach Sedan zu hindern, in den die Bourgeoisie, verblendet wie immer, nicht genug zu hetzen wusste. Aber begreifen heißt noch nicht bewundern, und die „Vossische Zeitung" ist auf einem ganz verzweifelten Holzwege, wenn sie mit ihrer Geschichtsklitterung „bis weit ins Lager der Sozialdemokratie" Proselyten zu machen hofft.

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