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Franz Mehring 18980413 Der erste Wahlaufruf

Franz Mehring: Der erste Wahlaufruf

13. April 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 223-226]

Die Sozialdemokratie ist von allen Parteien zuerst mit einem Wahlaufruf auf dem Plane erschienen, wie sie denn auch mit Fug von sich rühmen darf, dass ihre Wahlvorbereitungen am weitesten gediehen und am sorgfältigsten getroffen worden sind. Das soll durchaus nicht in einem prahlenden Sinne gesagt sein; so zu handeln heischt die gebieterische Pflicht und das dringendste Lebensinteresse der Partei. Je geringer die Machtmittel sind, über die sie im Vergleich mit den bürgerlichen Parteien verfügt, um so sorgsamer muss sie diese Mittel ausnutzen, um so mehr durch Energie, Rührigkeit und Umsicht zu ersetzen suchen, was ihr fehlt.

Und damit nicht genug, so steht für die Sozialdemokratische Partei bei den Wahlen auch mehr auf dem Spiele als für jede andere Partei. Der sozialdemokratische Wahlaufruf lässt sich darüber mit aller wünschenswerten Deutlichkeit und Klarheit aus. Das allgemeine Wahlrecht, das Koalitionsrecht, das Vereins- und Versammlungsrecht, soviel von diesen Rechten überhaupt noch vorhanden ist, sind schwer gefährdet, wenn eine Mehrheit in den Reichstag gelangt, die damit aufräumen kann und will. Und sowohl das Können wie das Wollen reicht bei allen bürgerlichen Parteien sehr weit. Von Grundsätzen lässt sich keine bürgerliche Partei binden, wenn es ihren Vorteil gilt, und wie gern jede von ihnen dem klassenbewussten Proletariat einen Genickfang versetzt, das haben die Tage des Sozialistengesetzes zur Genüge gezeigt. Es sind sehr verschiedene Kombinationen denkbar, unter denen es den wenigen Volksrechten an den Kragen gehen kann, aber es gibt, soweit es sich um die bürgerlichen Klassen allein handelt, keine Kombination, die eine unbedingte Sicherheit gegen erfolgreiche Attentate auf das allgemeine Wahlrecht und die anderen Rechte des Proletariats böte. Die Arbeiterklasse ist auf ihre eigene Kraft angewiesen, und sie muss diese Kraft bei den nächsten Wahlen bis zum letzten Hauch anspannen.

Sie muss es umso mehr, als aus oft erörterten Gründen die Wahlaussichten für die Regierung günstiger stehen, als sie von Rechts wegen stehen sollten. Die traurige Haltung der bürgerlichen Opposition in den letzten Monaten und namentlich die Verräterei des Zentrums, die der sozialdemokratische Wahlaufruf gebührend brandmarkt, eröffnen keine erfreulichen Ausblicke. Sich darüber zu täuschen, hat keinen Zweck. Stehen die Dinge nicht so schlimm, als sie aussehen, verläuft namentlich die heftige Gärung unter den Zentrumswählern nicht im Sande, so wird es umso besser sein. Aber mit Sicherheit lässt sich darauf nicht rechnen, und wer einen ernsten Kampf ausficht, wird immer gut daran tun, die Chancen des Erfolges mit kühlster Nüchternheit abzuwägen. Unangenehme Überraschungen schaden immer, während angenehme Überraschungen stets zur rechten Zeit kommen.

Die „Freunde" der arbeitenden Klassen, die es auch in der bürgerlichen Welt gibt, haben von jeher und besonders lebhaft in den letzten Monaten darüber geklagt, dass die Sozialdemokratie durch ihre schroffe Sonderung von der bürgerlichen Opposition das Spiel der Reaktion erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht habe. Für jeden, der die deutsche Geschichte seit den Märztagen kennt, kann diese ganze Argumentation keinen höheren Rang beanspruchen als etwa den Rang einer faulen Ausrede. War die Organisation des klassenbewussten Proletariats mit der Entwicklung der deutschen Großindustrie überhaupt zu einer historischen Notwendigkeit geworden, so gab den unmittelbaren Anstoß zur Entstehung der deutschen Sozialdemokratie gerade die Tatsache, dass die deutsche Bourgeoisie mit der absolutistisch-feudalen Reaktion nicht fertig zu werden verstand. Davon beißt kein Mäuslein einen Faden ab, mögen die bürgerlichen Geschichtsklitterer der verschiedenen Richtungen noch so feierlich und noch so häufig versichern, dass ohne den Abfall des Proletariats von der kläglichen Politik der Bourgeoisie der bürgerliche Parlamentarismus gesiegt haben würde. Das ist schon deshalb handgreiflich unwahr, weil das Proletariat sowohl in den Revolutions- als auch in den Konfliktsjahren, also in den beiden einzigen Perioden, in denen die Bourgeoisie einen nennenswerten Anlauf nahm, um mit dem Absolutismus und dem Feudalismus abzurechnen, erstens viel zu schwach organisiert war, um ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale werfen zu können, und zweitens, soweit es organisiert war, sich unweigerlich zur Verfügung der Bourgeoisie stellte, sobald diese ernsthaft zu kämpfen versuchte.

Nicht weil das Proletariat die Bourgeoisie, sondern umgekehrt, weil die Bourgeoisie das Proletariat wieder und wieder im Stiche gelassen hat, ist das Spiel der Reaktion erleichtert, ist es ermöglicht worden, dass die Puttkamer, Koller, Recke, Posadowsky noch immer das Heft in Händen haben. Deshalb ist es auch töricht, wenn in bürgerlichen Blättern höhnisch gefragt wird, was denn die Sozialdemokratie mehr erreicht habe als der bürgerliche Liberalismus, oder wenn behauptet wird, gerade durch die sozialdemokratische Agitation seien die Puttkamer, Koller, Recke, Posadowsky am Ruder erhalten worden. Das ist nur deshalb und nur insoweit wahr, als die Bourgeoisie zu unzähligen Malen ins absolutistische und feudalistische Lager übergelaufen ist, um dem klassenbewussten Proletariat in den Rücken zu fallen. Wer sich aber einbildet, dass ohne die Entstehung der Sozialdemokratie der bürgerliche Parlamentarismus gesiegt haben würde, hat alle Anwartschaft darauf, in der Redaktion der „Freisinnigen Zeitung" als historischer Ehrengreis einen Ehrenplatz zu erhalten.

Mit Wenn und Aber lässt sich in der Politik nichts ausrichten, und so mag die Frage auf sich beruhen bleiben, ob es für die deutsche Entwicklung besser gewesen wäre, wenn die deutsche Bourgeoisie sich tapferer gegen ihre historischen Vorder- und loyaler gegen ihre historischen Hintermänner erwiesen hätte. Es hat nicht sollen sein, und die Sozialdemokratie muss die Lage annehmen, wie sie ist. Sie kann die bürgerlichen Freiheiten und Rechte nicht besser schützen, als indem sie ihre prinzipienklare und prinzipientreue Politik scharf sondert von dem bürgerlichen Parteimischmasch. Nur dadurch ist sie groß geworden, und nur dadurch hat sie die Macht gewonnen, die Rechte der Massen wirksam zu schützen. Um der Gröber und Spahn, um der Barth und Rickert, um der Eugen Richter und Max Hirsch willen brauchen sich die Puttkamer und Koller und Recke nicht zu genieren, wenn sie das allgemeine Wahlrecht abmurksen wollen. Sowohl deshalb nicht, weil das allgemeine Wahlrecht in der bürgerlichen Opposition nur „laue Freunde" besitzt, wie der sozialdemokratische Wahlaufruf mit Recht sagt, als auch deshalb nicht, weil die bürgerliche Opposition im günstigsten Falle lahme Proteste erlassen und sich übrigens in die böse Zeit schicken würde. Dagegen besinnt sich der verbissenste Reaktionär zehnmal, ehe er die Hand an ein Volksrecht legt, hinter dem ein paar Millionen deutscher Arbeiter mit festem und klarem Entschluss stehen.

Je mehr sozialdemokratische Stimmen bei den nächsten Wahlen abgegeben werden, umso stärker sind die paar Volksrechte geschützt, die es im Deutschen Reiche noch gibt. Das ist so sicher wie das Einmaleins und wird durch den ganzen Verlauf der drei letzten Jahrzehnte bestätigt, trotz allen Geschreis der liberalen Staatsmänner, die sich heute noch, wie schon zu Lassalles Zeiten, einbilden, dass man die Schläge der Reaktion am sichersten mit der Hinterseite pariere. Gerade wenn die bevorstehenden Wahlen ein Nachlassen der sozialdemokratischen Agitation oder eine Abspannung ihrer revolutionären Seiten bekunden würden, gerade dann wären die letzten Volksrechte schwer gefährdet. Man mag die Puttkamer und Koller und Recke und Posadowsky für noch so beschränkt halten, und wir halten sie gewiss für keine Genies; so beschränkt sind sie doch nicht, um sich jetzt noch über den Charakter der modernen Arbeiterbewegung zu täuschen, um sich einzubilden, dass sie mit ihr je in aller Gemütlichkeit hausen könnten. Ihre bösen Absichten werden nicht von Einbildungen und Hoffnungen, sondern allein von der Angst gebändigt; nur solange sie die Kraft und den Trotz des klassenbewussten Proletariats fürchten, sind diese Schädlinge unschädlich zu machen. Sobald der Bändiger das erste Zeichen von Schwäche verrät, springt das Raubtier zu.

Noch unter einem anderen entscheidenden Gesichtspunkt ist die prinzipienklarste und prinzipientreueste Politik immer die erfolgreichste Politik für die Sozialdemokratie. Bei all ihrem schnellen Wachstum hat sie noch lange nicht die Mehrheit der Reichstagswähler um ihr Banner geschart, und wären alle ihre Gegner zu einem gemeinsamen Vorstoß gegen sie unter einem Hute zu sammeln, so müsste sie ihre Sache einstweilen als verloren aufgeben. Bekanntlich hat aber die „Politik der Sammlung", selbst wenn sie ein so pfiffiger Politikus wie Herr Miquel betreibt, ihren besonderen Haken, und heute schon klagt manch sozialistentöterisches Blatt, dass die bürgerlichen Parteien, je mehr sie „gesammelt" würden, um so heftiger und konfuser auseinander liefen. Das ist auch ganz natürlich und hängt untrennbar mit der Entwicklung der Sozialdemokratie zusammen. Eine starke Arbeiterpartei ist undenkbar ohne eine weit vorgeschrittene Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, und eine solche Zersetzung ist undenkbar ohne eine entsprechende Zersetzung der bürgerlichen Parteien, die sich mit den feurigsten Aufrufen an Gesetz- und Ordnungsliebe, an Königstum und Vaterlandsliebe nicht „sammeln" lässt. Es ist so, als ob die Atome der Verwesung gegen die Keime des Lebens „gesammelt" werden sollten. Je heftiger die einzelnen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft in dem unaufhaltsamen Niedergang dieser Gesellschaft um ihr Dasein ringen, je rücksichtsloser sie, um nur selbst oben zu bleiben, den Freund und Nachbar in den Abgrund stoßen müssen, um so hoffnungsloser ist der Versuch, sie zu „sammeln". Ein Heer, durch dessen Reihen der Schreckensruf läuft: Rette sich wer kann! „sammelt" kein Gott und kein Teufel mehr.

Dieser hoffnungslose Wirrwarr der herrschenden Klassen ist der große Vorteil, den die Sozialdemokratie nur gehörig auszunützen braucht, um die Minderheit auszugleichen, worin sie sich, im Vergleich mit der Masse der bürgerlichen Parteien, immer noch befindet. Die Kriegsgeschichte aller Zeiten beweist, was eine in sich geschlossene, bewegliche, tapfere, wenn auch numerisch schwächere Truppe zu leisten vermag im Kampfe mit einem numerisch stärkeren, aber von innerem Hader zerrissenen, schwerfälligen und hasenherzigen Koalitionsheere. Diese Gunst der Umstände wird die Sozialdemokratie umso gründlicher ausnutzen, je fester sie ihre Reihen zusammenschließt und je klarer sie sich über ihre Ziele ist. Wohl geht der Hauptsturmlauf der nächsten Wahlen gegen das Junkertum und was mit ihm zusammenhängt, daran lässt auch der sozialdemokratische Wahlaufruf keinen Zweifel. Aber daraus folgt nicht, dass sich die Sozialdemokratie in den bürgerlichen Oppositionsbrei aufzulösen hat, sondern umgekehrt, dass sich diejenigen Elemente der bürgerlichen Opposition, die alte Sünden noch in der zwölften Stunde gutmachen wollen, um das Banner der Sozialdemokratie zu scharen haben, um dies Banner, das sich seit dreißig Jahren den Ehrenplatz errungen hat im Vorkampfe gegen den Kapitalismus und den Militarismus und alles, was die Massen hudelt und büttelt.

Worauf es bei den bevorstehenden Reichstagswahlen ankommt, das setzt der sozialdemokratische Wahlaufruf klar und treffend auseinander. Dieser Same, gestreut in die empfänglichen Gemüter des Proletariats, wird bis zum Wahltage tausendfältige Frucht tragen, und dann hat die Reaktion doch ihr Spiel verloren, so trutzig sie sich immer gebärden mag.

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