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Franz Mehring 18981221 Der Fall Delbrück

Franz Mehring: Der Fall Delbrück

21. Dezember 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 272-276]

Das königlich-preußische Staatsministerium hat es für angenehm und nützlich erachtet, die politische Stille der Weihnachtszeit durch eine Haupt- und Staatsaktion zu beleben. Es hat feierlich beschlossen und diesen Beschluss ebenso feierlich im „Reichs- und Staatsanzeiger" verkündet, gegen den ordentlichen Professor an der hiesigen Universität, Herrn Hans Delbrück, die Disziplinaruntersuchung einzuleiten, weil er in den von ihm herausgegebenen „Preußischen Jahrbüchern" die Ausweisungen in Nordschleswig scharf getadelt hat.

Da man auch seinen Gegnern gerecht werden muss, so lässt sich nicht bestreiten, dass der angefochtene Artikel Delbrücks wohl geeignet ist, allen preußischen Staatsperücken die Haare zu sträuben. Es heißt darin, dass die Ausweisungen in Schleswig zum Himmel schrien. Die Untaten der Dänen an dem verratenen Bruderstamm seien ein Kinderspiel gegen die Gewaltsamkeit, womit heute jene Landschaften regiert würden. Und noch schlimmer als die Brutalität, die uns zum Abscheu der gebildeten Welt mache, sei die Verblendung, die mit solchen Mitteln im Kampfe der Nationalitäten dauernde Erfolge erzielen zu können glaube. Es sei mit der nationalen Gesinnung wie mit der Religion; hinter den wahrhaft Frommen erhöben sich sofort die gräulichen Pfaffen, Ketzerriecher und Inquisitionsrichter, um im Namen des Heiligen ihre Schändlichkeiten zu verüben. So habe auch die nationale Gesinnung bei uns hier und dort einen nationalen Fanatismus erzeugt, der wild und verstockt glaube, die Gesetze der Menschlichkeit mit Füßen treten zu können, und dem nationalen Gedanken, dem er zu dienen vermeine, unverwindlichen Schaden zufüge.

Das ist scharf genug, aber wer wollte behaupten, dass es schärfer sei als wahr? Wer, als etwa jene servile Gesellschaft in den „Hamburger Nachrichten" oder den „Berliner Neuesten Nachrichten" oder anderen Blättern bismärckischer Couleur, die Herrn Delbrück sofort nach seiner dankenswerten Kritik der Köller-Taten als reif für die disziplinarische Abschlachtung denunzierten? Wenn der Oberpräsident von Schleswig-Holstein harmlose Knechte und Mägde ins Elend stößt, nicht weil sie etwas, auch nur nach preußischen Polizeibegriffen, Polizeiwidriges getan haben, sondern, nach seinem eigenen Geständnis, um ihre des Verdachts verdächtigen „Arbeitgeber", denen er sonst nicht an den Leib kann, dadurch zu strafen, so ist es die nackte Wahrheit zu sagen, dass solche Misshandlungen der schleswig-holsteinischen Bevölkerung selbst in den Zeiten der dänischen Oberherrschaft nicht vorgekommen seien. Es gab denn auch einige gutmütige Leute, die da meinten, dass Kollers Ausweisungspraxis dem Ministerium der „vollendeten Rechtsgarantien", einem Ministerium, worin der „liberale Staatsmann" v. Miquel und der „Geistesritter" Bosse sitzen, ein wenig wider den Strich gegangen sei, und freisinnige Blätter behaupteten, dass Koller wegen seiner Ausweisungen gerüffelt werden würde, aber sofort erfolgte in dem offiziösen Hauptblatt ein Dementi, und nun setzt das Gesamtministerium durch die Maßregelung Delbrücks noch einen pompösen Trumpf darauf.

Es mag ihm umso leichter geworden sein, als Delbrück längst mancherlei auf dem Kerbholz hatte. Er gehört in der Politik wie in der Wissenschaft nicht zu den Eigenbrötlern, aber zu den Eingängern; es hieße ihm entschiedenes Unrecht tun, wenn man ihn zu jenen Originalen rechnen wollte, die Goethe einmal Narren auf eigene Hand nannte, aber ein wirklich originaler Kopf ist er doch auch nicht, und selbst nicht einmal ein konsequenter Denker. Er brodelt nicht, wie M. v. Egidy und ähnliche Geister, die man wohl Eigenbrötler nennen mag, in einem Brei von Phrasen herum, aber der eigene Weg, den er geht, ist ein Kreuz und Quer zwischen Vorwärts und Rückwärts, je nachdem er zu ehrlich ist, um ins Horn der Reaktion zu stoßen, und zu unklar, um zu erkennen, wohin der Strom der historischen Entwicklung drängt.

Als Historiker hat es Delbrück mit den beiden Richtungen verdorben, die sich auf dem Gebiet der bürgerlichen Geschichtsschreibung balgen, sowohl mit den „politischen Historikern" nach dem Muster Treitschkes, die den Heroenkultus in hohenzollernscher Talmifassung betreiben, als auch mit den „Wirtschaftshistorikern" nach dem Muster Lamprechts, die den historischen Materialismus wohl annehmen möchten, vorausgesetzt, dass sie ihm alle Spitzen und Stacheln ausziehen könnten. Es gereicht ihm aber durchaus nicht zur Unehre, wenn ihn die um Treitschke wie die um Lamprecht in holder Gemeinschaft mit einem von Treitschke höchst eigenhändig erfundenen Spitznamen „Hans Taps" nennen; er ist allerdings „tapsig" genug gewesen, den einen wie den anderen unangenehme, aber wahre Dinge zu sagen. Seine eigenen historischen Leistungen sind keineswegs so unbedeutend, wie die von ihm verletzten Kameradschaften sie machen möchten; namentlich auf kriegsgeschichtlichem Gebiet hat er manches von bleibendem Werte veröffentlicht, so ein Leben Gneisenaus, eingehende Untersuchungen der friderizianischen Kriegführung und anderes, das mit der preußischen Legende in mancher Richtung nicht übel umspringt; nach anderer Richtung freilich steckt Delbrück selbst noch bis über die Ohren in dieser Legende.

Politisch gehörte Delbrück früher der Konservativen Partei an, hat sich aber auch von ihr in mehr als einer Beziehung zu emanzipieren gewusst. In allen Militär- und Marinefragen gehört er zu den Strammsten der Strammen, auch hielt er es für ganz gerecht, dass durch die Getreidezölle, die Liebesgaben für Branntweinbrenner und Zuckersieder oder sonstige Maßregeln „praktischer Sozialreform" alljährlich viele Dutzende von Millionen aus den Taschen des Volkes geholt werden, um einige tausend Junkerfamilien künstlich am Leben zu erhalten; ja er war einer von den drei Abgeordneten, die es vor zehn Jahren fertig brachten, im Reichstag für Bismarcks Schnapsmonopol zu stimmen. Immerhin aber geht ihm das allzu unverschämte Treiben der Junker doch etwas gegen sein bürgerliches Gemüt, und so hat er als richtiger Eingänger die Parole ausgegeben: Für den Reichstag muss rechts, dagegen für den Landtag links gewählt werden. In einem Punkte aber hat Delbrück seit Jahren eine ehrliche, entschlossene und klare Opposition gemacht, und zwar gegen die Misshandlungen fremder Nationalitäten durch den deutschen Chauvinismus. Er kann es sich ruhig gefallen lassen, dass Treitschke die „Preußischen Jahrbücher" wegen Delbrücks Polenpolitik als „Polnische Jahrbücher" verhöhnt hat: Der abgeschmackte Kalauer trifft nur seinen eigenen Urheber. Der Kampf, den Delbrück gegen die Misshandlungen der Polen und jetzt auch der Dänen durch die preußische Regierung geführt hat, war unter jedem Gesichtspunkt ein gerechter und tapferer Kampf, speziell auch vom Standpunkt des Historikers aus. Denn jeder Historiker, der nicht gänzlich von blindem Fanatismus verblödet ist, muss sich darüber klar sein, was mit solchen Gewaltmitteln ausgerichtet wird, wie sie Koller in Nordschleswig handhabt.

Aber eben weil dieser Kampf Delbrücks ein gerechter Kampf war und als solcher die Sympathien aller anständigen Politiker für sich hatte, verfällt er dem Schwerte der preußischen Justiz. Darüber verwundern wir uns nicht, wenngleich es für Delbrück selbst vielleicht verwunderlich gewesen ist. Vor noch nicht zwei Jahren, im Februar 1897, fragte er in seinen „Preußischen Jahrbüchern": „Sollte sich wirklich je ein preußischer Kultusminister finden, der es versucht, die wissenschaftliche oder politische Freiheit der Professoren einzuschränken?" Darauf erwiderten wir an dieser Stelle – siehe Jahrg. XV, 1, Seite 759 – : „Herr Delbrück weiß natürlich so gut wie wir es wissen, dass sobald die ‚wissenschaftliche oder politische Freiheit' der Professoren die Interessen der herrschenden Klassen irgendwie ernsthaft zu gefährden droht, kein preußischer Kultusminister je gezögert hat, mit dem Knüttel dazwischenzufahren." Gegenüber einer so hartnäckigen Illusionsfähigkeit, wie sie jener Satz Delbrücks verriet, haben wir uns etwas grob ausgedrückt, und den Zweifel an seinem guten Glauben nehmen wir heute, wo sein eigenes Schicksal unsere richtige Erkenntnis des historischen Preußentums bestätigt, gern zurück; wenn er damals als preußischer Historiker noch blind war, so ist ihm ja jetzt der Star gründlich gestochen.

Wollte nun aber das hohe Staatsministerium gegen den Publizisten Delbrück vorgehen, so war der nächste Weg eigentlich, den Staatsanwalt mobil zu machen. Wenigstens war es der nach preußischer Überlieferung am nächsten liegende Weg, da es den in zivilisierten Ländern üblichen Weg einer sachlichen Widerlegung in preußischen Gefilden nicht gibt. Indessen mit einer Anklage vor den ordentlichen Gerichten hat es so seine eigenen Haken. Delbrück ist ein nach bürgerlichen Begriffen sehr ansehnlicher Mann: ordentlicher Professor, ehemaliger Prinzenerzieher, Hauptmann der Landwehr, Ritter des Eisernen Kreuzes und wer weiß was sonst noch. Man hat Exempel, dass die Göttin der Gerechtigkeit, die auch wohl einmal das menschliche Bedürfnis fühlt, ihren etwas ramponierten Ruf wieder auszuflicken, in solchen Fällen nicht den sonst so falkenscharfen Blick für die Beleidigung hoher Behörden bewährt; zu einer Zeit, wo eine Anklage wegen Bismarck-Beleidigung für einen simplen Redakteur, geschweige denn für einen Arbeiter, eine bombensichere Verurteilung bedeutete, wurde Mommsen auf diese Anklage hin in allen Instanzen freigesprochen, obgleich er dem Säkularmenschen mit einer recht dreisten und gottesfürchtigen Rede auf den Leib gerückt war. Man versteht darnach den hohen staatsmännischen Sinn, womit der „liberale Staatsmann" v. Miquel und der „Geistesritter" Bosse den Professor Delbrück für die Sünden des Publizisten Delbrück büßen lassen und ihn einem Disziplinarverfahren unterwerfen, in dem das Staatsministerium erstens sich beleidigt fühlt, zweitens die Anklage erhebt und drittens das Urteil spricht. Das preußische Disziplinarverfahren, das der biedere Manteuffel erfunden hat, ist eine Mausefalle, wie sie in gleich edler, einfacher und genialer Konstruktion kein wandernder Slowake feilzubieten hat.

Einen Vorzug hat das gegen Delbrück beliebte Verfahren aber doch, da es die Universität als solche in Mitleidenschaft zieht. Wäre der Redakteur Delbrück gerichtlich belangt worden, so konnte die erlauchte Körperschaft sagen, dass sie damit nichts zu schaffen habe, aber wenn der Professor Delbrück gemaßregelt werden soll, weil er das verfassungsmäßige Recht jedes Preußen, seine Meinung frei zu äußern, benützt hat, so kann die Universität nicht dazu schweigen, falls sie noch etwas anderes sein will als die gehorsame Dienerin der jeweiligen Regierungsgewalt. Nach allen bisherigen Proben akademischer Leistungsfähigkeit halten wir es freilich für eine bare Illusion, sich auf heroische Entschlüsse gefasst zu machen, indessen würden wir uns aufrichtig freuen, wenn unsere Prophetengabe sich in diesem Falle schlechter bewähren sollte als in dem Falle Delbrück selbst.

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