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Franz Mehring 18981012 Der Stuttgarter Parteitag

Franz Mehring: Der Stuttgarter Parteitag

12. Oktober 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 254-258]

Die Aufgabe, über die diesjährigen Assisen des deutschen Proletariats zu schreiben, ist nicht ganz leicht. Sieht man auf den glänzenden Verlauf des Parteitags, der in erster Reihe den Stuttgarter Genossen zu danken ist, auf die einmütige Geschlossenheit der Partei gegenüber allen praktischen Fragen, die im nächsten Jahre zur Entscheidung kommen werden, auf die geistige Höhe der Debatten, auf die durchweg glückliche, klare und scharfe Fassung der Resolutionen, so kann nicht leicht ein Wort des Lobes zu hoch sein. Nicht zum wenigsten möchten wir unter die Erfolge des Parteitags rechnen, dass er in der bürgerlichen Presse ein Tohuwabohu von Stimmen angerichtet hat wie vielleicht noch keiner der früheren Parteitage; gebärden sich die Gegner, als ob sie nicht mehr recht klug wären, so kann die Partei immer sicher sein, dass sie sich in tüchtigem Vormarsch befindet.

Darnach wäre also nichts angenehmer und leichter, als einen Rückblick auf einen so hoch und stattlich ragenden Merkstein der Parteientwicklung zu werfen, wie es die Tagesblätter der Partei meist getan haben. Aber hier eben liegt der Haken. Dem Parteitag selbst ist nichts am Zeuge zu flicken: Er wird in der Reihe der sozialdemokratischen Kongresse immer mit in erster Reihe stehen. Jedoch die Parteiblätter, die nur lauter Licht am Parteitag sehen, tun ihm zu viel oder, wenn man will, zu wenig des Guten. In der Tat, wenn es die höchste Aufgabe der Parteitage ist, gewissermaßen die Bilanz der Parteientwicklung zu ziehen, zu zeigen, wo alles in Ordnung ist und wo es vielleicht hapert, nicht nur den Reinertrag, sondern auch den Fehlbetrag aufzudecken, dann sind wir die ersten, dem Stuttgarter Parteitag das uneingeschränkteste Lob zu spenden. Eben weil er geistig so hoch stand, höher als mancher frühere Parteitag, so hat er sehr deutlich die Licht- und Schattenseiten des Entwicklungsstadiums gezeigt, worin sich die Partei augenblicklich befindet. Das ist in unseren Augen sein bester Ruhm, aber wenn an ihm gelobt wird, dass er nach allen Richtungen hin eine glänzende Lage der Partei offenbart habe, so können wir dem nicht beistimmen oder doch nur insofern beistimmen, als es sich um die praktische Seite der Sache handelte. Nach der theoretischen Seite hin hat der Stuttgarter Tag gezeigt, dass die Partei nicht auf der Höhe steht, auf der sie stehen muss, wenn ihr Schiff nicht über kurz oder lang auf sehr praktische Felsen rennen soll. Indem wir dies offen aussprechen, glauben wir den Parteitag höher zu ehren, als wenn wir einen Kübel landläufiger Lobpreisungen über ihn ausschütten.

Selbstverständlich soll unser Urteil nicht vom Standpunkt einer der Richtungen gelten, die in den Stuttgarter Verhandlungen aufeinander gestoßen sind. Darüber wird in den Spalten der „Neuen Zeit" noch viel diskutiert werden, und es wäre ein unzeitiger Versuch, diese Diskussion im Voraus durch ein summarisches Urteil abzuschneiden. Worauf es uns hier ankommt, ist eben der Gesamteindruck der Stuttgarter Reden und Beschlüsse. Überall, wo praktische Fragen zu entscheiden waren, wurden sie mit vollkommener Klarheit und Sicherheit entschieden, so auch die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, die über ein Jahr lang der Gegenstand der eifrigsten und heftigsten Diskussion gewesen war. Sowie aber die Theorie irgendwo in den Verhandlungen spielte, machte sich eine nicht minder auffallende Unklarheit und Unsicherheit geltend; es war, als ob die Partei hier ihren Kompass verloren hätte.

Meinungsverschiedenheiten wird es immer in der Partei geben; es wird nie dahin kommen, dass alle Parteimitglieder die Dinge immer genau mit denselben Augen ansehen, und es wäre ein Unglück, wenn es je dahin käme. Aber man muss sich über die Meinungsverschiedenheiten klar sein; scharf voneinander geschieden, können sie eine befruchtende Quelle werden, während sie, in- und durcheinander fließend, notwendig zur Versumpfung führen müssen. Die Partei soll nicht dogmatisch erstarren, gewiss nicht, aber ebenso wenig oder womöglich noch weniger soll sie einer prinziplosen Knochenerweichung verfallen. Die Selbstkritik ist eine unerlässliche und vortreffliche Sache, aber es ist keine Selbstkritik, sondern ganz etwas anderes, wenn Anschauungen, die lange oder von jeher in der Partei geherrscht haben, ohne alle sachliche Begründung, einfach mit einer verächtlichen Handbewegung, als altes Gerümpel über Bord geworfen werden. Welchen Eindruck macht es, wenn in Stuttgart ein gewisser Standpunkt mit „stürmischem Beifall" vertreten wurde und einen Tag später ein ganz verschiedener, um nicht zu sagen ein ganz entgegengesetzter Standpunkt ebenso „stürmischen Beifall" fand?

Die Debatte über die Taktik konnte keinen Abschluss oder, genauer gesprochen, konnte in Stuttgart keinen Abschluss finden. Ihr Zweck sollte nur sein festzustellen, ob taktische Meinungsverschiedenheiten in der Partei bestehen und wie weit sie reichen. Diesen Zweck hat die Debatte vollkommen erreicht, und weiter durfte sie nicht gehen: Es wäre töricht gewesen, durch eine Majoritätsabstimmung dieser oder jener Auffassung zum Siege verhelfen, und es wäre mindestens ebenso töricht gewesen, eine scheinbare Übereinstimmung der Ansichten herstellen zu wollen durch eine Resolution, die bei dem tatsächlichen Widerstreit der Meinungen auf irgendein verwaschenes Gerede hinausgelaufen wäre. Aber wenn dem so war, so war die Stuttgarter Debatte auch nur der Anfang der Diskussion oder, wenn man die vorhergehenden Auseinandersetzungen in der Presse als Anfang rechnen will, der Schluss dieses Anfanges: Soll wirkliche Klarheit in der Partei über ihre taktischen Aufgaben geschaffen werden, so muss die in Stuttgart soweit wie möglich, aber keineswegs soweit wie nötig geführte Diskussion fortgesetzt werden, und dazu ist in erster Reihe die Parteipresse berufen. Statt nun aber in eine gründliche Kritik der Stuttgarter Verhandlungen einzutreten, sehen gerade einflussreiche und große Parteiblätter ihren Beruf darin, nur ja wieder schnell zu verwischen, was in Stuttgart an Aufklärung geschaffen worden ist. Eines dieser Parteiblätter findet, in Stuttgart hätte die alte anerkannte Taktik gesiegt, ein anderes findet, der Versuch, „alte Gemeinplätze aufzuwärmen", „das Spiel mit den Revolutionsphrasen zu erneuern", sei gründlich gescheitert, aber trotz dieser gerade entgegengesetzten Auffassung sind beide Blätter darin einig, dass mit den Stuttgarter Debatten nun alles in schönster Form erledigt und die Partei sich, soweit es auf ihre inneren Meinungsverschiedenheiten ankomme, nun wieder ruhig schlafen legen könne.

Kaum minder tritt die theoretische Zerfahrenheit, die leider in der Partei eingerissen ist, bei den Auseinandersetzungen über die Handels- und Zollpolitik hervor. Der Stuttgarter Parteitag hat auch in dieser Frage geleistet, was er irgend leisten konnte; hier musste er, da es sich um aktuelle Fragen handelt, deren Entscheidung mit in der Hand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion liegt, seine Ansicht klar und unzweideutig aussprechen, und das gelang ihm in einer Resolution, deren glückliche Fassung nicht wohl übertroffen werden kann. Da schlug jener glückliche praktische Instinkt durch, der in der Partei lebt und ihr so manches Mal über theoretische Schwierigkeiten hinweggeholfen hat. Insofern könnte man über die Handels- und Zolldebatte in Stuttgart mit aller Befriedigung urteilen, wenn nur nicht in der Debatte große theoretische Unklarheiten zutage getreten wären und ein beträchtlicher Teil der Parteipresse seine Aufgabe darin sähe, diese Unklarheiten zu steigern, statt sie aufzulösen. Nehmen wir die beiden großen Parteiblätter, die wir schon vorhin erwähnten, so sagt das eine, der Stuttgarter Parteitag habe eine fast unmögliche Aufgabe gelöst, indem er eine neue selbständige sozialistische Auffassung in einer Frage begründet habe, über die seit den Zeiten der Merkantilisten, seit den ersten Anfängen des Bürgertums in jedem Jahrzehnt ganze Bibliotheken zusammengeschrieben worden seien, während das andere meint, der Parteitag habe zwischen der freihändlerischen und der schutzzöllnerischen Richtung insofern vermittelt, als er der Reichstagsfraktion freien Spielraum gelassen habe. Kann man über einen und denselben, vollkommen klaren und unzweideutigen Beschluss in schrofferem Widerspruch urteilen? Nur darin gleichen sich beide Urteile, dass sie gleich falsch sind. Die Stuttgarter Resolution ist keine bahnbrechende wissenschaftliche Tat, denn sie fasst nur in präziser Form zusammen, was die Partei seit zwanzig Jahren schon immer praktisch getan hat, aber sie lässt auch der Reichstagsfraktion keinen Spielraum, sondern schreibt ihr vielmehr die bestimmteste und entschiedenste Marschroute gegen die Schutzzollpolitik vor, die seit zwanzig Jahren im Deutschen Reiche betrieben worden ist.

Sich über die tatsächliche Lage der Dinge zu verblenden, liegt um so weniger ein Anlass vor, als die theoretische Unklarheit, die sich in Stuttgart gezeigt hat, an und für sich noch kein Unglück ist, sondern nur erst zu einem Unglück werden könnte, wenn über sie als über eine gleichgültige Sache hinweg gehuscht würde. Man hat das Licht niemals ganz ohne den Schatten, und in einer Zeit großer praktischer Erfolge kommt die Theorie unvermeidlich etwas ins Hintertreffen. In einer ganz ähnlichen Lage, wie heute, hat sich die Partei schon einmal befunden, in den Jahren zwischen dem Gothaer Einigungskongresse und dem Erlasse des Sozialistengesetzes, in denen auch eine große theoretische Unklarheit Hand in Hand mit großen praktischen Erfolgen ging. Damals wurde die Partei durch praktischen Schaden klug gemacht, und es ist wohl nicht nötig, dass sie diese raue Schule zum zweiten Male absolviert.

Auf dem Stuttgarter Parteitag selbst klagten auch verschiedene Redner darüber, dass die theoretische Fortbildung der Partei allzu sehr vernachlässigt werde. Sagt man dagegen, dass die Partei zu schnell gewachsen sei, als dass die Theorie gleichmäßig der Praxis habe nachfolgen können, so ist das wahr und auch nicht wahr. In den alten Parteizeitungen aus den sechziger oder gar aus den vierziger Jahren findet man eine frische Freude und Lust an theoretischen Auseinandersetzungen, die man heute nicht ohne eine gewisse Wehmut betrachten kann. Deshalb darf man sich aber nicht darüber täuschen, dass diese Zeiten unwiederbringlich vorüber sind. Das Kind ist zwar des Mannes Vater, aber der Mann kann, eben weil er ein Mann ist, der handeln und schlagen muss, nicht alle anziehenden und liebenswürdigen Seiten des Kindes bewahren. Es ist ganz undenkbar und unmöglich, und wenn es denkbar und möglich wäre, so wäre es durchaus nicht wünschenswert, dass eine millionenköpfige Partei wissenschaftliche Turniere über die kniffligen Haarspaltereien der Durchschnittsprofitrate oder der Mehrwerttheorie veranstaltet. Obgleich im letzten Grunde auch die feinsten Ausstrahlungen der sozialistischen Weltanschauung mit dem proletarischen Klassenkampf zusammenhängen, so können sie doch nur die Sache einer – im Verhältnis zur Zahl der sozialdemokratischen Wähler – winzigen Minderheit sein.

So viel muss unter allen Umständen zugegeben werden. Aber deshalb darf man das Kind nicht mit dem Bade verschütten und sich einbilden, dass eine so gänzliche Vernachlässigung der Theorie, wie sie in einem sehr beträchtlichen Teile der Partei, wir möchten sagen, schon zum guten Tone gehört, durch die größten praktischen Erfolge jemals ausgeglichen werden könne. Vielmehr muss und wird der Augenblick kommen, wo alle praktischen Erfolge dadurch ins Ungewisse gestellt werden. Und es ist nicht wahr, dass die Partei sich ohne Theorie behelfen müsse, da sich im Drängen der praktischen Arbeit keine Theorie treiben lasse. Die Klage, die wie auf früheren Parteitagen, so auch in Stuttgart erhoben wurde, dass es nämlich der Partei an wissenschaftlichem Nachwuchs fehle, erledigt sich durch die hausbackene Tatsache, dass zu einer wissenschaftlichen Literatur nicht nur Leute gehören, die sie schreiben, sondern auch Leute, die sie lesen. Und vorläufig fehlt es der wissenschaftlichen Literatur der Partei weit weniger an Leuten, die schreiben können, als an Leuten, die lesen wollen. Was seit zehn Jahren auf diesem Gebiet geleistet worden ist, das mag sehr unvollkommen sein, aber es ist doch noch immer genug, um die verständigeren Anhänger aller bürgerlichen Parteien mit Neid zu erfüllen. Und besser wird's auf keinen Fall, wenn die Partei diese bescheidenen Anläufe an ihrer Teilnahmslosigkeit vertrocknen lässt, in sehnsüchtiger Hoffnung auf den St.-Nimmerleins-Tag, wo für sie die Lassalle und Marx vom Himmel regnen werden.

Wir wissen sehr wohl, dass sich Dinge, die sich seit lange eingewurzelt haben, nicht an einem Tage entwurzeln lassen. Soweit sich aber einer schädlichen Entwicklung entgegenwirken lässt, soll man ihr rechtzeitig entgegenwirken. Deshalb haben wir den einen Punkt, in dem der Stuttgarter Tag die Partei nicht auf ihrer historischen Höhe gezeigt hat, ohne Übertreibung, aber auch ohne Verdunkelung besprechen zu sollen geglaubt: Gibt dieser Tag einen wirksamen Anstoß zur theoretischen Vertiefung der deutschen Arbeiterbewegung, so wird er in ihrer Geschichte um so denkwürdiger sein.

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