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Franz Mehring 18980910 Ein Schicksalswort

Franz Mehring: Ein Schicksalswort

10. September 1898

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 210, 10. September 1898. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 241-243]

Als der deutsche Kaiser vor einigen Tagen in Oeynhausen den Gesetzentwurf ankündigte, der die Anreizung zu Streiks unter die Strafe des Zuchthauses stellt, sprach er eines jener Schicksalsworte, in denen sich der Inhalt ganzer Geschichtsperioden wie in einem Brennpunkte zusammenfasst. Ein Wort, wie es sein Großohm, der vierte Friedrich Wilhelm, im Frühjahr 1847 sprach, als er dem Vereinigten Landtag erklärte, er werde niemals dulden, dass sich ein Blatt Papier wie eine zweite Vorsehung zwischen unseren Herrgott und dies Land dränge. Man kann von solchen Worten nicht eigentlich nach einem herkömmlichen Bilde sagen, dass sie Taten seien; ihre historische Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie wie ein scharfer Windstoß alle Nebel zerreißen, die das Verständnis einer historischen Periode erschweren. Es ist dann vorbei mit allem unsicheren Tappen und Tasten, die Schicksalsfrage ist gestellt, und die feindlichen Heere sehen sich bis ins Weiße der Augen.

Solche Worte werden gewöhnlich nicht im Bewusstsein ihrer historischen Wirkung gesprochen; sie wären dann eben keine Schicksalsworte. Friedrich Wilhelm IV. hat manch geistreicheren und auch manch spitzeren Pfeil von seiner Zunge geschnellt, ohne dass er so haften geblieben wäre wie jene trutzige Verheißung, die nach dreißigjährigem Hoffen und Harren in einem blendenden Blitzstrahle dem Volke zeigte, dass es eben nichts sei mit allem Hoffen und Harren. Es kommt nicht sowohl darauf an, wie hell der Funke blitzt, als wie dicht gehäuft und wie trocken der Zunder ist, wohinein er fällt. Von den Sprechern dieser Schicksalsworte gilt meist: Doch kaum war ihm das Wort entfahren, möcht' er's im Busen gern bewahren. Nicht als ob wir damit sagen wollten, dass der Kaiser zurücknehmen möchte, was er in Oeynhausen gesagt hat! Das können wir nicht wissen, und wenn wir es wissen könnten, so würden wir nicht danach forschen. Aber wir sehen, wie die herrschenden Klassen daran arbeiten, dies Schicksalswort wieder von den Tafeln der Geschichte zu löschen, in denen es mit flammenden Zügen verzeichnet steht. Die einen sagen, dem Kaiser müsse ein Ausgleiten der Zunge passiert sein, die anderen hoffen, dass den Berichterstattern ein Gehörfehler untergelaufen sei, die dritten faseln, wir wissen nicht was, derweil ihnen allen das aufwärts leckende Feuer die Glieder versengt.

Eher aber könnten sie mit dem Hauch ihres Mundes einen Präriebrand ausblasen, als mit diesen Anstrengungen einen Erfolg erzielen. Die Schicksalsworte spricht nicht der einzelne Mensch, sondern das Schicksal selbst, die Nemesis der Geschichte, die gerecht waltet über die Schuld der vergangenen wie über die Sühne der kommenden Jahrhunderte. Sie senken sich deshalb so tief in die Herzen der Menschen, weil sie, auch wenn sie nicht gesprochen wären, doch gesprochen sein könnten, weil jeder, der sie hört, blitzenden Auges sagt: Ja, so ist es und nicht anders, weil sie in einem Nu ihr blendendes Licht bis an die fernste Linie des historischen Horizonts ergießen. Wenn ein scharfer und schneller Windstoß dem Wanderer auf dem Gipfel des Berges die Nebel zerreißt, die eben noch sein Haupt verhüllten, dann redet ihm doch ein, der Wind habe gar nicht geblasen, dann beweist ihm doch, wie ruhig und still die Luft sei. Er wird lachend erwidern: Aber sehe ich denn nicht klar, was mir eben noch verhüllt war? So ist es denn hoffnungslose Schranzenarbeit, die Nebel wieder zusammenzuflicken, die einmal ein Schicksalswort zerrissen hat.

Und selbst wenn den Kaiser gereuen sollte, so gesprochen zu haben, wie er gesprochen hat, so wäre er sicherlich der letzte Mann, je sein Schicksalswort zurückzunehmen. Nicht etwa nur deshalb, weil es doch vergebliche Mühe sein würde, sondern weil er stets der Täter seiner Taten gewesen ist, weil er kaiserlich genug denkt, um zu seinen kaiserlichen Worten zu stehen, weil die Geister aller seiner Ahnen, mit denen er gern geheime Zwiesprache pflegt, in Oeynhausen bei ihm waren. Aller ohne jede Ausnahme! Aus dem Schicksalsworte sprach die Geschichte des halben Jahrtausends, das in wenigen Jahren verflossen sein wird, seitdem die Hohenzollern in die Mark Brandenburg kamen, und deshalb verzehrte seine brennende Wahrheit in einem Hui alle die gehäuften Lügenberge, die serviler Eifer einer entwürdigten Gelehrsamkeit über die Geschichte der Hohenzollern zusammengetragen hat. Kehren die elenden Schacher wieder, so dräut ihnen das Schicksalswort wie das Haupt der Gorgo. Als die zehrende Flamme dieses Worts allen Lug und Trug verbrannt hatte, durfte der Kaiser wohl das Banner seines Geschlechts auf die gereinigte Brandstätte pflanzen, als der rechte Enkel und Erbe seiner Ahnen: hie guet Zolre allewege!1

Hätte das deutsche Bürgertum nur etwas, ach nur ein wenig, von der ehrlichen Offenheit des Kaisers, von der ehrlichen Offenheit auch seiner Ahnen! Aber für diese Rasse sprach der alte Fritz vergebens das bittere und wahre Wort: „Wer vor den Großen dieser Welt das Knie beugt, der kennt sie nicht!" Auch ihnen, ja ihnen in erster Reihe, galt das Schicksalswort, denn die Koalitionsfreiheit der Arbeiter wurzelt in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, ist eng und unlöslich verflochten mit allen ihren Grundlagen. Aber unter dem wuchtenden Drucke krümmen sie sich hinweg, wenige nur wagen einen schüchternen Protest, die meisten murmeln mit blassen Lippen kein ehrliches Ja und kein ehrliches Nein, sondern ein feiges Wenn und Aber: Sie feilschen und schachern, ob von dem Fehdehandschuh, den sie nicht aufzuheben wagen, vielleicht nicht ein paar Finger abgeschnipfelt werden können.

Nur in der Arbeiterklasse findet der Heerschild, an den der Kaiser geschlagen hat, ein ehernes Echo. Sie nimmt die Fehde auf, so ehrlich und offen, wie sie ihr angesagt worden ist. Sie kämpft um ihr Haupt und um ihr Leben, und in diesem Kampfe gibt es kein Ermatten, bis der Tag des Sieges anbricht. Warenpöbel, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft ist, kann sie sich nicht noch unter den anderen Warenpöbel herabdrücken lassen; soll ihr bei Strafe des Zuchthauses verboten werden, was der Ware Kaffee und der Ware Zucker erlaubt ist, dann wird sie sich erinnern, dass menschliches Fleisch und Blut eine besondere Ware ist, dass ihre fleißigen Hände den Reichtum der Gegenwart schaffen, dass auf ihren breiten Schultern die ganze Zukunft der Nation ruht. Sie hat jetzt dreißig Jahre gehofft und geharrt, immer bereit, ihre Hütten auch auf den Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu bauen, wo nur immer ein halbwegs sicherer Baugrund zu entdecken war, ja manchmal vielleicht zu bereit, auch im Kampfe noch nach festem Grunde zu suchen. Deshalb brauchen wir denn auch nicht zu trauern, dass der Kaiser sein Schicksalswort so klar und knapp gefasst hat. Nun sind alle Nebel zerrissen, die in der letzten Zeit manchmal in beängstigender Weise auf den Wegen und Stegen des klassenbewussten Proletariats lagen. Und wenn die Beschwichtigungshofräte kommen und uns in die Ohren träufeln wollen, es sei ja „gar nicht so schlimm" gemeint, so werden wir ihnen antworten: Erstens glauben wir dem ehrlichen und offenen Worte des Kaisers mehr als eurem heuchlerischen Geflüster und Getuschel, und zweitens ist, was ihr „gar nicht so schlimm" nennt, noch viel zu schlimm für die deutsche Arbeiterklasse, die auch nicht auf ein Quäntchen ihrer kümmerlichen Rechte verzichten kann und will.

Dank dem Schicksalsworte des Kaisers sind jetzt die einfachen und klaren Verhältnisse geschaffen, in denen die deutsche Arbeiterklasse Haupt bei Haupt ihre Riesenglieder recken und strecken kann; sie vermag jetzt Massen mobil zu machen wie seit dreißig Jahren nicht, und sie hat keinen Augenblick gezögert zu tun, was ihre Pflicht und ihr Recht ist.

1 Zolre - altnorddt: tollr, vom lat. „telonium" entlehnt, soviel wie Zoll, Gebühren, Abgaben aller Art. Hier von Mehring in Anspielung an das hohenzollernsche Strauch- und Landrittertum als „Beute" gebraucht (Preußen hatte z. B. noch 1817 über 60 verschiedene Zoll- und Akzisetarife).

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