Franz Mehring‎ > ‎1898‎ > ‎

Franz Mehring 18980330 Flottengesetz und Zentrum

Franz Mehring: Flottengesetz und Zentrum

30. März 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 218-221]

Ein mittelbares, aber umso sprechenderes Zeugnis des Zersetzungsprozesses, worin sich die moderne bürgerliche Gesellschaft befindet, sind die jähen Sprünge der bürgerlichen Parteien. Vor einem Jahre schien es, als ob die unaufhörlichen Attacken des verlebten Absolutismus und Feudalismus die bürgerliche Opposition noch einmal zu einem entschlossenen Widerstand herausfordern würden; heute feiern alle rückständigen Elemente des Deutschen Reiches neue Triumphe, die ihnen von der bürgerlichen Opposition auf dem Präsentierteller entgegengebracht worden sind. Das Zentrum hat die Annahme des Flottengesetzes entschieden, und der zahlungsfähigste Teil der liberalen Bourgeoisie ist desselbigen Weges gefahren. Ein Rest von ihr hat gerade noch standgehalten; aber auch nur mit Ach und Krach; wäre es auf die Stimmen der Freisinnigen Volkspartei angekommen, so hätte auch unter den Unentwegten die Ausreißerei begonnen wie ehedem bei den Fragen des Septennats und des Sozialistengesetzes.

Doch die liberale Bourgeoisie zählt politisch längst nicht mehr mit, es sei denn als Kanonenfutter. Ungleich wichtiger ist der Umfall des Zentrums. Die bisher geschlossenste der bürgerlichen Parteien hat sich damit auf die schiefe Ebene begeben, worauf die Nationalliberale Partei elend untergegangen ist. Nicht als ob dieser Vergleich ganz wörtlich genommen werden dürfte, in gewissem Sinne hinkt er allerdings, wie die ultramontane Presse behauptet. Wir können es um so lieber zugeben, als an dieser Stelle schon vor Jahr und Tag gesagt wurde, dass eine national-ultramontane Episode noch viel trübseliger und verächtlicher sein werde, als die nationalliberale Episode gewesen ist. Mag man noch so scharf über den Nationalliberalismus urteilen, mag man noch so bitter tadeln, dass er die politischen Ideale der bürgerlichen Klasse an ihre materiellen Interessen verraten hat, so hat er immerhin mit der Befriedigung dieser materiellen Interessen einige historisch aufräumende Arbeit vollbracht; die wirtschaftliche Gesetzgebung von 1867 bis 1877 war reines Bourgeoisfabrikat und nicht einmal besonders konsequentes Bourgeoisfabrikat, aber als solches doch immerhin ein historischer Fortschritt. Dagegen kann eine national-ultramontane Episode ihrem Wesen nach nichts anderes leisten als alberne und lächerliche Rückwärtserei. Selbst das viel gerühmte Interesse des Zentrums für die Fortbildung der Fabrikgesetzgebung ist weiter nichts als der berüchtigte feudale Sozialismus, der die siegreiche Bourgeoisie ein wenig necken will; es erlischt in dem Augenblick, wo das Zentrum zur Macht gelangt, wie der feudale Sozialismus regelmäßig erloschen ist, sobald seine Bekenner zur Macht gelangten; wer sich einbildet, dass die ultramontane Bourgeoisie auch nur um ein Atom „arbeiterfreundlicher" sei als die liberale Bourgeoisie, der verdient sofort eine nationalsoziale Reichstagskandidatur zu erhalten.

Bamberger sagte einmal, das Zentrum habe sich nur deshalb in der Mitte des Reichstags niedergelassen, weil es hinter der äußersten Rechten keinen Platz mehr gefunden habe. Und diese Ansicht teilte der alte Romantiker Gerlach, der in den fünfziger Jahren die preußischen Feudalen geführt hatte, in den siebziger Jahren aber diese Feudalen als abtrünnige Überläufer ins liberale Lager verfluchte und sich ins Zentrum als den letzten wahren Hort mittelalterlicher Anschauungen rückwärts konzentrierte. In seinem historischen Ursprung war das Zentrum der Sammelplatz aller Elemente, die der Einigung Deutschlands unter preußischem Szepter nicht vom revolutionären, sondern vom reaktionären Standpunkt aus widerstanden; seine Gründung bildete den partikularistischen Gegenschlag gegen die Gründung des neuen Deutschen Reiches. Das Zentrum war noch reaktionärer als Bismarck, ebendeshalb aber in seiner Art konsequenter als dieser geniale Staatsmann. In gewohnter Tölpelei schlug Bismarck auf den partikularistischen wie auf jeden anderen Widerstand mit dem Polizeiknüppel los und machte dadurch eine durchaus reaktionäre Partei zu einer durchaus eifrigen Vorkämpferin der bürgerlichen Freiheit. Mit den Waffen dieser Freiheit manövrierte das Zentrum den prahlhansigen Junker trotz aller Renommistereien, dass er nicht nach Kanossa gehen werde, dennoch auf den Schlosshof von Kanossa und wurde so die erfolgreichste aller bürgerlichen Parteien.

Zwischen der prinzipiellen und der taktischen Politik des Zentrums bestand von jeher ein tiefer und im letzten Grunde unversöhnlicher Widerspruch. Es ist derselbe Widerspruch, in den jede überlebte Weltanschauung gerät, die sich auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalten will. Ein französischer Ultramontaner hat diesen Widerspruch einmal offenherzig in die Worte gekleidet: Wo wir in der Minderheit sind, da benutzen wir eifrig dieselben Freiheiten und Rechte, die wir unbarmherzig vernichten, wo wir in der Mehrheit sind. In den Debatten des Reichstags ist viel hin- und hergestritten worden über die Frage, ob Windthorst, wenn er noch lebte, dem Flottengesetz zugestimmt haben würde. So wie die Frage gewöhnlich gestellt wurde, ließ sie sich weder mit einem Ja noch mit einem Nein beantworten, sondern nur mit einem Je nachdem. Zu sagen, dass Windthorst ein prinzipieller Gegner jeder dem parlamentarischen Budgetrecht zugefügten Unbill gewesen sei, heißt einem Manne zu große Ehre antun, der etwa in der feudalen Verfassung der Standesherrschaft Arenberg-Meppen sein staatsmännisches Ideal sah und der unter den hannoverschen Welfen, die den Verfassungsbruch sozusagen als Sport betrieben, wiederholt das Amt eines Justizministers bekleidet hat. Aber zu sagen, dass Windthorst dieselbe Stellung zum Flottengesetz eingenommen haben würde wie sein unfähiger Epigone Lieber, heißt einem Manne unrecht tun, der immer sehr wohl zu unterscheiden gewusst hat, unter welchen Umständen das partikularistisch-ultramontane Zentrum eine Macht in einem modernen Großstaat werden und bleiben konnte und unter welchen Umständen nicht.

Das Zentrum hat seine großen Erfolge dadurch erreicht, dass es von allen bürgerlichen Parteien in Deutschland die einzige war, die ihre Schanzen mit ihren Toten zu bedecken, die dem bismärckischen Willkürregimente einen bis zu einem gewissen Grade unerschütterlichen Widerstand entgegenzusetzen wusste. Wie allen rückständigen Parteien wurden ihm aber gerade seine Erfolge verhängnisvoll. Sobald Bismarck im „Kulturkampfe" kapituliert und mit der liberalen Bourgeoisie gebrochen hatte, um eine reaktionäre Wirtschaftspolitik einzuleiten, die den reaktionären Instinkten des Zentrums entgegenkam, waren die ultramontanen Bourgeois und Junker mit Vergnügen bereit, sich unbesehen in die Gefolgschaft des Säkularmenschen einzureihen. Damals begannen schon beim Zolltarife, bei dem Sozialistengesetze und so weiter die ultramontanen Dummheiten und Verrätereien, die den Einfluss des Zentrums namentlich in Bayern so gründlich erschüttert haben. Windthorst hielt aber immer darauf, dass die Partei niemals völlig den Charakter einer bürgerlichen Oppositionspartei verlor; trotz all seiner feudal-klerikalen Neigungen wusste er klar zu erkennen, dass darin ihre Kraft wurzele, dass sie nach ihrem unbedingten Überlaufen ins Lager der Regierung den Halt in den Massen verlieren würde, ohne doch jemals nach ihren Existenzbedingungen sowohl wie nach den Existenzbedingungen des Deutschen Reiches als Regierungspartei einen ausschlaggebenden Einfluss gewinnen zu können. Deshalb widersetzte sich Windthorst jedem Versuche, die kümmerlichen Rechte des Reichstags noch weiter abzubröckeln, und scheute, wenn diese Frage ins Spiel kam, selbst nicht davor zurück, dem Heiligen Vater die Zähne zu weisen, wie bei den Reichstagswahlen im Jahre 1887.

Demgemäß kann es nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass Windthorst die Umfallpolitik der Lieber und Konsorten aufs Schärfste verurteilt haben würde, nicht aus Liebe zur konstitutionellen Staatsform, die ihm gewiss sehr gleichgültig oder auch sehr verhasst war, aber aus richtigem Verständnis der Zentrumsinteressen. Windthorst hätte nun und nimmer geduldet, dass sich die Partei der Regierung bedingungslos ergab und um einer trügerischen Illusion willen die Quellen ihres Lebens verschüttete. Wir gehören nicht zu denen, die in dem Proteste der ultramontanen Minderheit gegen die Politik des Herrn Lieber ein abgekartetes Spiel sehen; wir glauben gern, dass es allen Politikern des Zentrums, die nicht von sinnloser Profitgier oder alberner Eitelkeit verblendet sind, bei der gegenwärtigen „Führung" angst und bange wird.

Diese „Führung" ist eben eine noch viel dümmere und gemeinschädlichere Politik, als ihrerzeit die Nationalliberalen getrieben haben, die in den Massen überhaupt nichts zu verlieren, aber als Vertreter der Bourgeoisie doch manches zu gewinnen hatten. Das Zentrum verliert bei seinem Überlaufen ins Lager der Regierung das Vertrauen der Massen, die ihm bisher noch anhängen, und gewinnt nichts, als dass etwa der schäbige Ehrgeiz einiger obskurer „Führer" befriedigt wird.

Es war vielleicht ein schöner Traum, dass die bürgerliche Opposition sich noch einmal aufraffen und, unterstützt von der proletarischen Opposition, endlich der absolutistisch-feudalen Wirtschaft ein Ziel setzen werde. Aber da es nur ein Traum war, so muss man sich seine letzten Spinnweben aus dem Auge reiben im Augenblick, wo schon der Hahn kräht, der den entscheidenden Schlachttag ankündigt. Es ist allzu viel Zeit verbraucht worden mit dem Spintisieren darüber, was unter Umständen von der bürgerlichen Opposition der Freisinnigen oder der Ultramontanen zu erwarten sei. Wenn schon das bisschen Profit, das möglicherweise aus Kiautschou herausschaut, die großartige Phalanx der bürgerlichen Freiheitshelden über den Haufen wirft, so ist einfach gar nichts davon zu erwarten. Die Arbeiterklasse hat auf der weiten Welt keine Stütze als sich selbst, und je ausschließlicher sie ihr Heil in ihren eigenen Reihen sucht, umso sicherer wird sie alle Anschläge ihrer Todfeinde vereiteln.

Erschüttert ist die Herrschaft des Zentrums in Arbeiterkreisen längst schon; nachdem die Mehrheit seiner parlamentarischen Vertreter das Flottengesetz apportiert hat, ist die Zeit gekommen, ihr den Todesstoß zu versetzen. Treten die Arbeiter, die sich bisher von den ultramontanen Lockrufen haben betören lassen, in die Reihen des klassenbewussten Proletariats, so ist die Verstärkung, die der herrschenden Reaktion durch den Verrat des offiziellen Zentrums zuwachsen mag, mehr als ausgeglichen.

Kommentare