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Franz Mehring 18980824 Immer die Alten

Franz Mehring: Immer die Alten

24. August 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 705-708. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 236-240]

Kaum ist die bange Stunde der Wahlschlacht vorüber, als die herrschenden Klassen sich beeifern, aller Welt zu offenbaren, dass es im neuen Deutschen Reiche nach wie vor bleibt bei der altpreußischen Parole: Soldat werden, Steuer zahlen, Maul halten. Neue Militärforderungen, in ihrem Gefolge neue Steuern und heftige Angriffe auf das allgemeine Wahlrecht, das dem verachteten Pöbel alle fünf Jahre einmal gestattet, einen Ton mitzureden: Das ist die Bescherung, womit jetzt dieselben Leute ans Tageslicht rücken, die vor den Wahlen von lauter Liebe für die Volksmassen troffen.

Wer davon unangenehm überrascht ist, hat es sich allein zuzuschreiben. So ist es immer gegangen, solange die preußisch-deutsche Herrlichkeit besteht, und anders wird es niemals gehen, solange sie dauert. Das einzige, was sich seit Jahr und Tag verändert hat, ist das gänzliche Verschwinden des „Zuges nach links", von dem wir träumten, dass er in den Reihen der bürgerlichen Opposition vorwärts dränge. Die paar Anzeichen, die davon vorhanden waren, haben gründlich getäuscht, wobei freilich nicht übersehen werden darf, dass ihre überzeugende Kraft weniger aus ihnen selbst floss als aus dem guten Willen des Proletariats, etwaige Oppositionsgelüste der Bourgeoisie lieber zu hoch als zu niedrig zu taxieren. Die Arbeiter hüteten sich vor jedem rauen Luftzug, der die hier und da aufflackernden Flämmchen hätte vorzeitig ausblasen können, aber ihre Vorsicht war umsonst: Diese Flämmchen erloschen schon von selbst unter dem bald kosenden und bald scheltenden Hauche der Reaktion. Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn: nämlich der Zug nach links.

Umso weniger darf man sich jetzt irgendwelchen Einbildungen über das Schicksal der neuen Militärforderungen hingeben. Mögen die „Freisinnige Zeitung" und die „Germania" sie für unannehmbar erklären, mag schon mit dem Gedanken gespielt werden, dass im nächsten Frühjahr neue Wahlen zum Reichstag stattfinden können, so muss seine Glieder nicht lieb haben, wer auf diese aus Spinnweben gewobene Brücke tritt. Weder die Freisinnige noch die Ultramontane Partei denkt daran, es auf Neuwahlen ankommen zu lassen. Die Freisinnigen sind froh, abermals für ihre schwächlichen Verhältnisse mit einem blauen Auge davongekommen zu sein; sie werden, unentwegt wie immer, die neuen Militärforderungen bekämpfen, in dem beseligenden Bewusstsein, dass ihr Nein so gleichgültig ist wie ihr Ja. Die Ultramontanen aber denken nicht daran, ihre Machtstellung als „regierende Partei" an die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um einige zehntausend Mann und die Erhöhung des Militäretats um einige Dutzend Millionen zu setzen. Sie werden sich vielleicht sperren und zieren, vielleicht auch diesen oder jenen kleinen Abstrich durchsetzen, aber den Kehraus tanzen werden sie den neuen Militärforderungen nicht; sie sind viel zu schlaue Geschäftsleute, um nicht zu wissen, dass wer in einem Militärstaat „regierende Partei" spielen will, vor allem Molochs unersättlichen Appetit stillen muss.

Anders steht es mit den Treibereien der konservativen und nationalliberalen Blätter gegen das allgemeine Wahlrecht. Das ist vorläufig ein ebenso ohnmächtiges wie dummes Gebelfer. Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts in seiner heutigen Form hat nicht einen, sondern verschiedene Haken. Bei der Frage, was an seine Stelle zu setzen sei, würden sich die bürgerlichen Parteien untereinander aufs Bitterste in die Haare geraten; zudem gibt es einzelne bürgerliche Parteien, denen einstweilen an der Aufrechterhaltung des allgemeinen Wahlrechts sehr viel gelegen sein muss, so namentlich der „regierenden Partei" des Zentrums, und endlich wissen alle bürgerlichen Parteien sehr gut, dass eine Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts, selbst in formell gesetzlichen Formen, doch nichts anderes als ein Staatsstreich wäre, der die Revolution legitimieren würde. Soweit sind sie aber noch nicht, um es leichten Herzens darauf ankommen zu lassen. Die ganze Salbaderei der konservativen und nationalliberalen Blätter über diese Frage ist nichts als eine herzerfrischende Torheit; indem sie dem allgemeinen Wahlrecht den Krieg ansagen, trotz der Unmöglichkeit, ihm vorläufig an den Kragen zu können, verraten sie nur ihren bösen Willen und enthüllen den arbeitenden Klassen in unwiderleglicher Weise, was sie von ihren „besten Freunden" zu erwarten haben.

Freilich ist dabei immer zu betonen, dass die Gegner des allgemeinen Wahlrechts ihm vorläufig nicht an den Kragen können. Sonst ist gewiss richtig, dass es keine bürgerliche Partei gibt, die dem allgemeinen Wahlrecht nicht lieber heute als morgen den Hals umdrehen würde, wenn sie es nur ohne sonstige Konsequenzen tun könnte, und auch daran ist kein Zweifel gestattet, dass einmal die Stunde schlagen wird, wo es dem allgemeinen Wahlrecht ordentlich an den Kragen geht. Es hieße die historische Entwicklung Deutschlands gründlich missverstehen, wenn man glauben wollte, dass sich auf dem Wege des allgemeinen Wahlrechts sozusagen in aller Gemütlichkeit die kapitalistische in die sozialistische Gesellschaft umwälzen ließe. Eine solche Entwicklung wäre denkbar und möglich in Ländern mit einer hoch entwickelten bürgerlichen Kultur; sie ist undenkbar und unmöglich in einem Lande mit den historisch-rückständigen Staatsformen des Deutschen Reichs. Kommt der Augenblick, wo das allgemeine Wahlrecht soweit ist, dem Militarismus die Temporalien zu sperren, so wird der Militarismus das allgemeine Wahlrecht niederschlagen und die unverschämte Herrschaft des Säbels etablieren. Wie weit er damit kommen wird, das ist natürlich eine andere Frage, aber dass dieser Augenblick einmal eintreten muss, ist sicher, vorausgesetzt, dass man nicht à la Freisinn die geschichtliche Aufgabe des allgemeinen Wahlrechts darin erblickt, dem Militarismus immer hübsch aus dem Wege zu gehen, wenn es einmal ernsthaft mit ihm zu karambolieren droht.

Es soll nun freilich noch eine andere Methode geben, den Bären zu waschen, ohne den Pelz nass zu machen, nämlich die Methode, Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen. Diese Methode hat unzweifelhaft auch einen gewissen Sinn, soweit es sich um die Kämpfe innerhalb der besitzenden und herrschenden Klassen handelt; die Bourgeoisie kann etwa zum Absolutismus und zum Junkertum sagen: Ich gebe euch nur Geld zu Kanonen, wenn ihr mir einen Anteil an der Macht gewährt. Diese Art, Geschäfte zu machen, hat die englische Bourgeoisie vortrefflich und die deutsche Bourgeoisie sehr schlecht verstanden; eben dadurch hat sich der deutsche Militarismus zu einer unförmlichen Macht ausgewachsen, die gar nicht mehr daran denkt und auch gar nicht mehr daran zu denken braucht, mit der Bourgeoisie zu paktieren, sondern die ihr einfach die Kleinkalibrigen auf die Brust setzt mit der liebenswürdigen Alternative: Friss, Vogel, oder stirb.

Ganz irrtümlich ist es aber anzunehmen, dass die deutsche Arbeiterklasse nun einfach die Versäumnisse der deutschen Bourgeoisie gutmachen könnte mit der Übernahme des Programms, Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen. Bei den „Volksrechten" der Bourgeoisie handelt es sich um einen Anteil an der Macht, welche die besitzenden Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft behaupten, bei den „Volksrechten" des Proletariats handelt es sich um die Hebel, die Macht der besitzenden Klassen überhaupt zu zerstören. Solche Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen, hütet sich der Militarismus aber wohlweislich, und er wäre auf seinem Standpunkt ein Esel, wenn er es nicht täte. Er wird die „Volksrechte" anerkennen, solange sie dazu dienen, ihm neue Kanonen zu gewähren, aber er wird mit seinen Kanonen auf die „Volksrechte" schießen, wenn sie sich einfallen lassen, ihm einmal neue Kanonen zu verweigern.

Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie kann mit dem Militarismus paktieren, aber nun und nimmer das Proletariat. Die deutsche Sozialdemokratie hat deshalb von je und je eine prinzipiell ablehnende Stellung zum Militarismus eingenommen, und sie würde sich zum Düpe ihrer schlimmsten Gegner machen, wenn sie diesen Standpunkt jemals aufgeben wollte. Es wäre ja ganz gewiss sehr schön, die große Krankheit der Zeit mit Rosenwasser zu heilen, aber die Entscheidung darüber steht nicht bei den arbeitenden, sondern bei den besitzenden Klassen, und diese Klassen sind sehr weit entfernt von jeder gemütlich-sentimentalen Auffassung ihrer Herrschaftsgelüste. Selbst diejenigen bürgerlichen Blätter, die das Gebelfer gegen das allgemeine Wahlrecht unter den augenblicklichen Verhältnissen als sinnlos erkennen und dagegen protestieren, sagen doch ganz offenherzig: Wenn es einmal so weit kommen sollte, dass die Grundlage der Zivilisation durch das allgemeine Stimmrecht gefährdet würde, so ist es immer noch Zeit, und gerade dann ist die rechte Zeit, die salus publica über alle geschriebenen Gesetze und Rechte zu stellen, will sagen, den Staatsstreich zu proklamieren und das allgemeine Wahlrecht zu kassieren. Zu den Grundlagen der bürgerlichen „Zivilisation" gehört aber in erster Reihe der Militarismus.

Über den Zynismus dieser Anschauung mag man denken, wie man will: in jedem Falle besitzt sie den Vorzug der Aufrichtigkeit und spricht offen aus das, was ist. Die deutsche Arbeiterklasse kann daraus die Lehre entnehmen, wie durchaus verfehlt jede gemütlich-sentimentale Auffassung ihres Klassenkampfes sein würde. Es ist vollständig in der Ordnung, wenn die Sozialdemokratische Partei die Rechte, die das Proletariat heute schon besitzt, aufs Äußerste verteidigt und sie mit aller Kraft zu vermehren trachtet, aber es wäre das denkbar schlechteste Mittel der Verteidigung, von der prinzipiell schroffen und stolzen Haltung, der die Partei alle ihre Erfolge verdankt, auch nur um Haaresbreite abzuweichen, ihren sozialrevolutionären Charakter auch nur einen Augenblick zu verleugnen. Käme der wunderliche Standpunkt, Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen, jemals in der Partei zur Geltung, es wäre der weitaus schlimmste Fehler, den ihre Geschichte zu verzeichnen hätte, der weitaus schwerste Nackenschlag, den die Partei sich jemals selbst zugefügt hätte.

Wie schwer sich alle Selbsttäuschungen am klassenbewussten Proletariat rächen, zeigen die mannigfachen taktischen Meinungsverschiedenheiten, welche die an und für sich gut gemeinte und verhältnismäßig harmlose Überschätzung des bürgerlichen „Zuges nach links" in der Partei hervorgerufen hat. Diese Meinungsverschiedenheiten zu leugnen, wäre, wie ein sächsisches Parteiblatt mit Recht sagt, lächerliche und verderbliche Vogel-Strauß-Politik; am wenigsten werden sie durch leere und überhebende Redensarten aus der Welt geschafft. Fraglicher erscheint der Vorschlag jenes Parteiblatts, sie ex cathedra durch einen Beschluss des Parteitags zu entscheiden. Unseres Erachtens werden sie gründlicher ausgerottet durch die Vernichtung ihrer Wurzeln, durch die erschöpfende Aufklärung über das, was die Arbeiterklasse überhaupt nur von Kapitalismus und Militarismus zu erwarten hat. In diesem Sinne begrüßen wir es gern, dass wenige Wochen nach den Wahlen, in denen über zwei Millionen Arbeiter die kategorische Forderung eines menschenwürdigen Daseins gestellt haben, die herrschenden Klassen, immer die Alten, unbelehrt und unbelehrbar, wieder angezogen kommen mit dem kultur- und volksfeindlichen Programm des Soldat Werdens, Steuer Zahlens und Maul Haltens.

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