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Franz Mehring 18980928 Kleinbürgerliche Reformlerei

Franz Mehring: Kleinbürgerliche Reformlerei

September 1898

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 225 u. 226, 28. u. 29. September 1898. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 244-250]

I

Unter dem Titel: Mehr Macht! hat Paul Kampffmeyer eben im Verlage der „Sozialistischen Monatshefte" ein Schriftchen veröffentlicht, das „kritische Streiflichter auf das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie" werfen soll. Bei ähnlichen Tendenzen, wie Heines Schrift über die preußischen Landtagswahlen, fasst Kampffmeyers Arbeit ihre Aufgabe viel gründlicher und schärfer an; es ist nicht ganz so leicht, ihre Trugschlüsse aufzudecken. Aber ebendeshalb ist es umso notwendiger, sich dieser Mühewaltung zu unterziehen, zumal das Schriftchen wohl nicht ohne besondere Absicht am Vorabend des Parteitages erschienen ist.

Als seinen Zweck gibt Kampffmeyer an, „das deutsche Proletariat zur schrankenlosen vollen Entfaltung seiner Kräfte zu ermuntern" und noch genauer „die niederdrückende lähmende pessimistische Stimmung zu verscheuchen, die vielfach in den Reihen der Sozialdemokratie über die Zwecke und Ziele der heutigen Sozialreform" herrsche. Er meint, den überzeugten radikalen Genossen erscheine oft die ganze Sozialreform mit ihren gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und arbeiterschutzgesetzlichen Bestrebungen als eine verlorene Liebesmühe; so wolle er dem in Not und Elend versinkenden Proletariat ein aufsteigendes, siegreich vordringendes Proletariat entgegenstellen, dem trostlosen Worte: Mehr Not! das hoffnungsreiche Wort: Mehr Macht! entgegen rufen, den langsamen, aber sicheren Fortschritt der Arbeiterklasse auf allen Lebensgebieten nachweisen.

Bis dahin lässt sich gegen Kampffmeyers Absicht nichts einwenden, vorausgesetzt, dass wirklich eine „lähmende pessimistische Stimmung" in der Partei vorherrschen sollte. Aber Kampffmeyer macht nun eine höchst eigentümliche Schwenkung mit der Behauptung, er wolle zugleich eine „klaffende Lücke" des Erfurter Programms ausfüllen, das zwar auf dem politischen Gebiete den Aufschwung des Proletariats völlig gelten lasse, aber auf ökonomischem Gebiete nur von mehr Not der Arbeiterklasse zu reden wisse, das den Arbeiter ökonomisch als verknechtet, heruntergekommen, machtlos, politisch aber als stark, kräftig und siegreich schildere. Er findet darin einen unversöhnlichen Widerspruch und fragt: Existiert denn wirklich kein inniger Zusammenhang zwischen der Politik und der Wirtschaft? Muss mit der wachsenden ökonomischen Knechtschaft des Proletariats nicht auch seine politische Unfreiheit zunehmen?

Nimmt man nun das Erfurter Programm zur Hand, so wird man vergebens nach der Unterscheidung zwischen ökonomischer Not und politischer Macht des Proletariats suchen, die Kampffmeyer darin entdeckt hat. Der einzige Satz, den er dabei überhaupt im Auge gehabt haben kann, lautet wie folgt: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein." Irgendein Unterschied zwischen ökonomischem und politischem Kampfe wird hier nicht gemacht, und wenn man durchaus einen derartigen Unterschied entdecken will, so könnte man höchstens sagen, dass die ökonomischen Kämpfe über die politischen Kämpfe gestellt würden, wie der Zweck über das Mittel. Will man sonst diesen Sätzen zu Leibe, so muss man bestreiten, dass politische Rechte und politische Macht die unentbehrlichen Voraussetzungen sind, um die kapitalistische Ausbeutung zu entwurzeln.

Und allerdings bestreitet dies Kampffmeyer. Er wendet sich gegen die „beliebte Phrase, dass auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft keine radikale Reform möglich" sei, und verlangt gerade die ökonomische Organisation des Proletariats, aus der dann seine politische Macht erwachsen werde. Er meint, im Zusammenhange mit den allgemeinen, ausebnenden Tendenzen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werde sich der heutige Klassenstaat stetig demokratisieren. Damit bestreitet Kampffmeyer das historische Entwickelungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise, wie es von Marx aufgestellt und in dem grundsätzlichen Teile des Erfurter Programms kurz zusammengefasst ist.

Man muss diese eigentliche Absicht Kampffmeyers scharf betonen, nicht etwa weil er sie leugnet, sondern weil er mit seinen Schlagworten: Mehr Not! und Mehr Macht! den vorhandenen Gegensatz ganz unrichtig formuliert. Was er aus dem Erfurter Programm herausliest, dass nämlich die kapitalistische Gesellschaft die Arbeiter nur entnerve und verelende, ist eine Ansicht, die seit den Tagen Weitlings, also seit reichlich einem halben Jahrhundert, in der deutschen Arbeiterklasse gänzlich erloschen ist. Schon in der ersten gemeinsamen Schrift von Engels und Marx, in der 1844 geschriebenen „Heiligen Familie", wird der Gedanke ausgeführt, dass gerade aus dem äußersten Masse der geistigen und moralischen Degradation, die von dem Kapitalismus über die Arbeiterklasse verhängt werde, ein Widerstand erwachse, der auf die Dauer die bürgerliche Gesellschaft sprengen müsse, und wie sehr sich dieser Gedanke seitdem als roter Faden durch die gesamte Literatur des wissenschaftlichen Kommunismus zieht, braucht an dieser Stelle nicht erst gesagt zu werden. Mehr Macht auch schon auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft für das Proletariat zu erwerben, verlangt das Erfurter Programm so dringend, wie es sein kritischer Beleuchter nur immer verlangen mag; was beide tatsächlich trennt, ist die Frage, ob diese Macht dazu dienen soll, die kapitalistische in die sozialistische Gesellschaft umzuwälzen oder aber dazu, auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft einem Bruchteile des Proletariats ein etwas erträglicheres Los zu bereiten. Proletarische Revolution oder kleinbürgerliche Reformlerei: Das ist der wirkliche Unterschied zwischen dem Erfurter Programm und seinem Kritiker Kampffmeyer.

Gleich im ersten Kapitel des Schriftchens, wo die Marxsche Entwickelungslehre unter Berufung auf Bernstein bekämpft wird, tritt dies Verhältnis schlagend hervor. Kampffmeyer will nachweisen, dass die industrielle Reservearmee die kraftvolle wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse nicht erdrücke, den ökonomischen und sozialen Aufschwung des Proletariats nicht niederhalte, und als ersten der Gründe, weshalb sie diese Wirkung nicht habe, führt er wörtlich an: „Ganze Klassen von überflüssigen Arbeitern bilden nach längerer Arbeitslosigkeit überhaupt keine Gefahr mehr für ihre beschäftigten Genossen. Sie werden Paupers und fallen der Armenpflege anheim." Was damit gegen die Marxsche Entwicklungslehre bewiesen werden soll, wissen wir nun freilich nicht; Engels hält diese Seite der Sache gerade an den englischen Verhältnissen, auf die sich auch Kampffmeyer bezieht, ausführlich beleuchtet und eben nur die Schlussfolgerung daraus gezogen, dass ein schlagenderer Beweis für die Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems sich gar nicht führen lasse. In der Tat, wenn sich eine Minderheit von Arbeitern innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ein halbwegs menschenwürdiges Dasein nur dadurch sichern kann, dass „ganze Klassen" des Proletariats Paupers werden, d. h. aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt: in einem Sumpfe von Elend und Verzweiflung, von moralischer und physischer Verzweiflung verkommen, so ist es keine „beliebte Phrase", sondern eine unumstößliche Tatsache, dass auf bürgerlichem Boden keine radikale Reform möglich, dass die einzige Rettung vielmehr die revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft ist.

Hat also Kampffmeyer die Marxsche Entwicklungslehre nicht im Entferntesten widerlegt, so sind wir ihm doch dankbar dafür, dass er einmal die Konsequenzen des von ihm vertretenen Standpunktes offen gezogen hat. Wir lassen hier die – von Engels verneinte – Frage ganz offen, ob selbst um den Preis der Verfaulung „ganzer Klassen" des Proletariats einer bevorzugten Minderheit von Arbeitern ein erträgliches Dasein in der kapitalistischen Gesellschaft dauernd gesichert werden könne; es genügt, dies echt kleinbürgerliche Ideal, das Zehntausende rettet, mögen auch Hunderttausende darüber zugrunde gehen, einmal offen aufzustellen, um die deutschen Arbeiter darüber zu orientieren, woran sie mit der Richtung sind, die von Kampffmeyer verteidigt wird.

II

Zur Eroberung der „ökonomischen Macht durch die Arbeiterklasse" empfiehlt Kampffmeyer in erster Reihe Gewerkschaften und Genossenschaften. Er irrt aber auch hier, wenn er sagt, „in der deutschen Sozialdemokratie bereite sich ein großer Umschwung in der Würdigung und Wertung der Gewerkschaften vor". Die Bedeutung der Gewerkschaften für den Emanzipationskampf des Proletariats ist in der Partei nur ganz vorübergehend und zeitweise unterschätzt worden; wenn die gewerkschaftliche Bewegung der Arbeiter in Deutschland verhältnismäßig zurückgeblieben ist, so trägt in erster Reihe daran die Schuld, dass, wie es im Erfurter Programm ganz richtig heißt, die Arbeiter ökonomische Kämpfe nicht führen können ohne politische Rechte. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Mit wahrer Ameisengeduld haben die deutschen Arbeiter ihre zerstörten Gewerkschaftsorganisationen immer und immer wieder von neuem zu bauen begonnen; untersucht man diese Dinge einmal genauer, so muss man staunen, dass sie es noch so weit gebracht haben wie gegenwärtig. An der „Würdigung und Wertung der Gewerkschaften" hat es ihnen nicht gefehlt, sondern an den politischen Rechten, ohne die keine großartigen gewerkschaftlichen Organisationen möglich sind.

Freilich sowenig wie die deutschen Arbeiter im großen und ganzen diese Waffe ihres Emanzipationskampfes unterschätzt haben, sowenig sind sie einer Überschätzung verfallen, wie jener von Rosa Luxemburg vor einigen Tagen in diesen Spalten abgetanen Utopie, wonach die Kapitalisten durch proletarische Gewerkschaften in aller Gemütlichkeit und Heimlichkeit abgemeiert werden könnten. Ebenso wenig haben die deutschen Arbeiter jemals an jener „begrenzten und selbstsüchtigen" Auffassung des Gewerkschaftswesens irgendwelchen Geschmack gefunden, die einer Minderheit der Arbeiter eine Art kleinbürgerlich-behäbigen Daseins sichern will, statt sich, wie schon der Genfer Kongress der Internationalen im Jahre 1866 verlangte, „auf die allgemeine Befreiung der niedergetretenen Millionen zu richten". Sicherlich ist ein Aufschwung der gewerkschaftlichen Organisation im Interesse der deutschen Arbeiterklasse dringend zu wünschen, aber der verkehrteste Weg zu diesem Ziele ist gerade gegenwärtig, nach der Rede des Kaisers in Oeynhausen, die Aufmerksamkeit der Arbeiter von ihren politischen Forderungen abzulenken. Haben die deutschen Arbeiter erst Koalitions- und Press- und Vereinsfreiheit, dann werden sie sich ihre gewerkschaftlichen Organisationen schon machen, aber umgekehrt wird nimmermehr ein Schuh daraus.

Die Genossenschaftsbewegung, die Kampffmeyer neben die Gewerkschaftsbewegung stellt, steht tatsächlich beträchtlich hinter ihr, soweit es auf den proletarischen Emanzipationskampf ankommt. Sie ist nicht so bedeutungslos, wie Lassalle seinerseits unter dem Eindrucke des ehernen Lohngesetzes annahm – darin hat Kampffmeyer gewiss recht –, und sie kann je nach Umständen zur Kräftigung der Arbeiterklasse beitragen, aber es kommt eben ganz auf die Umstände an. Sie unter allen Umständen „enthusiastisch zu begrüßen", wie Kampffmeyer verlangt, liegt durchaus kein Anlass vor, und gar die Hoffnung, auf genossenschaftlichem Wege die kapitalistische Ausbeutung nach und nach zu entwurzeln, ist womöglich eine noch kindlichere Utopie, als die gleiche auf gewerkschaftlichem Wege verfolgte Hoffnung. Daran ändern auch nichts die relativ hohen Ziffern des Umsatzes und des Gewinns, den die englischen Konsumvereine machen, denn, verglichen mit dem Umsatze und dem Gewinn des englischen Kapitals überhaupt, sind sie relativ winzig, so winzig, dass an ein Einholen oder gar Überholen schlechterdings nicht zu denken ist. Als Waffe des proletarischen Emanzipationskampfes steht die genossenschaftliche Bewegung durchaus in zweiter Reihe; sie vermag sich mit der gewerkschaftlichen und der politischen Bewegung weder an praktischer Schlagkraft noch an erzieherischem Einfluss, noch sonst in irgendeiner Beziehung zu messen.

Ein besonderes Kapitel widmet Kampffmeyer dann der „sozialen Macht der Arbeiterklasse", worunter er ihren Einfluss auf die Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten und Lebensanschauungen der Gesellschaft versteht. Er legt hohen Wert auf die soziale Wertung, die der moderne Arbeiter auf der Bühne genieße, wovon wir offen gestanden nichts wissen. Das Lumpenproletariat, in Ballonmützen wie in Seidenhüten, kommt auf der bürgerlichen Bühne zwar häufig und selbst unbillig häufig zum Worte, aber das arbeitende und kämpfende Proletariat haben wir, mit ganz wenigen Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen, noch nicht darauf gesehen, es sei denn in verzerrten Karikaturen. Das Schicksal der Freien Volksbühne, die Kampffmeyer in diesem Kapitel auch erwähnt, sollte ihn doch belehren, wie hoffnungslos das Proletariat die feste Burg berennt, die sich der Kapitalismus im heutigen Theater geschaffen hat. Man mag sonst zu der modernen Dichtung stehen, wie man will, aber selbst bei der größten Begeisterung für sie läuft es auf die reine Illusion hinaus, in diesem Zusammenhange von einer wachsenden Macht der Arbeiterklasse zu sprechen.

Erst danach, im letzten Kapitel seines Schriftchens, kommt Kampffmeyer „auf die politischen Aufgaben des Proletariats und die Eroberung der politischen Macht" zu sprechen. Es versteht sich, dass er nach Möglichkeit ein Zusammengehen der Sozialdemokratie mit den bürgerlich-radikalen Parteien empfiehlt. „Die Sozialdemokraten und die Liberalen empfinden vielleicht in einem gegebenen Falle den Konservativen als einen sehr lästigen, aufdringlichen Herrn, nun gut, so mögen sie ihm, wenn es ihr beiderseitiges Interesse erheischt, einen Fußtritt geben. Wir Deutschen theoretisieren aber so lange über diesen Fußtritt, bis wir den passenden Moment für ihn versäumt haben. Ja, ja, wir haben ganz ängstlich zu erwägen, ob wir nicht durch diesen Fußtritt korrumpiert werden. Gewiss, diese Korruption ist unsere gerechte Strafe, wenn wir schon in unserer politischen Überzeugung durch eine derartige klare, natürliche Handlung Schiffbruch erleiden." Wenn Kampffmeyer diese Sätze ernsthaft gemeint hat, woran doch nicht zu zweifeln ist, so wäre es interessant, von ihm aus der Geschichte des letzten Menschenalters auch nur einen einzigen „gegebenen Fall" angeführt zu hören, in dem die Liberalen der absolutistisch-feudalen Reaktion „einen Fußtritt geben" wollten und nicht die Sozialdemokratie sofort und ohne jedes „Theoretisieren" als geschlossene Masse hinter sich gehabt hätten. Nur einen einzigen Fall, und Kampffmeyer soll recht haben. Kann er das aber nicht, so wissen wir wirklich nicht, was er will. Denn dass die Sozialdemokratie sich ins Schlepptau der halben, kläglichen und verräterischen Opposition habe nehmen lassen sollen, die der Liberalismus seit einem Menschenalter der absolutistisch-feudalen Reaktion gemacht hat, kann er doch unmöglich gemeint haben.

Im Übrigen wünschen wir seinem Schriftchen die weiteste Verbreitung innerhalb der Partei. Das ist durchaus nicht ironisch gemeint, sowenig wir Kampffmeyers Ansichten teilen. Er ist ein zu begabter, ehrlicher und unterrichteter Schriftsteller, um nicht gründlich und klar die Richtung zu vertreten, die er für richtig hält. Und das ist unter allen Umständen ein großer Vorzug. Wie die richtige Stellung einer Frage immer schon ihre halbe Lösung ist, so ist das klare Heraustreten der kleinbürgerlich-reformlerischen Tendenz schon ihre halbe Überwindung. Was wir wirklich fürchten, ist nur die Unklarheit, und damit hat Kampffmeyer recht hübsch aufgeräumt.

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