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Franz Mehring 18980615 Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts

Franz Mehring: Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts

15. Juni 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 385-387. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 227-230]

Am Vorabend des entscheidenden Wahlkampfs hat es keinen Sinn mehr, Betrachtungen über seinen Ausfall anzustellen, die ohnehin an dieser Stelle erst das Licht der Welt erblicken würden, wenn die Leser längst über die Ergebnisse des 16. Juni unterrichtet sein werden. Eher empfiehlt sich ein Rückblick auf die historische Entwicklung des allgemeinen Wahlrechts, in dem Augenblick, wo es zum zwölften, und, wenn die heimlichen oder offenen Wünsche der herrschenden Klassen sich erfüllen ließen, zum letzten Male seines Amtes walten soll.

Man kann die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in vier Perioden teilen, deren jede je drei Wahlkämpfe umfasst. In der ersten Periode schien dies Wahlrecht die hinterhältigen Hoffnungen zu erfüllen, womit Bismarck sich zu seiner Einführung entschlossen hatte. Die Wahlen im Frühjahr 1867, im Herbste desselben Jahres und im Frühjahr 1871 verliefen nicht wesentlich anders als die Klassenwahlen zu den einzelstaatlichen Landtagen. Höchstens bei der ersten Wahl im Februar 1867 machte sich ein lebhafteres Interesse bemerkbar, nicht sowohl wegen der Neuheit der Sache, als weil es damals galt, die auf den böhmischen Schlachtfeldern gewonnenen Erfolge unter Dach und Fach zu bringen. Die Bourgeoisie hatte sich inzwischen mit Bismarck versöhnt, unter Preisgabe ihrer politischen Ideale; immerhin kam es ihr darauf an, einerseits ihre materiellen Interessen gegenüber dem Junkertum nach Möglichkeit zu sichern, andererseits den noch keineswegs ohnmächtigen Partikularismus niederzuhalten. Für die Arbeiterklasse war die erste Probe des allgemeinen Wahlrechts eine große Enttäuschung; am Rhein, in Hamburg und Umgegend, in einzelnen sächsischen und schlesischen Wahlkreisen brachte das klassenbewusste Proletariat zwar ganz namhafte Stimmenzahlen auf, doch an anderen Zentren der Arbeiterbewegung, wie in Frankfurt a. M. und in Berlin, erlitt es schwere Niederlagen. Die herrschende Klasse begann sich damals mit dem allgemeinen Wahlrecht anzufreunden; die Bourgeoisie meinte, es liefere ja so ziemlich dieselben Resultate wie die preußische Dreiklassenwahl, und begann damit zu renommieren, dass den Arbeitern dies „demokratische Grundrecht" freiwillig beschert worden sei; auch Bismarck sagte, der Reichstag sei doch eigentlich eine vornehmere Körperschaft als das preußische Abgeordnetenhaus.

Einzelne Unglückspropheten gab es freilich immer noch, die da brummten: Trau, schau, wem? so namentlich Treitschke, der Herold und Prophet des neuen Deutschen Reiches, aber die große Masse der Bourgeoisie war voller Seligkeit über das allgemeine Wahlrecht. Man höre nur, wie Bennigsen und Miquel in dem Programm der Nationalliberalen Partei vom Juni 1867 sich darüber ausließen. Sie schrieben: „Im Parlament erblicken wir die Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, solange Pressfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die Wahlen bürokratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Am Volke liegt es jetzt, für die Reinheit der Wahlen einzutreten; angestrengten Bemühungen wird es gelingen, seine Stimme wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen, und dann wird das allgemeine Wahlrecht das festeste Bollwerk der Freiheit sein, wird es die in die neue Zeit hineinragenden Trümmer des ständischen Wesens hinwegräumen und die zugesicherte Gleichheit vor dem Gesetz endlich zur Wahrheit machen." So Bennigsen und Miquel im Juni 1867. Wie man sieht, fürchteten sie damals, was heute ihr heißestes Sehnen ist: den Missbrauch des allgemeinen Wahlrechts durch die Bürokratie und die Polizei; die bonapartistischen Künste Bismarcks; was heute ihre größte Angst ist, der richtige Gebrauch des Wahlrechts durch die arbeitende Klasse, die „Reinheit der Wahl", durch die das „Volk" nach „angestrengten Bemühungen" seine Stimme „wahrheitsgetreu zum Ausdruck" bringt, schien ihnen so ganz außerhalb des Bereichs der Möglichkeit zu liegen, dass sie sich den kleinen Scherz erlaubten, ausdrücklich dazu aufzufordern. Zunächst aber spielten sie wirklich ungestraft mit dem Feuer; die Herbstwahlen des Jahres 1867 fanden unter großer Abspannung statt und unter noch größerer Abspannung die Frühjahrswahlen von 1871.

Die zweite Periode wurde mit den Wahlen von 1874 eröffnet. In ihnen sprach zum ersten Male das klassenbewusste Proletariat ein kräftiges Wort mit, und die herrschenden Klassen begannen ein Haar in dem allgemeinen Wahlrecht zu finden. Immerhin trösteten sie sich noch damit, dass es sich nur sozusagen um einen Schreckschuss gehandelt habe. Besonders beruhigend wirkte es auf sie, dass die sozialdemokratischen Erfolge nicht eigentlich in den großen Städten erkämpft worden waren, sondern namentlich in Schleswig-Holstein und im Königreich Sachsen; sogar die Unheilsunke Treitschke sagte, das sei die Erbschaft des Augustenburgers und Beusts, eine Arbeiterpartei, die sich mit dem partikularistischen Leichnam verbünde, habe keine Zukunft. Nur Bismarck sah die Sache mit anderen Augen an; sein Amt gab ihm den nötigen Verstand, um die drohende Gefahr zu erkennen, freilich auch den nötigen Unverstand, um sie mit der denkbar unsinnigsten Bannformel zu beschwören. Über das althergebrachte und längst gewohnte Maß hinaus begann er, die Arbeiterklasse zu drangsalieren, natürlich nur mit dem Erfolge, dass ihre politische Vorhut sich um so fester zusammenschloss und in den Wahlen von 1877 einen noch ungleich größeren Sieg erfocht als drei Jahre früher. Diesmal besonders in den großen Städten, womit all die faulen Redensarten hinfällig wurden, die der Bourgeoisie über die sozialdemokratischen Wahlerfolge von 1874 hatten hinweghelfen müssen. Im nächsten Jahre kam der Attentatsschwindel mit allem, was drum und dran hing; in den Wahlen von 1878 sollte die Sozialdemokratie betäubend aufs Haupt geschlagen werden. Wenigstens dies Zeugnis konnten sich die herrschenden Klassen geben, dass sie alles Menschenmögliche getan hatten, um das Unmögliche dennoch möglich zu machen; die Nationalliberale Partei war an der Spitze, die „Reinheit der Wahl" zu vernichten. Durch einen unerhörten Missbrauch aller bürokratischen, polizeilichen und nicht zuletzt auch kapitalistischen Machtmittel wurde die Arbeiterklasse in die Defensive geworfen, aber sie bestand die Defensivschlacht nicht minder rühmlich, als sie die Offensivschlachten von 1874 und 1877 bestanden hatte. Sie gab ihre Außenwerke freiwillig auf, um in ihren verschanzten Lagern den Feind desto nachdrücklicher zurückzuschlagen; sie konzentrierte ihren Widerstand auf etwa dreißig Wahlkreise, in denen sie sich mit äußerster Kraftanstrengung, aber glorreich genug behauptete.

Hatte sich die Arbeiterklasse das allgemeine Wahlrecht in dessen zweiter Periode zu ihrer schärfsten Waffe geschmiedet, so diente diese Waffe bei den drei nächsten Wahlkämpfen dazu, das Sozialistengesetz zu zerbrechen. Die Wahlen von 1881 fanden für die Arbeiter unter ähnlichen Verhältnissen statt wie die Wahlen von 1878, ja eher noch unter schwierigeren Verhältnissen. Mochte die Wut des Philisters, die in den Attentatswahlen lichterloh gebrannt hatte, inzwischen wesentlich abgekühlt worden sein, so besaß Bismarck dafür das Sozialistengesetz, um die „Reinheit der Wahl" bis zur Unkenntlichkeit zu trüben. Er hat es auch an nichts fehlen lassen, was ihm ermöglichen konnte, die Generalprobe des Ausnahmegesetzes zu bestehen, aber er fiel trotzdem mit Pauken und Trompeten durch. Mit ihren mehr als 300.000 Stimmen zerhämmerte die Sozialdemokratie jede Möglichkeit, sie gewaltsam auszurotten. Bismarck selbst sah das so weit ein, dass er zur „milden Praxis" seiner Korruptionstaktik überging, unter deren Zeichen die Wahlen von 1884 standen. Preußische Polizeipräsidenten erklärten die Sozialdemokratie für gar nicht so schlimm, und bei den Stichwahlen erfreuten sich einzelne sozialdemokratische Kandidaten der Unterstützung „reichstreuer" Stimmen. Jedoch das Resultat blieb für Bismarck dasselbe; nachdem die Sozialdemokratie seine Peitsche zerbrochen hatte, war sie für sein Zuckerbrot erst recht nicht zu haben. Sie merkte die Absicht, und ohne darüber verstimmt zu werden, durchkreuzte sie das saubere Spiel. So hatte Bismarck nur die Wahl, ein verzweifeltes Spiel zu spielen und durch den gigantischen Volksbetrug der Faschingswahlen sich noch eine kurze Daseinsfrist zu erkaufen. Dank der Dummheit und Feigheit des deutschen Philisters gelang ihm der ruchlose Humbug, aber was ihm nicht gelang, das war die Verzögerung des proletarischen Siegesmarsches auch nur um einen Augenblick. Mit jeder neuen Wahl der achtziger Jahre wuchsen die sozialdemokratischen Stimmen gewaltig an; es war allein eine Frage der Zeit, wie lange das Sozialistengesetz diesem intensiven Drucke widerstehen könne.

Dann brachten die Wahlen von 1890 die Entscheidung, und damit trat das allgemeine Wahlrecht in seine vierte Periode. Es ist heute das wichtigste Recht der Arbeiterklasse, und nach aller Voraussicht wird der 16. Juni abermals zeigen, mit welchem Eifer und Geschick die deutschen Arbeiter diese Waffe zu handhaben verstehen. Ebendeshalb konzentriert sich der Hass der herrschenden Klassen auf das allgemeine Wahlrecht, dessen Geschichte ihnen doch beweisen sollte, wie wenig sie mit aller Gewalt und List gegen die Arbeiterbewegung ausrichten. Wären sie noch fähig, logisch zu denken und zu handeln, so würden sie am allgemeinen Wahlrecht gerade deshalb festhalten, weil es selbst unter den heutigen Verhältnissen bis zu einem gewissen Grade den Interessen des Proletariats gerecht wird. Mit jedem Attentat auf dies Recht kämen sie nur tiefer in die Brüche.

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