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Franz Mehring 18990208 Das Dresdener Urteil

Franz Mehring: Das Dresdener Urteil

8. Februar 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 641-644. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 282-286]

Es ist heute unmöglich, über etwas anderes zu schreiben, als über den Spruch des Dresdener Schwurgerichts, der neun Arbeitern 53 Jahre Zuchthaus, 8 Jahre Gefängnis und 70 Jahre Ehrverlust zuerkannt hat, und es ist nicht minder unmöglich, noch ein Wort der Empörung zu finden, das nicht längst in der sozialdemokratischen Tagespresse ausgesprochen worden wäre. Denn von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, haben nur die Organe der Arbeiterklasse sich die Ehre und das Recht gewahrt, ungeschminkt zu sagen, was im Interesse der deutschen Nation, um ihres Rufes vor Mit- und Nachwelt willen gesagt werden musste, zu sagen, dass dem Dresdener Urteil der Stempel der Klassenjustiz breit auf die Stirne geprägt ist. Hier hat nicht die Rechtspflege eines zivilisierten Volkes gesprochen, sondern das Interesse der herrschenden Klassen; im heimlichen Gericht haben zwölf bürgerliche Geschworene und drei gelehrte Richter den Stab gebrochen über klassenbewusste Proletarier: nicht fiat justitia! steht in diesem Urteil geschrieben, sondern vae victis!1

Wie sich jene fünfzehn Männer vor ihrem Gewissen mit dem fürchterlichen Spruche abfinden werden, das ist ihre Sache. Zu glauben, dass sie wider ihre Überzeugung geurteilt hätten, wäre ein so schauerlicher Hohn auf die Menschheit selbst, dass dieser Glaube abgewiesen werden muss. Aber wenn sie nach ihrem besten Wissen und Gewissen ihren Spruch gefällt haben, dann sind sie nicht fähig gewesen, sich über ihre Klasseninteressen zu erheben, indem sie richterliche Funktionen ausübten. Man komme nicht mit dem Einwand, dass die dreitägigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattgefunden haben und niemand wissen könne, was an belastendem Material gegen die Angeklagten vorgebracht worden sei. Hat der Schwurgerichtshof beschlossen, im heimlichen Gericht zu tagen, allem Anschein nach unter unrichtiger und unzulässiger Anwendung der Bestimmungen, die in der Strafprozessordnung über den Ausschluss der Öffentlichkeit enthalten sind, so hat er sich selbst die Rechtswohltat abgeschnitten, dass die Gründe seines Spruches in der Öffentlichkeit nachgeprüft werden können. Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens hat von jeher als eine Bürgschaft unparteiischer Rechtspflege gegolten, und selbst die vormärzliche Reaktion hat sich in ihre unbedingte Notwendigkeit gefügt. Die Urteile heimlicher Gerichte, eben weil sie heimlich getagt haben, als unantastbar für die öffentliche Kritik hinzustellen, ist an und für sich schon eine widersinnige Forderung; sie ist es doppelt, wenn der Tatbestand so klar vor aller Welt Augen liegt wie in diesem Falle.

Unzweifelhaft hat wenigstens ein Teil der nunmehr Verurteilten gewisse Ausschreitungen begangen, die nach dem Strafgesetzbuch bestraft werden mussten. Es handelte sich um Gewalttätigkeiten, um eine Rauferei, die schließlich verlaufen ist, ohne dass eines Menschen Leib und Leben gefährdet worden wäre. Der misshandelte Bauunternehmer hatte durch törichtes Benehmen, durch Schimpfworte und blindes Schießen, die Leute schwer gereizt, die sich darnach tätlich an ihm vergriffen haben, und auch sonst standen ihnen mildernde Umstände zur Seite; sie kamen von einem Richtfest, wo reichlich gezecht worden war. Freilich den ersten Anlass zu dem Zusammenstoß hatten sie gegeben; sie waren auf den Bau des misshandelten Unternehmers gedrungen, um die auf diesem Bau beschäftigten Arbeiter, die über den nach schweren Kämpfen errungenen Zehnstundentag der Dresdener Bauarbeiter hinaus arbeiteten, zum Einstellen der Arbeit aufzufordern.

Für den, der Menschliches menschlich zu empfinden vermag, gehört auch diese Tatsache zu den mildernden Umständen. Jede Verkürzung des Arbeitstags ist für die Arbeiter ein so kostbares Gut, und sie zu erringen kostet sie so große Anstrengungen, dass nichts begreiflicher und natürlicher ist, als dass sie eifersüchtig über ihre Sicherung wachen. Das ist nicht nur ihr menschliches Recht, sondern auch ihre menschliche Pflicht; das Wohl und Wehe der Arbeiterklasse und damit auch jedes einzelnen Arbeiters hängt dermaßen von ihrer Solidarität ab, dass sie jeden Verstoß dagegen überaus schwer empfinden muss. Rein vom menschlichen Standpunkt aus lässt sich also das Eindringen der nunmehr verurteilten Arbeiter auf den fremden Bau, mag es auch gegen das Strafgesetz verstoßen haben, in hohem Grade entschuldigen; in unendlich viel höherem Grade, als sich der grundsätzliche Verstoß entschuldigen lässt, den gewisse Schichten der herrschenden Klassen gegen das Strafgesetzbuch begehen, indem sie ihre alberne und verbrecherische Duellprügelei als eine für sie heilige Ehrensache betrachten.

Aber ebendieser menschlich durchaus entschuldbare Teil ihres Vergehens ist den verurteilten Arbeitern zum Verhängnis geworden. Was darnach kam, der heftige Wortwechsel, die gegenseitigen Schimpfreden, und endlich die körperliche Misshandlung des Bauunternehmers, der die eingedrungenen Arbeiter „Einbrecher" und „Spitzbuben" geschimpft und zwei blinde Schüsse auf sie abgegeben hatte, alles das wäre nur als eine gewöhnliche Rauferei betrachtet und vermutlich mit verhältnismäßig gelinden Strafen geahndet worden. Allein der eigentliche Anlass des Streites, der Versuch klassenbewusster Arbeiter, „arbeitswillige" Kameraden zum Einstellen der Arbeiten zu veranlassen, hat jenes furchtbare Urteil veranlasst, das jedem fühlenden Menschen das Blut in den Adern gerinnen macht. Die Geschworenen und die Richter haben sich nicht in die Seelen der Angeklagten zu versetzen gewusst, sie haben nicht verstanden, dass die Angeklagten bei ihrem Eindringen auf den fremden Bau im Dienste hoher, für ihr ganzes Wohl und Wehe, nicht zuletzt auch für ihre geistige und sittliche Entwicklung wichtiger Interessen standen. Sie haben einseitig vom Standpunkte der besitzenden Klassen aus geurteilt, die in einer Beschränkung der Arbeitszeit eine Schädigung ihrer Klasseninteressen sahen, die in der „Arbeitswilligkeit", d. h. in dem Verzichte der Arbeiter auf jeden Widerstand gegen die äußerste Auspressung ihrer Arbeitskraft, ein Fundament der bestehenden Klassenherrschaft erblicken und demgemäß jeden Versuch, diese „Arbeitswilligkeit" einzuschränken, als ein Attentat auf die „heiligsten Güter" zu ahnden entschlossen sind. Das mag die Personen der Dresdener Geschworenen und Richter entschuldigen, insofern als sie unbewusst durch ihr Klasseninteresse vollständig blind gemacht worden sind für die Motive, aus denen heraus die Angeklagten gehandelt haben, aber objektiv wird ihr Urteil dadurch zur Klassenjustiz im furchtbarsten Sinne des Wortes.

Die Aufnahme, die es in den herrschenden Klassen gefunden hat, zeigt zur Genüge, wie vollständig das Rechtsgefühl in diesen Klassen schon korrumpiert ist. Dieselben Blätter, die sich seit Jahren fast in jeder Nummer die Lungen ausschreien über das dem französischen Kapitän Dreyfus zugefügte Unrecht, verzeichnen das Dresdener Urteil, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; hier und da wird ein leichter Ausdruck des Bedauerns oder der Verwunderung laut; diejenigen bürgerlichen Blätter, die ein ehrliches und offenes Wort des Protestes gegen den Spruch des Dresdener Schwurgerichtshofs auszusprechen wagen, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Umso tiefer hat das furchtbare Schicksal ihrer neun Kameraden in die Reihen der Arbeiterklasse eingeschlagen. Sie weiß die Justiz richtig zu würdigen, der diese Opfer gefallen sind. Sie muss das Unerträgliche dennoch ertragen, sie muss diese Männer, die im Eifer eines großen und notwendigen Kampfes gegen den starren Buchstaben des Gesetzes verstoßen haben, hinter den Mauern des Zuchthauses für lange Jahre, manche vielleicht für immer verschwinden sehen, aber sie kann ihren Weibern und Kindern den Ernährer ersetzen, und sie kann den Spruch aufheben, der diese Männer als ehrlos verfemt. Ehrlos mögen sie sein für die besitzenden Klassen; für die arbeitenden Klassen sind sie ehrlich, sind sie Märtyrer, denn vor dem vernichtenden Streiche, den die Klassenjustiz gegen sie geführt hat, verschwindet vollständig, was sie wirklich gefehlt haben.

Ja, sie sind die ersten Märtyrer des „Zuchthauskurses", der schon begonnen hat, ehe die „Zuchthausvorlage" noch das Licht der Welt erblicken konnte. Die Missgeburt soll ihren reaktionären Geburtshelfern schwere Sorgen machen; die geriebenste Pfiffigkeit der Gesetzestüftler erlahmt an der unmöglichen Aufgabe, die Koalitionsfreiheit mit Worten zu schützen und in der Tat zu erdrosseln. Mit dem Dresdener Urteil ist nun ein praktischer Anfang gemacht worden, der den Gesetzestüftlern alle weitere Mühe ersparen kann. Mit solcher Rechtsprechung würde die „Zuchthausvorlage" vollständig überflüssig werden. In dieser Beziehung hat das Dresdener Urteil eine Bedeutung, die noch weit über das schreckliche Los der neun vernichteten Menschenleben hinausreicht. Es ist ein Warnungssignal an die deutsche Arbeiterklasse, dass ihre ganze Zukunft auf dem Spiele steht und leicht verloren gehen kann, wenn sich das gesamte Proletariat nicht zum entschlossensten Widerstand aufzuraffen versteht. Die herrschenden Klassen denken gar nicht daran, freiwillig auch nur auf ein Bruchteilchen ihrer Vorrechte zu verzichten; sie schlagen, wie das Dresdener Urteil zeigt, unbarmherzig darein, wo sich die beherrschten Klassen auch nur die kleinste Blöße geben; sie sind nicht sentimental, und die Arbeiter sollten sich auch gründlich frei machen von aller Sentimentalität; ihr Klassenkampf wird nie zum Siege gelangen, es sei denn, er werde mit höchster Besonnenheit zwar, aber auch mit höchstem Nachdruck geführt.

Gewiss mahnt das Dresdener Urteil zur höchsten Besonnenheit; die Arbeiter müssen alles vermeiden, was die formelle Handhabe zu ähnlichen Urteilen geben könnte. Aber wer nur diese Folgerung aus dem Spruche des Schwurgerichtshofs zöge, der würde sehr einseitig, sehr falsch, sehr ungerecht urteilen, der könnte ebenso gut zu dem Schlusse kommen, dass es überhaupt am klügsten wäre, den proletarischen Klassenkampf einzustellen. Nein, das darf den neun Opfern des Dresdener Urteils nie vergessen werden – und ebendeshalb sind sie Märtyrer ihrer Klasse –, dass, was sie gefehlt haben, aus einem braven, ehrlichen und gerechten Beweggrunde gefehlt worden ist. Ist es notwendig, besonnener zu handeln, als sie gehandelt haben, so ist es auch notwendig, in vorsichtigeren Formen die Sache selbst umso nachdrücklicher zu vertreten. Das Dresdener Urteil ist eine furchtbare Erinnerung, endlich einmal mit allen Illusionen darüber aufzuräumen, als könne und werde der proletarische Klassenkampf in einer gewissen Gemütlichkeit an sein Ziel gelangen; es reißt alle verhüllenden Schleier von dem wahren Gesicht der herrschenden Klassen und zeigt dem Proletariat dies Gesicht in all seiner abschreckenden Hässlichkeit. Wenn es wirklich, wie der Aufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sagt, in Millionen Herzen eine Drachensaat des Hasses erwecken würde, so litten seine unglücklichen Opfer nicht ungesühnt.

1 fiat justitia (lat.) - die Gerechtigkeit möge herrschen! vae victis (lat.) - wehe den Besiegten!

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