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Franz Mehring 18990329 Ein opportunistischer Anfang

Franz Mehring: Ein opportunistischer Anfang

29. März 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 287-291]

Die sozialdemokratische Tagespresse unterzieht den Beschluss des Parteivorstandes, in der Zusammenstellung „Unterm neuesten Kurse" das Dresdener Urteil fortzulassen, einer sehr lebhaften Erörterung. Der „Vorwärts", der seinerseits auch den Beschluss missbilligt, findet dennoch die „hochpolitische, leidenschaftliche Erörterung" nicht am Platze, und wir sind gern bereit, die „Leidenschaft" daranzugeben. Aber „hochpolitisch" ist die Sache allerdings, sogar in höherem Grade politisch als irgendeine andere Frage, die augenblicklich die Partei beschäftigen mag. Sie ist einfach ein opportunistischer Anfang, wie er in den sechsunddreißig Jahren der bisherigen Parteigeschichte noch nicht dagewesen ist, und hier heißt es, wenn irgendwo: Principiis obsta! widerstehe den Anfängen! Man kann die Sache ohne alle „Leidenschaft", man kann sie ohne jeden Angriff auf Personen behandeln, aber man muss sie mit allem ersinnlichen Nachdruck erörtern, wenn ein sonst unverwindlicher Schaden verhütet werden soll.

In der Erklärung, die der Parteivorstand zur Rechtfertigung seines Beschlusses erlassen hat, wird gesagt, die Rubrik: Unterm neuesten Kurse sei eingerichtet worden, um „alle im Zusammenhange mit unserer Parteibewegung erfolgten Verurteilungen und Verfolgungen zu registrieren". Sowenig nun auch der Parteivorstand daran zweifle, dass die in dem Dresdener Urteil ausgesprochenen furchtbar hohen Strafen nur in den besonders in Sachsen auf die Spitze getriebenen Klassenvorurteilen ihre Erklärung finden könnten, so stehe doch auch fest, dass die auffallend hart geahndete Straftat nicht in dem geringsten direkten Zusammenhang mit der sozialdemokratischen Parteibewegung stehe. Der Parteivorstand meint, unsere Gegner, die Scharfmacher, möchten mit allen Mitteln den Glauben erwecken, als sei der Löbtauer Krawall eine notwendige Folgeerscheinung der sozialdemokratischen Agitation, und die Partei hätte gewiss keinen Anlass, für diese planmäßige Fälschung der öffentlichen Meinung unseren giftigsten Gegnern einen willkommenen Vorwand zu bieten. Der Parteivorstand habe alles mögliche getan, um nach dem Erlass des Dresdener Urteils das Los der armen Opfer und ihrer Angehörigen zu mildern, aber sosehr er diese Pflicht anerkannt habe, sowenig sei er geneigt, die Straftat zu beschönigen oder gar als mit der Parteibewegung zusammenhängend erscheinen zu lassen.

Da der Parteivorstand seine Absicht bei Einrichtung der Rubrik: Unterm neuesten Kurse ausdrücklich dahin erläutert, dass er „alle im Zusammenhange mit unserer Parteibewegung erfolgten Verurteilungen und Verfolgungen registrieren" wolle, so zweifeln wir nicht daran, dass er diese Absicht ursprünglich gehabt und auch so ausgesprochen hat. Jedenfalls hat er sie dann aber sehr bald erweitert. Die Rubrik: Unterm neuesten Kurse war noch nicht ein Jahr alt, als der Parteivorstand in seinem vom 12. Oktober 1891 datierten Bericht an den Erfurter Parteitag folgendes schrieb: „An Anklagen und Verfolgungen gegen unsere Genossen war das letzte Jahr überaus reich, und beweist wohl nichts besser das Irrtümliche der Anschauung, als befänden wir uns wirklich unter einem ‚Neuen Kurs', als nachfolgende Zusammenstellung der Geld- und Gefängnisstrafen, welche in den elf Monaten seit dem Parteitag in Halle gegen unsere Parteigenossen erkannt worden sind. Bemerkt sei dabei, dass diese Zusammenstellung auf Vollständigkeit durchaus keinen Anspruch machen kann. Die darin aufgeführten Zahlen sprechen aber auch in ihrer Unvollständigkeit deutlich dafür, dass auch ohne Ausnahmegesetz unser ‚Gemeines Recht' mehr als genügend Handhabung bietet, gegen die ‚Ausschreitungen der Sozialdemodemokratie' vorgehen zu können. Urteile, wie sie gegen die streikenden Kohlenbergarbeiter in den rheinisch-westfälischen Bezirken oder gegen unseren Genossen Max Baginski in Schlesien gefällt worden sind, zeigen, was findige Richter und Staatsanwälte aus unseren Strafgesetzparagraphen zu machen verstanden." Dann folgt die Tabelle selbst, und in unmittelbarem Anschluss daran heißt es weiter: „Mit Ausnahme von ein paar Fällen treffen diese Strafen ausschließlich Parteigenossen, alle aber stehen in engstem Zusammenhange mit der sozialdemokratischen bzw. gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung." Hier hat also der Parteivorstand seine ursprüngliche Absicht bei Einrichtung der Rubrik: Unterm neuesten Kurse wesentlich ausgedehnt: Sie soll nicht sowohl eine statistische Übersicht als eine tatsächlich schneidende Kritik der Klassenjustiz sein, und sie soll sich nicht bloß auf Parteigenossen erstrecken, sondern alle Fälle umfassen, die im engsten Zusammenhange mit der sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung stehen.

Aber auch dies Programm ist noch ausgereckt worden. In dem vom Oktober 1893 datierten Berichte des Parteivorstandes an den Kölner Parteitag heißt es: „Neben jenen Genossen, welche ein übermütiges Protzentum durch Stockprügel auf den Magen für die Betätigung einer selbständigen Gesinnung strafen zu müssen glaubte, haben wir noch jener zu gedenken, die in dem großen Befreiungskampfe der arbeitenden Klasse mit dem einen oder dem anderen Paragraphen der von der herrschenden Klasse geschaffenen Polizei- und Strafgesetze in Kollision geraten sind. Die Zahl dieser Opfer anzugeben, sind wir außerstande, aber über die Höhe und den Umfang der in den letzten zwölf Monaten erkannten Strafen gibt die nachstehende Tabelle Auskunft." Nach Mitteilung dieser Tabelle heißt es dann weiter: „Bemerken wollen wir, dass in der vorstehenden Tabelle auch die Strafen der so genannten ‚unabhängigen' Sozialisten und Anarchisten aufgenommen sind. Besonders die im Monat Juni aufgeführten vierzehn Jahre Zuchthaus sind vom Reichsgericht gegen Anarchisten wegen so genannter hochverräterischen Taten erkannt. Flugblätter und Zeitungsnummern mit dem bekannten provokatorischen Inhalt, unter Beihilfe von Polizeiagenten hergestellt und verbreitet, gaben den Anlass zu dem Prozess und den schweren Strafen. Die sieben Jahre und ein Monat Zuchthaus im Monat Oktober resultieren aus den berüchtigten Meineidsprozessen in Magdeburg. Insgesamt sind seit Erlöschen des Sozialistengesetzes im Herbst 1890 wegen ‚Vergehen und Verbrechen', die im engsten Zusammenhange mit der politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung stehen, von ‚Rechts wegen' von deutschen Richtern erkannt worden: 293 Jahre und 5 Tage Freiheits- und 70 772,20 Mark Geldstrafen. Ohne dass wir nun jede einzelne Tat, welche vor den Strafrichter führte, billigen oder sie auch nur als im Interesse der Arbeiterbewegung geschehen anerkennen möchten, so steht doch fest, dass die übergroße Mehrzahl der Strafen nur hat erkannt werden können, weil wir in einem Klassenstaat und unter einer Klassengesetzgebung leben." In diesem Bericht sind alle Gesichtspunkte hervorgehoben, die seitdem für die Zusammenstellung der Rubrik: Unterm neuesten Kurse maßgebend gewesen sind.

Es sind ihrer namentlich drei. Erstens soll die Rubrik nichts sein als eine Kritik des Klassenstaats und der Klassenjustiz. Zweitens soll sie nicht bloß Fälle registrieren, die Parteigenossen betroffen haben, sondern alle Verurteilungen, die im engsten Zusammenhange mit der politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung stehen. Dieser Zusammenhang wird einerseits auch auf nicht politische „Vergehen oder Verbrechen", wie Meineide, andererseits selbst auf erbitterte Feinde der Sozialdemokratischen Partei, die Anarchisten, ausgedehnt. Drittens aber lehnt der Parteivorstand ausdrücklich jede moralische Verantwortung für die angeblichen oder wirklichen Straftaten ab, deren Bestrafung er in jener Rubrik bucht; er sagt einfach: Es mögen Dinge dabei unterlaufen, die nicht zu billigen sind und die gar nicht im Interesse der Arbeiterbewegung liegen, aber ich will mich keineswegs als oberste Instanz über die Gerichte des Landes setzen, sondern nur in einem übersichtlichen Bilde zeigen, in welchem Umfange die Klassenjustiz des Klassenstaats angespannt wird, um die Arbeiterbewegung zu verfolgen. In diesem Sinne ist die Rubrik: Unterm neuesten Kurse mindestens seit dem Kölner Parteitage, also seit mehr als fünf Jahren, eingerichtet, und in diesem Sinne ist sie auch stets von der Partei verteidigt worden, wenn die Scharfmacher die „Ehrentafel" gerichtlich bestrafter „Subjekte" denunzierten oder bürgerliche Philister darüber lamentierten als über eine angebliche Verhöhnung der nationalen Rechtsprechung.

Darnach kann es aber nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die Opfer des Dresdener Urteils auf die „Ehrentafel" gehörten. Zwar meint der Parteivorstand, dass „die so auffallend hart geahndete Straftat nicht in dem geringsten direkten Zusammenhange mit der sozialdemokratischen Parteibewegung" stehe. Was sich über diese Behauptung an und für sich sagen ließe, ist an dieser Stelle wiederholt so ausführlich gesagt worden, dass nicht nochmals darüber gesprochen zu werden braucht. Mag man aber auch bereitwillig zugeben, dass der Parteivorstand den Worten nach recht hat, dass also die Opfer des Dresdener Urteils weder zur Sozialdemokratischen Partei gehören noch bei den Taten, wegen deren sie verurteilt sind, im sozialistischen Interesse gehandelt haben, so hat das mit der Frage, um die es sich hier handelt, nicht das mindeste zu tun. Nach der bisherigen Praxis des Parteivorstandes genügt es vollkommen, dass die Dresdener Verurteilten Opfer der Klassenjustiz sind. Die Handlungen, wegen deren sie verurteilt worden sind, stehen jedenfalls im engsten Zusammenhange, wenn nicht mit der sozialdemokratischen, so doch mit der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung; die Löbtauer Bauarbeiter haben den ersten Anstoß zu ihren Ausschreitungen durch ein sehr berechtigtes, gewerkschaftliches Interesse erhalten, und sie sind zu „furchtbar hohen Strafen" verurteilt worden, nicht wegen dieser sehr unberechtigten Ausschreitungen, sondern wegen deren erstem sehr berechtigten Anstoß; ein derartiger Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung ist unseres Erachtens sogar sehr viel enger, als er bei den „so genannten hochverräterischen Taten" von Anarchisten bestand, die sich von polizeilichen Lockspitzeln hatten hineinlegen lassen. Es ist schließlich auch klar, dass der Parteivorstand durchaus keine „Geneigtheit" bezeigt haben würde, „die Straftat zu beschönigen", wenn er das Dresdener Urteil in die Rubrik: Unterm neuesten Kurse aufgenommen hätte; hat er doch oft genug und in vollkommener Wahrhaftigkeit versichert, er übernehme keine moralische Verantwortung für die angeblichen oder wirklichen Straftaten, deren strafrechtliche Ahndung er in der „Ehrentafel" verzeichne.

Außer diesen hinfälligen Gründen führt der Parteivorstand für seine Unterlassung aber noch einen triftigen Grund an, einen ebenso triftigen wie traurigen Grund. Er sagt: Da die Scharfmacher mit allen Mitteln den Glauben erwecken möchten, als sei der Löbtauer Krawall eine notwendige Folgeerscheinung der sozialdemokratischen Agitation, so habe er, der Parteivorstand, gewiss keinen Anlass, für diese planmäßige Fälschung der öffentlichen Meinung unserer giftigsten Gegner einen willkommenen Vorwand zu bieten. Also aus Scheu vor „der planmäßigen Fälschung der öffentlichen Meinung" durch die „giftigsten Gegner" der Partei weicht der Parteivorstand aus einer Position zurück, die er seit langen Jahren aus prinzipiellen Gründen eingenommen und verteidigt hat. Das ist ein noch nicht dagewesener Fall des schlimmsten Opportunismus. Unter welcher Leitung die Partei oder ihre einzelnen Fraktionen immer gestanden haben mögen: Es ist stets ein unwandelbarer Grundsatz der Parteitaktik gewesen, verleumderischen Angriffen der Gegner nie auch nur ein Atom des Prinzips zu opfern.

Man mag unsertwegen darüber streiten, ob die Rubrik: Unterm neuesten Kurse überhaupt als offizielle Parteisache eingerichtet werden musste. Nicht als ob wir an ihrer Notwendigkeit oder Nützlichkeit zweifelten, aber wir verstehen, wenn man etwa sagt, von einer gar so großen Wichtigkeit sei die Sache doch nicht, um darum leidenschaftlich zu kämpfen, wie um eine hochpolitische Frage. Ganz etwas anderes ist es jedoch, wenn der Parteivorstand diese, gleichviel ob richtige oder unrichtige, ob wichtige oder unwichtige Position seit Jahren eingenommen und mit wohlerwogenen Gründen verteidigt hat und sie nun in einem einzelnen Falle aus Scheu vor den Fälschungen und Verleumdungen giftiger Gegner räumt. Da heißt's einfach: Um einen Strohhalm groß sich regen, steht Ehre auf dem Spiel. Und so betrübend der Beschluss des Parteivorstandes sein mag, so ist es doch höchst erfreulich, dass die sämtlichen Tagesblätter der Partei – soviel wir sehen, mit einer einzigen Ausnahme – einstimmig erklären: Daran wollen wir keinen Teil haben.

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