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Franz Mehring 18991122 Nach der Entscheidung

Franz Mehring: Nach der Entscheidung

22. November 1899

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 257-260. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 311-315]

So jämmerlich und kläglich die Zuchthausvorlage gelebt hat, so jämmerlich und kläglich ist sie gestorben. Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen; in einer einzigen, dramatisch sich abspielenden Sitzung wurde sie zerrissen, und ihre Fetzen flogen ihren Urhebern ins Gesicht. Graf Posadowsky quittierte darüber in dankenswerterweise durch einen Ausbruch unverhohlener Wut, und die Sozialdemokratische Partei durfte in ihre Jahrbücher einen neuen Sieg eintragen, den die deutsche Arbeiterklasse unter ihrer Führung erfochten hat.

Denn ihr gebührt der Siegeslorbeer, und nicht etwa den bürgerlichen Parteien, die im Reichstag die Entscheidung gegen die Zuchthausvorlage gegeben haben. Hätten diese Parteien den Ehrgeiz besessen, aus eigener Kraft das Attentat auf die Koalitionsfreiheit der Arbeiter abzuwehren, so hatten sie dazu vollkommen freie Hand, als die Vorlage im verflossenen Frühjahr zur ersten Lesung stand. Indem sie die zweite Lesung auf den Herbst verschob, bekundete die bürgerliche Reichstagsmehrheit deutlich genug, dass sie, wenn es irgend menschenmöglich sei, die Koalitionsfreiheit gern beschneiden wolle. Die Lust dazu ist ihr nun vergangen, nachdem die Arbeiter den Aufschub der endgültigen Entscheidung dazu benützt haben, ihre unabänderliche Willensmeinung in der unzweideutigsten Weise kundzutun, und somit fällt das Verdienst an der gründlichen Niederlage der Regierung nicht auf Seite derer, denen erst in der zwölften Stunde mit Mühe und Not die Verrätereien ausgetrieben worden sind, womit sie noch in der elften Stunde umgegangen waren.

Es ist menschlich begreiflich und in gewisser Beziehung sogar ein schönes Zeugnis für die Unverwüstlichkeit der idealen Gesinnung, die in der Arbeiterklasse lebt, dass in manchen Arbeiterblättern die Beseitigung der Zuchthausvorlage als ein großes Verdienst des Reichstags gefeiert wird. Gewiss, es wäre vortrefflich, wenn der Reichstag ein für allemal den ewigen Anfechtungen der Arbeiterrechte ein unerschütterliches Veto entgegensetzen würde, aber daran ist vorläufig nicht zu denken. In diesem Sinne haben wir schon vor acht Tagen vor einer „übertriebenen Wertschätzung des scheinbaren Erfolgs" warnen zu müssen geglaubt, für den Fall, dass der Reichstag die Zuchthausvorlage in den Papierkorb werfen würde. Reell ist der erfochtene Erfolg insofern; als die Freisinnige, die Ultramontane und zum Teil selbst die Nationalliberale Partei dem unzweideutigen Willen des deutschen Proletariats nicht zu trotzen gewagt haben, obgleich in ihnen allen liebäugelnde Blicke nach der Zuchthausvorlage geworfen worden sind. Aber es ist die „übertriebene Wertschätzung eines scheinbaren Erfolgs", wenn die Niederlage der Posadowsky und ihrer Hintermänner als ein umwälzendes parlamentarisches Ereignis betrachtet wird. Diese Illusion zerfließt vor einer nüchternen Prüfung der Tatsachen.

Gerade das dramatisch effektvolle Begräbnis der Zuchthausvorlage beweist das Gegenteil dessen, was es nach der enthusiastischen Auffassung der Sache beweisen soll. Der überraschende Effekt entsprang nicht einem Überwallen der moralischen Entrüstung, sondern der wenig erbaulichen Tatsache, dass am Morgen des Tages, der die Entscheidung brachte, noch kein Mensch wusste oder wissen konnte, wie das Zentrum beschließen würde. Dass sich die „maßgebende" Partei am letzten Ende entschlossen hat, den Stier doch lieber nicht bei den Hörnern zu packen, ist ja ganz verständig gehandelt, aber damit sind die früheren Verrätereien dieser Partei sowenig gesühnt wie ihre künftigen Verrätereien ausgeschlossen. Sehr viel klarer und richtiger als die Sänger der Jubelhymnen scheinen uns diejenigen die gegenwärtige Sachlage zu beurteilen, die da sagen: Die Ablehnung des Zuchthausgesetzes ist sehr schön, aber der Sieg hinkt auf einem lahmen Beine einher; aus dem Grabe der Zuchthausvorlage steigt siegreich die Flottenvorlage. Unendlich viel näher als die Annahme, dass die kaltblütigen Geschäftsleute des Zentrums aus lauterer, patriotischer und sittlicher Entrüstung das Attentat auf das Koalitionsrecht vereitelt haben, liegt die Argumentation: Da die Ultramontanen in der Flottenfrage zum zweiten Male umzufallen gedenken, so haben sie es für nötig erachtet, sich durch die Verwerfung der Zuchthausvorlage – die ohnehin in den Hintergrund gedrängt war, seitdem die Marinepuschel wieder hoch in den Lüften weht – zunächst einmal als Vorkämpfer für „Wahrheit, Freiheit und Recht" frisch aufzulackieren.

Ob die Rechnung just schon in dieser einfachen oder in einer etwas komplizierteren Form gemacht worden ist, das kann ganz dahingestellt bleiben: So viel ist gewiss, dass die Schatten der kommenden Flottenforderungen das Schicksal der Zuchthausvorlage beeinflusst haben. Denjenigen bürgerlichen Parteien, die noch schwankten, ob sie nicht wagen dürften, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter zu vernichten, ist doch der Atem ausgegangen bei der Vorstellung, die ungeheuerliche Flottenlast zugleich auf die Schultern des entrechteten Proletariats zu wälzen. Sie haben sich dabei getröstet mit dem alten Worte: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Statt mit der Zuchthausvorlage den uferlosen Flottenplänen einen Knüttel zwischen die Beine zu werfen, halten sie es für pfiffiger, erst die uferlosen Flottenpläne durch den Reichstag zu bugsieren, in deren Kielwasser dann ja auch wieder die Zuchthausvorlage in verbesserter Gestalt heranschwimmen kann. Und die Pfiffigkeit dieser Rechnung ist gewiss nicht zu bestreiten. Hat sich der Reichstag erst in den Flottenfragen so gänzlich die Hände gebunden wie längst schon in den Heeresfragen, so ist es mit seiner Widerstandskraft überhaupt nicht mehr weit her, und die groß-industriellen Scharfmacher haben dann mit allen ihren hinterlistigen Plänen gegen die Arbeiterklasse umso leichteres Spiel. Mit den kolossalen Profiten der Flottenpolitik in der Tasche werden die dreisten Patrone nicht wissen, was sie vor Übermut anstellen sollen.

Hieraus ergibt sich schon, dass so wenig wie ihrerzeit mit der Abwürgung der Umsturz-, so jetzt mit der Abwürgung der Zuchthausvorlage eine wirkliche Wende des Weges erreicht ist. Man kann sich aus vollem Herzen des entschlossenen und unbeugsamen Widerstands freuen, den die Arbeiter der Antastung ihres Koalitionsrechts entgegengesetzt haben, und man kann große Genugtuung darüber empfinden, dass der Wechselbalg gar so kläglich verendet ist, aber man darf nicht übersehen, dass während dies eine Scheusälchen, das die Reaktion geboren hat, noch verscharrt wird, schon ein anderes Scheusälchen aus ihrem fruchtbaren Schoße ans Tageslicht drängt, das von der Arbeiterklasse nicht minder rücksichtslos ums Leben gebracht werden muss. Den Kampf, den die Arbeiter gegen die Zuchthausvorlage geführt haben, müssen sie mit demselben Nachdruck gegen die uferlosen Flottenpläne fortsetzen, wenn sie nicht halbe Arbeit gemacht haben wollen. Alles Zaudern und Zögern wäre hier vom größten Übel; die großindustriellen Scharfmacher müssen auf jedem Gebiete geschlagen werden, wo sie gegen die Arbeiterklasse vorgehen, gleichviel ob sie ihre Schröpfköpfe hier oder dort ansetzen wollen.

Allerdings werden die Arbeiter von zwei sehr verschiedenen bürgerlichen Parteien oder wenigstens Parteigruppen haranguiert, sich freiwillig auf dem Altar der uferlosen Flottenpläne zu schlachten. Die eine dieser Gruppen ist der Nationalsoziale Verein, der ebenso arbeiter- wie flottenfreundlich sein und die Quadratur des Kreises dadurch herstellen will, dass er die ungezählten Milliarden der Flottenkosten durch eine Erbschaftssteuer aufzubringen, also den besitzenden Klassen aufzubürden vorschlägt. Wir zweifeln nun keinen Augenblick daran, dass es mit diesem Vorschlage ehrlich gemeint ist und dass, wenn die Handvoll Nationalsozialer darüber zu entscheiden hätte, die Sache so gemacht werden würde, wie sie verlangen, vorausgesetzt, was allerdings eine ganz illusionäre Voraussetzung sein würde, dass dann die großindustriellen Scharfmacher überhaupt noch mit ihren uferlosen Flottenplänen hausieren würden. Allein die Nationalsozialen haben auch nicht das Gewicht einer Federflocke in die Waagschale zu werfen, wenn es sich um die Frage handelt, wie die enormen Kosten der uferlosen Flottenpläne gedeckt werden sollen; sie haben nicht über eine Stimme im Reichstag zu verfügen und können nicht einmal den schüchternsten Protest loslassen, wenn die Arbeiterklasse für die Flottenpolitik der großindustriellen Scharfmacher bluten soll. Würde der Nationalsoziale Verein unter diesen Umständen sagen: Wir möchten sehr gern für die uferlosen Flottenpläne eintreten, wenn wir eine sichere Bürgschaft hätten, dass ihre Kosten von den besitzenden und nicht von den arbeitenden Klassen aufgebracht werden sollen, so wäre diese Politik in ihrer Art wenigstens konsequent. Allein der Nationalsoziale Verein stößt mit voller Lungenkraft in die Flottentrompete der großindustriellen Scharfmacher und murmelt nur nebenbei etwas von der Deckung der Kosten durch eine Erbschaftssteuer, von der jedes Kind weiß, dass sie die bürgerliche Reichstagsmehrheit nun und nimmer annehmen wird. Zu dieser Politik der Kinderstube wird sicherlich auch nicht ein klassenbewusster Arbeiter persuadiert werden.

Wie der Nationalsoziale Verein, so will auch die Freisinnige Vereinigung, gewissermaßen sein politisch-sozialer Gegenfüßler, zur Rechten auf eine gewaltige Kriegsflotte und zur Linken auf die Sozialdemokratische Partei gestützt, das zwanzigste Jahrhundert in die Schranken fordern. Diese freisinnige Schattierung enthält bekanntlich die fine fleur1 des manchesterlichen Liberalismus, wenig Volk, aber viel Offiziere, und hohe Offiziere, lauter Ministerkandidaten aus weiland Kaiser Friedrichs Zeit, die auch heut wohl nicht abgeneigt wären, die ministerielle Erbschaft des Zickzackkurses zu liquidieren. Sei es nun im Vorspuk dieser Herrlichkeit, sei es aus allgemeiner kapitalistischer Gesinnung, jedenfalls denken die Herren Rickert und Genossen nicht daran, sich auf eine Erbschaftssteuer festzulegen; dabei soll es nach ihrer Meinung schon bleiben, dass die misera contribuens plebs2 für die noch so kolossalen Flottenkosten aufzukommen hat. Sie sagen nur von ihrem Standpunkt aus: Nach nunmehr dreißigjähriger Erfahrung fällt der deutsche Michel regelmäßig um, wenn der Reichstag in militärischen und marinistischen Fragen nicht unbedingt kuscht. Die paar kleinen Abstriche, die er etwa am Militär- und Marineetat machen darf, ohne dass sofort der Konflikt da ist, sind nicht der Rede wert; versuchen wir's also einmal, ob wir mit unbedingter Ergebenheit in Molochs Willen nicht einmal zu ministerieller Herrlichkeit gelangen können. Aber um bei diesem Vormarsch die verdammten Junker im Schache zu halten, brauchen wir den sozialdemokratischen Sturmbock; versöhnen wir uns demgemäß mit den verrufenen Umstürzlern, die bei Licht besehen ganz nette Leute sind! Dieser famose Plan wurde auf der Generalversammlung der Freisinnigen Vereinigung, die kürzlich hier tagte, mit ungemeiner Verve entwickelt, und die Aussicht ist gewiss sehr groß, dass die deutsche Arbeiterklasse sich unter Molochs Joch beugen wird, bloß für den in irgendwelcher geheimnisvollen Zukunft dämmernden oder auch nicht dämmernden Genuss, auf den Stühlen der Hohenlohe und Miquel einmal die Rickert und Schräder prangen zu sehen.

Ohne Zweifel sitzen in dem Nationalsozialen Verein wie in der Freisinnigen Vereinigung sehr gescheite Leute; umso bezeichnender sind die unglaublichen Kindereien, auf die sie verfallen, um der Arbeiterklasse die uferlosen Flottenpläne schmackhaft zu machen. Nach dem Anschein, den die Dinge in den letzten Wochen gewonnen haben, wird der deutsche Michel von der Freisinnigen Vereinigung nicht zu pessimistisch eingeschätzt; vielleicht bildet die Flottenfrage den reaktionären Klassen eine Art Aussicht, doch noch einmal einen Kartellreichstag zusammenzutrommeln. Umso notwendiger ist es aber für das Proletariat, eben nicht den Spuren des deutschen Michels zu folgen, sondern sich mit zähester Beharrlichkeit den uferlosen Flottenplänen zu widersetzen. Was auf diesem Wege erreicht werden kann, das hat eben das Schicksal der Zuchthausvorlage gezeigt; das Kraftgefühl und die Siegeszuversicht, die daraus für die kommenden Kämpfe geschöpft werden können, sind der wahre Gewinn des Proletariats, dessen Emanzipation darin besteht, dass es mit jedem neuen Siege schwerere Aufgaben zu bewältigen lernt.

1 fine fleur (franz.) - die höchste Blüte (ursprünglich des privilegierten französischen Adels).

2 misera contribuens plebs (lat.) - der Elendsbeitrag des Pöbels. Der verächtlich gebrauchte Terminus für die Besteuerung des (niederen) Volkes.

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