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Franz Mehring 18990125 Preußische Eroberungspolitik

Franz Mehring: Preußische Eroberungspolitik

25. Januar 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 577-580. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 277-281]

Erregte die erste Auflage von Väterchens Abrüstungshumbug im vorigen Herbste noch ein gewisses oberflächliches Aufsehen, so ist der eben erschienenen zweiten Auflage nicht einmal dieser bescheidene Erfolg vergönnt. Jedermann weiß, dass hier Komödie gespielt wird, und diejenigen wissen es vielleicht am besten, die so tun, als ob sie es nicht wüssten. Die einzige Möglichkeit, die Lasten des modernen Militarismus auch unter der Herrschaft des kapitalistischen Systems ein wenig zu mildern, wäre ein freundliches Einvernehmen zwischen Deutschland und Frankreich, und auch dann wäre die Aufgabe noch sehr schwierig, ihre Lösung noch sehr zweifelhaft. Aber nachdem Bismarcks geniale Politik diese Möglichkeit auf unabsehbare Zeit hinaus versperrt hat, gehören die Abrüstungsmanifeste des Zaren zu der diplomatischen Makulatur, die nicht einmal so viel wert ist, wie das weiße Papier, worauf sie gedruckt wird.

In anderer Weise rächen sich die Sünden der preußischen Eroberungspolitik in dem europäischen Skandal der Ausweisungen aus dem nördlichen Schleswig. Sie sind gestern im preußischen Abgeordnetenhause erörtert worden, aus Anlass einer freisinnigen Interpellation, mit dem Erfolg, dass sich die hohe Staatsregierung für den Oberpräsidenten v. Koller und die Mehrheit der preußischen Geldsackvertretung für die hohe Staatsregierung erklärte. Das war nicht anders zu erwarten, und in seiner Weise ist es auch ganz logisch. Eine Verleugnung der Köllereien wäre nur möglich und ratsam, wenn der preußische Polizeistaat mit den Mitteln der modernen Kultur die Bruchteile fremder Nationalitäten, die in seinen Grenzen wohnen, zu versöhnen verstände; da er das nicht kann, so muss das Treiben Kollers mit dem großen Staatssiegel verbrieft werden. So ist's des Landes stets der Brauch gewesen, und nur die großen Kinder, die niemals alle werden, geben sich immer wieder der Hoffnung hin, dass die unteren Organe einer reaktionären und verknöcherten Bürokratie, falls sie es gar zu toll treiben, von ihren oberen Organen verleugnet werden könnten. Möglich, dass nicht gerade alle Minister ein Wohlgefallen an den Staatsrettungen Kollers empfinden, aber die Staatsräson geht allemal empfindsamen Anwandlungen voran; wohin soll es denn auch mit dem so genannten Ansehen der Bürokratie kommen, wenn ein Oberpräsident um der Humanität und Zivilisation, um des Deutschen Reiches im Auslande willen verleugnet werden soll?

Der preußische Minister des Innern erwarb sich in dieser Debatte das Verdienst, den Schatz geflügelter Worte, den preußische Bürokratenweisheit angesammelt hat, um einige Perlen zu vermehren. Er tüftelte einen feinen Unterschied heraus zwischen objektivem und subjektivem Sichlästigmachen; objektiv macht sich lästig, wer bei einem preußischen Polizisten in den Verdacht gerät, dass er sich in Zukunft vielleicht einmal lästig machen könne. Es ist eine wahrhaft großartige Entdeckung, und der selige Rochow wird sich vor Freude im Grabe umgedreht haben, wenn er gehört haben sollte, wie lustig seine Grundsätze in Berlin fortblühen. Sehr schön war auch die Versicherung des Freiherrn v. d. Recke, dass den preußischen Traditionen nichts weniger entspreche als eine fanatische Abstoßung fremder Nationalitäten. Das weiß die Geschichte. Wo der preußische Adler ein Stück fremder Nationalität abhacken konnte, da hat er sich nie einen Augenblick besonnen; nur der „weltbürgerliche Sinn", den der preußische Polizeiminister darin entdecken wollte, ist der Welt bisher verborgen geblieben; die weltbürgerliche Gesinnung unserer klassischen Literatur hatte über den Appetit des preußischen Wappenvogels wesentlich andere Vorstellungen als der amtliche Vorgesetzte des Herrn v. Koller.

Fremden Nationalitäten einzelne Bruchstücke abzureißen, ist unter Umständen ein sehr leichtes Geschäft; bei der ersten Teilung Polens brauchte der alte Fritz nur einige Regimenter marschieren zu lassen, und sehr viel mehr Mühe haben auch die späteren Teilungen des unglücklichen Landes nicht gemacht. Aber Bruchstücke fremder Nationalitäten der eigenen Nationalität zu assimilieren, das ist eine sehr schwierige Aufgabe, und darin hat die preußische Politik niemals exzelliert. Bismarck meinte einmal, an Preußen annektiert zu werden, sei wie das Anziehen einer wollenen Jacke, die erst sehr kratze, aber nachher um so molliger und wärmer säße. Der Weisheitsspruch ist aber nur zur Hälfte eingetroffen; die annektierten Polen haben diese wohltätige Jacke schon mehr als drei, die annektierten Dänen und Elsass-Lothringer schon mehr als ein Menschenalter an, aber sie fühlen bisher nur ihr Kratzen, und mit Peitschenhieben nach Kollers Vorbild wird ihnen auch nicht die Einbildung eingeflößt werden, dass sie mollig und warm angezogen seien.

Selbst aber in kerndeutschen Landen werden der preußischen Eroberungspolitik unaufhörlich Quittungen ausgestellt, die sie sich nicht hinter den Spiegel zu stecken braucht. Wenn man bedenkt, was die Welfen an Braunschweig und Hannover gesündigt haben, so erscheint es auf den ersten Blick fast unbegreiflich, dass in diesen Landschaften eine starke und immer noch wachsende Welfenpartei besteht, die ihr Heil in der Wiederherstellung der mit allen Gräueln des deutschen Duodezdespotismus belasteten Welfendynastie erblickt. Doch beim zweiten Blicke erkennt man auch sofort den Zusammenhang dieser wundersamen Erscheinung; ihr Grund liegt in der Unfähigkeit der preußischen Eroberungspolitik, durch die Arbeit friedlicher Kultur die Tat der Gewalt zu sühnen. Nicht einmal auf dem Acker, der durch die Untaten der Welfen so trefflich bestellt war, hat sie zu säen und zu ernten vermocht; nicht einmal mit dem dynastischen Partikularismus, der so unendlich weit hinter der heutigen Höhe der ökonomisch-politischen Entwicklung zurückgeblieben ist, kann sie fertig werden. Das ist ein historisches Dementi in Frakturschrift, über das weder die holperigen Reden des Freiherrn v. d. Recke, noch die glatten Reden seiner nicht ganz ebenso unbegabten Kollegen hinwegtäuschen können.

Der Kaiser selbst hat inzwischen einen versöhnenden Schritt in Hannover getan, auf einer Parade, wo er erklärte, dass die preußischen Truppenteile, welche die alten hannoverschen Krieger aufgenommen hatten, Träger der Überlieferungen der früheren hannoverschen Regimenter seien und deren Aufzeichnungen weiter führen sollten. Der Kaiser will „die der ganzen Provinz so teuren Erinnerungen", die sich an die Siege von Krefeld, Minden und Waterloo knüpfen und mit der Auflösung der hannoverschen Armee die Hauptstätte ihrer Pflege eingebüßt hatten, von neuem beleben und hat den Regimentern des zehnten Armeekorps allerlei Schmuckstücke zur Erinnerung an ihre historischen Vorläufer, die Regimenter der ehemaligen hannoverschen Armee, verliehen. In einer Ansprache bei der Prunktafel, die der Parade folgte, ist dann der Kaiser noch weiter auf die Gründe seines Entschlusses eingegangen; als solche bezeichnete er den Gedanken der militärischen Tradition, den er als eines seiner Hauptprinzipe verkündete, und dann auch den Gesichtspunkt, dass er es für den zurückgezogen lebenden Soldaten als das Schwerste erachte, mit seinem Truppenteil nicht Freud' und Leid zu teilen; diese Lücke habe er ausfüllen wollen.

Obgleich an rasche und überraschende Entschlüsse des Kaisers gewöhnt, steht die bürgerliche Presse dieser kaiserlichen Kundgebung doch ratlos gegenüber; sie weiß nicht, ob sie segnen oder fluchen, ob sie eine versöhnende Wirkung auf die halsstarrigen Nacken der Welfenpartei oder Kassandrarufe über die Förderung der welfischen Agitation ausstoßen soll. In der Tat ist die Verlegenheit der bürgerlichen Presse auch sehr verständlich, denn wenn diese Parade in Hannover ein erster Schritt sein soll, um die Gemüter in den annektierten Landesteilen, wo noch aller nationale Groll gärt, mit der preußischen Eroberungspolitik zu versöhnen, so eröffnen sich allerdings Perspektiven, die eines bedeutenden pittoresken Reizes nicht entbehren und auf langsame Philisterherzen wohl einen abschreckenden Eindruck machen mögen. Man denke nur, dass den Regimentern des fünften Armeekorps, das in der Provinz Posen garnisoniert, Erinnerungszeichen an die alte polnische Armee, die in heldenhaften Kämpfen mit den einbrechenden preußischen und russischen Truppen gerungen hat, an die Fahnen geheftet würden oder dass den Regimentern des fünfzehnten Armeekorps in Elsass-Lothringen die Berechtigung erteilt würde, bei großen Paraden die Marseillaise zu spielen, zur Erinnerung daran, dass elsass-lothringische Freiwilligenkorps unter den begeisternden Klängen dieses Marsches und im Kampfe für Haus und Herd, für die Freiheit ihrer Person und ihrer Scholle das einbrechende preußische Junkerheer samt seinem „ritterlichen" Könige mit derben Hieben heimgetrieben haben. Was den Welfen billig sein soll, das muss schließlich den Polen und den Elsass-Lothringern recht sein.

Mag diese Aussicht nun aber auch ängstliche Spießbürger abschrecken, so werden kaltblütige Leute daraus erkennen, dass es sich bei der Parade in Hannover um keine große politische Aktion gehandelt haben kann, sondern um eine rein dekorative militärische Feierlichkeit, die ohne jede politische Bedeutung ist. Da die früheren hannoverschen Truppen – mit Ausnahme des Krieges von 1866 – immer an der Seite der preußischen Truppen gekämpft haben, so ließ sich die Sache in Hannover machen, wie sie sich in Posen oder Straßburg nicht machen lässt, aber selbst an Hannover wird sie schnell vorübergehen wie ein Wandelbild im Guckkasten. Vielleicht werden einige alte militärische Knasterbärte dadurch „versöhnt" werden, aber im Ganzen und großen werden die Stacheln der preußischen Eroberungspolitik deshalb nicht weniger schmerzen, weil die Parademärsche von Anno dazumal wieder erklingen. Freilich braucht die ängstliche Sorge der altpreußischen Patrioten, dass durch diese „versöhnende" Aktion die Hoffnungen der Welfenpartei neue Nahrung gewinnen würden, auch nicht tragisch genommen zu werden; diese Partei kennt die Fänge des preußischen Adlers, sie weiß sehr gut, woran sie mit ihm ist und wie wenig auch das persönliche Wohlwollen des Kaisers den Kreis brechen kann, in den die preußische Eroberungspolitik gebannt ist.

Gebrochen werden kann dieser Bannkreis nur durch einen Aufschwung der Nation, die das altpreußische System gänzlich vom deutschen Boden fegt und das Deutsche Reich endlich auf die Grundlagen eines modernen Kulturstaats stellt. Wie weit wir davon entfernt sind, braucht nach dem Ausfall der letzten Reichstagswahlen nicht weitläufig auseinandergesetzt zu werden; bis dieses erst in ferne dämmernder Zukunft sichtbare Ziel erreicht wird, muss sich Deutschland mit dem traurigen Ruhme behelfen, den ihm das barbarische System der Ausweisungen und was sonst an Plackereien und Zwackereien fremder Nationalitäten zur preußischen Eroberungspolitik gehört, in der zivilisierten Welt eintragen.

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