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Franz Mehring 18990614 Vorpostengefechte

Franz Mehring: Vorpostengefechte

14. Juni 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 296-300]

Seit der Veröffentlichung der Zuchthausvorlage sind nahezu vierzehn Tage ins Land gegangen, und wenn Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Vernunft die in der bürgerlichen Gesellschaft entscheidenden Instanzen wären, so würde von dem Wechselbalg nicht mehr so viel übrig sein wie ein Fidibus, mit dem sich der Graf Posadowsky eine Pfeife Tabak anzünden könnte. Die Denkschrift, die nachträglich in die Öffentlichkeit geworfen worden ist, um die Vorlage zu begründen, hat vielmehr nur dazu gedient, ihr den Gnadenstoß zu versetzen, soweit es überhaupt noch eines Gnadenstoßes bedurfte: Sie ist ein liederliches und loddriges Machwerk, so recht in jener altpreußisch-bürokratisch-polizeilichen Manier zusammen geplätzt, bei der man immer im Zweifel ist, wo die Böswilligkeit aufhört und die Unfähigkeit beginnt oder auch wo die Böswilligkeit beginnt und die Unfähigkeit aufhört.

Im einzelnen ist dieser Nachweis von der sozialdemokratischen Tagespresse schon ausgiebig geführt worden: Sollte trotzdem noch ein Stein der Denkschrift auf dem anderen stehen, so darf man ohne Übertreibung sagen, dass auch diese Steine innerhalb eines Zeitraums von acht Tagen demoliert sein werden. Im allgemeinen spielt die Denkschrift dieselbe staatsmännische Rolle, wie ihrerzeit in den Tagen des Sozialistengesetzes der große Zitatensack Puttkamerschen Angedenkens: Sie ist ohne Wissen und Gewissen zurechtgeschustert worden, um einen hinterhältigen, gegen die Arbeiterklasse geführten Streich in den Augen des dummen Philisters als eine gesellschafts- und staatserhaltende Aktion erscheinen zu lassen. Die Zuchthausvorlage ist nicht geboren, weil die angeblichen Tatsachen, von denen die Denkschrift zu erzählen weiß, eine Ausrottung des Koalitionsrechts notwendig oder wünschenswert gemacht haben, sondern umgekehrt: Weil der von Stumm und den Stümmlingen beherrschte Zickzackkurs auf den genialen Einfall verfallen ist, mir nichts dir nichts und zur höheren Ehre der schrankenlosen Ausbeutung das Koalitionsrecht der Arbeiter abzuwürgen, so musste die Denkschrift diejenigen Tatsachen sei es reinweg erfinden, sei es aufbauschen und aufblasen, durch die zur angeblichen „staatsmännischen" Notwendigkeit geworden sein soll, was tatsächlich ein ehrwürdiger Trick der kapitalistischen Profitwut ist.

Von diesem Gesichtspunkt aus versteht man denn auch richtig den einzigen Vorzug, den die Zuchthausvorlage in ihrer Art für sich geltend machen kann: das raffinierte Geschick, womit sie, wie wir schon vor vierzehn Tagen an dieser Stelle darlegten, durch eine Reihe kautschukener Strafbestimmungen alles zu treffen sucht, was zur wirksamen Durchführung eines Streiks notwendig ist. Darin hat sie, wie inzwischen ebenfalls durch die ausführlichen Untersuchungen der Arbeiterblätter unwiderleglich nachgewiesen worden ist, eine Art diabolischen oder, falls dieser Ausdruck noch zu hoch gegriffen sein sollte, eine Art infernalischen Geschicks entfaltet, und das kann man als einen gewissen historischen Fortschritt gegen die plumpen Tölpeleien des altpreußischen Polizeigeistes auffassen. Wäre die Preisfrage gestellt worden: Wie kann das Koalitionsrecht der Arbeiter praktisch totgeschlagen werden, ohne dass man es prinzipiell auf dem Papier der Gesetzsammlung streicht, was ja leider nicht mehr angeht, so hätte der Verfasser der Zuchthausvorlage den Preis unfehlbar erworben. Gesittete Menschen werden ihm einen solchen Erfolg nicht neiden, aber verdient hat er ihn, wie ihn die preußischen „Staatsmänner" von jeher verdient haben. Liest man die Vorlage und ihre Begründung, so denkt man unwillkürlich an Heinrich Heines Worte: „Ich traute nicht diesem Preußen, diesem langen, frömmelnden Gamaschenhelden mit dem weiten Magen und mit dem großen Maule und mit dem Korporalstock, den er erst in Weihwasser taucht, ehe er damit zuschlägt… Widerwärtig, tief widerwärtig war mir dieses Preußen, dieses steife, heuchlerische, scheinheilige Preußen, dieser Tartüffe unter den Staaten." Jawohl, nur der „Tartüffe unter den Staaten" konnte das Machwerk der Zuchthausvorlage fertig bringen, das die Koalitionsfreiheit der Arbeiter mit dem Korporalstock erschlägt, nachdem es diesen Korporalstock mit frumben Redensarten über die Rettung der „heiligsten Güter" gesalbt hat.

Zum Glück für die menschliche Gesittung sind aber die Tage verschwunden, wo die Attentate des preußischen Korporalstocks ausgeführt werden konnten, ohne dass andere Leute auch ein Wort mitzusprechen hatten. Die deutschen Arbeiter haben keinen Augenblick gezögert, den Schlag mit dem gebührenden Gegenschlage zu erwidern, und die Massenkundgebungen gegen die Zuchthausvorlage, welche die letzten vierzehn Tage gezeitigt haben, fügen ein neues ehrenvolles Blatt in die Geschichte des deutschen Proletariats. Sie ließen an Ehrlichkeit und Nachdruck nichts zu wünschen übrig, und alles, was hinter der Zuchthausvorlage steht, wird wenigstens darüber schon jetzt im Klaren sein, dass es sich hier um ein Biegen oder ein Brechen handelt, dass alle heuchlerischen Redensarten auch nicht einen Augenblick bei den Arbeitern selbst verfangen, dass wer irgendeinen Anteil an diesem empörenden Angriff auf den letzen Rest des modernen Arbeiterrechts in Deutschland hat, als ein Todfeind des Proletariats betrachtet wird und sich von diesem Pfahle der – Ehren niemals wieder losreißen kann. Das mag den Stumm und Konsorten sehr gleichgültig sein, denn sie haben nichts mehr zu verlieren; anderen Leuten ist es vielleicht nicht ebenso gleichgültig, es sei denn, dass es ihnen gleichgültig wäre, mit einem Feuer zu spielen, woran sie sich nicht nur die Finger, sondern auch Kopf und Kragen verbrennen werden.

Jedoch so rühmenswert die bisherige Haltung der Arbeiter gegenüber der Zuchthausvorlage ist, so darf doch keinen Augenblick übersehen werden, dass damit noch erst verhältnismäßig wenig getan und kaum ein Vorpostengefecht geliefert worden ist, dass die Agitation gegen die Zuchthausvorlage von sehr langem Atem sein und das Feuer unausgesetzt geschürt werden muss, wenn es die scheußliche Missgeburt wirklich verzehren soll. Auch darin haben wir recht behalten, als wir vor vierzehn Tagen vor allzu großen Hoffnungen auf die Widerstandskraft der bürgerlichen Parteien warnten; wir meinten, wenn die Arbeiter selbst nicht auf dem Posten seien, so würden sie sehr bald die unliebsame Erfahrung machen, dass sich in allen bürgerlichen Parteien lüsterne Hände ausstrecken würden, um soviel wie möglich von der Zuchthausvorlage in die Reichsgesetzsammlung zu retten. Das ist nun sogar eingetreten, obgleich die Arbeiter sofort auf dem Posten gewesen sind. Wenn es im ersten Augenblick schien, als wolle die bürgerliche Opposition sich gegen die Zuchthausvorlage mit einer gewissen Energie aufbäumen, so ist dieser Schein längst verschwunden; die bürgerliche Bewegung gegen die Abwürgung des proletarischen Koalitionsrechts hat längst abgeflaut, höchstens mit Ausnahme dieser oder jener kleinen und ganz einflusslosen Gruppe, wie der Nationalsozialen. Dagegen mehren sich die bürgerlichen Stimmen, die, vorläufig noch mit feierlicher Verwahrung dagegen, die Zuchthausvorlage mit Haut und Haaren zu verschlingen, doch schon ihren „berechtigten Kern" herauszuschälen beginnen, was nach alter Erfahrung immer der erste Flötenton des bürgerlichen Umfalls und Verrats ist.

Wenn man weiß, mit wie drastischen Mitteln Herr Eugen Richter die Agitation gegen jede noch so zarte Antastung des ausbeuterischen Kapitalismus zu organisieren versteht, so muss es im höchsten Grade wundernehmen, dass der freisinnige Parteipapst im Reichstage über die Zuchthausvorlage nichts zu sagen gewusst hat, als „die Regierung werde bei der Verteidigung der Vorlage auf die Hilfe seiner Freunde schwerlich rechnen" können. Was soll diese echt mittelparteiliche Redensart nun wohl heißen? Will Herr Eugen Richter in all seiner Unentwegtheit die Möglichkeit aufrechterhalten, dass „seine Freunde" vielleicht doch für die Vorlage stimmen könnten? Wollte man diese Folgerung aus seinen Worten ziehen, so ließe sich dagegen nichts Stichhaltiges einwenden, indessen gehen wir nicht soweit, sondern sprechen vielmehr unsere Überzeugung dahin aus, dass die freisinnigen Fraktiönchen schließlich gegen die Vorlage stimmen werden, sintemalen deren Annahme oder Ablehnung unter keinen Umständen von ihnen abhängen wird und sie ihr mageres Schäfchen immer noch am ehesten scheren werden, wenn sie „ganz und voll" in der Opposition beharren. Aber um so bezeichnender sind für das Maß von Liebe, womit die freisinnigen Fraktiönchen am Koalitionsrecht der Arbeiter hängen, die gewundenen Phrasen des Herrn Richter, und ihnen entspricht die Haltung der freisinnigen Presse, deren Opposition gegen die Zuchthausvorlage im großen und ganzen durchaus schlaff ist.

Immerhin hat die freisinnige Taktik nur eine symptomatische Bedeutung; entscheidend ist, dass die Nationalliberalen schon ziemlich handelseins mit der Regierung sind, während die Ultramontanen wenigstens zu schachern beginnen. Es zeigt sich jetzt, wie übereilt es war, den leeren Redensarten, womit der nationalliberale Führer Heyl vor einigen Wochen den Stumm und die Stümmlinge im Reichstage regalierte, irgendein Gewicht beizulegen; wenn wir damals sagten: Wartet doch erst die Zuchthausvorlage ab, ehe ihr auf diese Brücke von Spinnweben tretet, so erklärt jetzt wirklich Herrn Heyls Organ, seitdem die Zuchthausvorlage das Licht der Welt erblickt hat: Ja, Bauer, das ist ganz was anderes. Mag Herr Heyl geschworen haben, er werde der Zuchthausvorlage niemals zustimmen, so appelliert das endlich geborene Monstrum so nachdrücklich von dem schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Herrn Heyl, dass sich ein nationalliberaler Parteipapst der überzeugenden Kraft dieser Beredsamkeit nicht widersetzen kann. Mit der nationalliberalen Opposition ist überhaupt nicht mehr zu rechnen.

Aber auch die ultramontane Opposition ist im Wanken begriffen. Die einflussreichsten Organe des Zentrums, die „Kölnische Volkszeitung" und die „Germania", haben sich einen eigentümlichen Feldzugsplan zurechtgemacht; sie sagen der Regierung: Gebt uns erst eine völlig gesicherte Koalitionsfreiheit, Arbeiterkammern und Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, und dann wollen wir darüber mit uns reden lassen, wie die Missbräuche des Koalitionsrechts zu beseitigen sind. Man kann nun, wenn man will, diesen Schachzug sozusagen harmlos auffassen, etwa in dem Sinne, dass die Zentrumsweisen als „maßgebende" Partei die Regierung nicht allzu arg vor den Kopf stoßen und die Zuchthausvorlage nur mittelbar abtun möchten, indem sie ihre Zustimmung an Zugeständnisse knüpfen, von denen sicher vorauszusehen ist, dass die Regierung sie nicht bewilligen wird. Möglich, dass der ultramontane Seitenmarsch so gemeint ist! Aber bisher ist die Taktik der Lieber und Genossen wenig darnach geartet gewesen, eine harmlose Auffassung ihrer Schlangenwindungen zu gestatten, und es ist ebenso möglich, dass es sich bei dem Vorschlag der Zentrumspresse um eine diplomatische Finte handelt, die auf Umwegen die Zuchthausvorlage nicht vernichten, sondern ganz im Gegenteil retten will. Da die erste Lesung nun doch noch stattfinden soll, ehe der Reichstag bis zum November vertagt wird, so wird sich ja bald zeigen, was die Zentrumspartei im Schilde führt, oder genauer: Wenn es sich nicht zeigen, wenn die parlamentarischen Wortführer des Ultramontanismus denselben Eiertanz vollführen sollten, wie jetzt seine publizistischen Wortführer, so ist damit entschieden, dass auch auf diese bürgerliche Opposition kein Verlass und die Arbeiterklasse in der Verteidigung des Koalitionsrechts einfach auf sich selbst angewiesen ist.

Das wäre auch nur dann ein Unglück, wenn die Arbeiter sich über diesen Sachverhalt täuschten und sich auf eine Hilfe verließen, die ihnen von auswärts kommen soll, aber nicht kommen kann und auch nicht kommen wird, wenigstens nicht in einer irgend entscheidenden Form. Je klarer sich die deutschen Arbeiter darüber sind, je weniger sie nach links oder rechts sehen, sondern ihre ganze Kraft in unerbittlicher und unermüdlicher Agitation auf das Ziel konzentrieren: Nieder mit dem Ungetüm! umso sicherer ist ihnen der Sieg. Attentate, wie diese Vorlage, scheitern unfehlbar, wenn sie auf den entschlossenen Willen der Millionen stoßen, denen sie an den Kern des Lebens tasten.

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